Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

Report


Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019 3 *·························································································································································································································································································

Dochdannkamder11.September2001,
und mit einem Schlag war alles anders.Die
Anschläge der islamistischenTerroristen in
NewYorkundWashingtontrafendieUSAim
wahrstenSinne desWortes ins Herz.Bis zu
diesem Zeitpunkt war dieVorstellung, dass
dieUSAaufihremeigenenTerritoriumange-
griffen und ihreBürger mitten im eigenen
Land verletzt und getötetwerden könnten,
für die meisten Amerikaner undenkbar ge-
wesen. DieAnschläge hinterließen ein zu-
tiefst verstörtes Land, dem dasMitgefühl
und dieUnterstützung derwestlichenWelt
gehörten.BundeskanzlerGerh ardSchröder
versicherte den Amerikanernvor dem Bun-
destag die „unbedingte Solidarität“ der
Deutschen, dieNato löste erstmals in ihrer
GeschichtedenBündnisfallausunddieVer-
eintenNationenbilligtenunverzüglichStraf-
maßnahmen gegen dasTerrornetzwerkAl-
Kaida und dieTaliban, die sich Afghanistan
unterworfenhatten.
US-PräsidentGeorge W. Bush aberver-
kündeteden„KrieggegendenTerrorismus“,
dervorallemKrieginAfghanistanbedeutete,
einebisheutewährendeTragödie.Deruner-
fahrene Bush war umgeben voneiner
Gruppe beinharterIdeologen, denNeokon-
servativen. DazuzähltenVizepräsidentDick
Cheney,Verteidigungsminister Donald
RumsfeldunddessenStellvertreterPaulWol-
fowitz. IhnenwarmitdemZusammenbruch
derSowjetunionderstrategischeGegnerab-
handengekommen.Nunersetzten sie den
Feind Kommunismus durch denFeindTer-
rorismus.Sienutztenden11.September,um
ihrer Doktrin der amerikanischenHegemo-
nieinderWelteineneueGrundlage zuver-
schaffen.Dazu gehörte der Anspruch, prä-
ventiveMilitärschläge zu führen, egal, was
dasVölkerrechtoderdieVereintenNationen
dazusagten.
Siesetzten Irak als nächstesZiel auf die
Agenda.Sturzdes Diktators Saddam Hus-
sein,InstallationeinerdenUSAzugeneigten
Regierung, freierZugang zu den Ölfeldern,
daswardasProgramm.Eswurdeverborgen
hinterderBehauptung,SaddamHusseinun-
terstützeden internationalenTerrorismus
und horte chemischeMassenvernichtungs-
waffen.EsistdiesderMomentinderjünge-
renGeschichte,indemdieUSAvonOpfern
des Terrorismus zu Täternwurden. Außen-
ministerColin Powell wurdevonBush und
seinen Leuten genötigt,vorden Vereinten
NationenmitgefälschtenKartenundDoku-


menten die angebliche Lagerung chemi-
scherWaffenim Irakzubeweisen,dieüber-
hauptnichtexistierten.FakeNewsvonganz
oben.
Es ist dieseMissachtung internationaler
Organisationen,dieseruchloseArtvonInte-
ressenpolitik, an die DonaldTrump heute
anknüpft.AndersalsBush&Co. gibtersich
freilich nicht einmal mehr die Mühe,seine
Lügenzutarnen.DamalshatderVerfallder
Achtungur-amerikanischerWerte–einerof-
fenen Gesellschaft, desRespekts vorVerfas-
sung undGesetzen, demRechtsstaat insge-
samt–aufderhöchstenEbenederamerika-
nischenPolitik vielleicht nicht begonnen,
wieder FallNixonschonge zeigthat. Abersie
hatdocheineneueQualitätgewonnen,weil
sie nunAuswirkungenweit über die USA
hinauszeigte.
DerAngriffaufdenIrakhatdieganzeRe-
gion in Brand gesetzt und denTerrorismus
des sogenanntenIslamischenStaats über-
haupt erst entstehen lassen.Wenn Trump
nundieUS-TruppenausNordsyrienabzieht,
istesdieFluchtvordieserVerantwortungder
Vereinigten Staaten. Siehaben dieverhee-
rendenKriege,dieTrumpsolangweilen,erst
entfachtundverweigernnundie Hilfebeim
LöschenundbeimSchützenderOpfer.„Ami
go home“ ist in dieser Lage vielleicht die
freudigeParole des syrischenDiktators und
des russischenPräsidenten, derenSoldaten
dasvondenUSAhinterlasseneVakuumsamt
ihren bestens ausgestatteten Stellungen
dankbar gefüllt haben.Verantwortungsvolle
PolitikhättedasGegenteilbedeutet.

ZU DEN VERHEERUNGEN GEHÖRTdabeiauch
die Zerstörung desBildes der USA als Füh-
rungsmacht einer demFrieden, derDemo-
kratie und derMenschenrechteverpflichte-
ten westlichen Welt. Der„AmericanWayof
Life“ übte überJahrzehnte eine strahlende
Anziehungskraft auf entrechtete und unter-
privilegierteMenschenaufdemganzenGlo-
bus aus .Diese Strahlkraft ist so gut wie erlo-
schen.KriegsverbrechenimIrak,wiedieFol-
terungen imGefängnis vonAbu Ghraib,die
FolterungenvonTerror verdächtigen inGe-
heimgefängnissenderCIAodernunderVer-
ratand enkurdischenKämpferninS yrien,ha-
benjeglichesVertrauenindiemoralischeIn-
tegritätdieserSupermachtzerstört.
Sicher,DonaldTrumpfolgtkeinerIdeolo-
gie,wie die Neokonservativen Anfang des

DER US-TÜRKEI-DEAL

Vereinbarung:US-Vizepräsident MikePence hat mit
dem türkischen Präsidenten RecepTayyipErdogan
am DonnerstageineWaffen ruhe in Nordsyrien ausge-
handelt.DieTür keikündigtean, ihre Militäroffensive
fürfünfTage auszusetzen, damitdiekurdischenVolks-
verteidigungseinheiten (YPG) ihre Kämpfer aus einer
geplanten „Sicherheitszone“ entl ang der türkischen
Grenzeabziehen.Am Freitaggriffen türkische Luft-
waffe undArtillerieaber weiter an, dabei sollen sie-
ben Zivilistengetötetwordensein.

Waffenruhe:Vereinbart wurde, die türkische Offen-
sive in Nordsyrien zunächstfür eine Dauervon
Stunden oderfünfTagenauszusetzen. Dies sollden
YPG-KämpfernZeitgeben,aus dervonderTürkeige-
wollten Pufferzone abzuziehen, ihre schwerenWaffen
abzugeben und ihre Befestigungsanlagen zu zerstö-
ren.Sobald derYPG-Abzugabgeschlossen ist, will die
Türkei ihren Militäreinsatzvollständig beenden.

Sicherheitszone:ImAugust hatten dieTürkeiund die
USA die Schaffung einer 30 Kilometer tiefen „Sicher-
heitszone“ auf einer Längevon 480 Kilometern zwi-
schenManbidsch und der irakischenGrenzeverein-
bart. Laut derTürkeibetrifft die jetzigeVereinbarung
ebendieses Gebiet.Pence äußertesich nicht zu der
Länge. DievonderYPG dominierten SyrischenDemo-
kratischen Kräfte (SDF)erklärten, es gehe nur um die
120Kilometerzwischen Rasal-Ain undTalAbjad.

Kontrolle:Laut derVereinbarung soll die Sicher-
heitszone „vorwiegendvonden türkischen Streit-
kräften durchgesetztwerden“. LautPence sagte die
Türkei zu, dass ihre Präsenz dortzeitlich begrenzt
sein werde undkeine Zivilistenvertrieben würden.

Abzug:DieSDF sagten die Einhaltung der fünftägigen
Waffenruhe zu.DieVereinbarung,sowie sievonder
Türkeiinterpretiertwird, verlangtaber hohe Opfervon
den Kurden. Sie zwingt dieYPG zumAbzug aus wichti-
genStädten und erlaubtderTür kei,Teile der ange-
stammten kurdischen Kerngebiete zu besetzen.

Regierung in Damaskus:Am Sonntaghatte Damas-
kus auf Bitteder kurdischen Selbstverwaltung erst-
mals seit sieben JahrenwiederTruppenind en Nor-
den geschickt, umdie syrische Grenze zu verteidigen.
Eine türkischkontrollierte Zone wird Machthaber Ba-
scharal-Assad kaum akzeptieren.

neuen Jahrtausends,erfolgt wohl nur sei-
nemganzpersönlichenWahnwitz.Aberden-
noch kann man seineParole vonAmerica
FirstsehrwohlalsFortsetzungdeshegemo-
nialen Anspruchs der Cheneys undRums-
feldsverstehen.EsistdiegleicheHybris ,der
Anspruch aufeine dominierendeRolle der
USA, der sich alle anderen unterzuordnen
haben.
Trump verfolgt diesesZiel nicht militä-
risch, sondernmit ökonomischenMitteln.
George Soros, Investor,Milliardär undPhil-
anthrop ,hat beideVarianten in seinem
schon 2003 erschienenBuch „Die Vorherr-
schaftderUSA–eineSeifenblase“alsprimi-
tiveSpielartdes Sozialdarwinismus be-
schrieben: „Ich nenne sie primitiv,weilsie
die Bedeutung derKooperation imKampf
umsDaseinignoriertunddenSchwerpunkt
allein auf dieKonkurrenz legt. (...)Im wirt-
schaftlichenBereichtrittderSozialdarwinis-
musin GestaltdesMarktfunda mentalismus
auf, in der internationalenPolitik führter
zumStrebennachVorherrschaftderUSA.“

DIE PRÄSIDENTSCHAFT DONALD TRUMPSist
auch deshalb eine besonders tragische
Phase der amerikanischenPolitik, weil sie
die Bemühungen und erstenErfolge seines
Vorgängers Barack Obama zunichtemacht,
die moralische und faktischeAutorität der
USA in den internationalenBeziehungen
wiederherzustellen.
TragischistfreilichauchdieRolleder Eu-
ropäer.Ind er Auseinandersetzung um den
Irakkrieg konnten Frankreichs Präsident
Jacques Chirac undDeutschlandsKanzler
Gerh ardSchrödereinestarkeGegenposition
zumVorgehenderUSAaufbauen.Siebewie-
senMutundFührungskraft,obwohlsieWi-
derspruch ausGroßbritannien undOsteu-
ropaerhielten.Wennheuteimmerargumen-
tiertwird, die Europäer seien so schwach,
weil sie stets den kleinsten gemeinsamen
Nenneraller28MitgliedsstaatenderEUsu-
chen müssten, sozeigt ein Blick zurück auf
jeneZeit:Dasstimmtnicht.
Esist vorallemdieZögerlichkeitderheu-
tigen Bundesregierung, die ein starkes ge-
meinsames Auftreten Deutschlands und
Frankreichsverhindert, dem sich wie 2003
zahlreiche andereeuropäische Staaten,
wennauchnichtalle,anschließenwürden.
Während damals der deutscheAußenmi-
nisterJoschkaFischereinekräftigeStimme

indertransatlantischenDebattehatte,sind
vonseinemh eutigenNachfolger Heiko
Maas,wennüberhaupt, nurverdruckste
Formelnzuhören, die hauptsächlichBe-
sorgnis ausdrücken: über die Lage in der
Ukraine,inSyrien, im Nahen Osten, in
Hongkong.Sorgen äußernund nicht han-
deln,dasistkeinePolitik.Dassdie Europäi-
scheUnionsichindiesenstürmischenZei-
tenmonatelangmitihremInnenlebenund
dazudemBrexitbeschäftigtundalsaußen-
politischeKraftvölligausfällt,isteinzusätz-
liches Trauerspiel.Umso wichtiger wäre
entschlossene Führung aus den starken
Mitgliedsl ände rn,dad erfrüherüblichehil-
fesuchendeBlick nachWashington keiner-
leiHilfemehrverspricht.
Immerhin, es mag sein, dass Donald
Trump mit seiner einsamenEntsch eidung,
dieUS-SoldatenausNordsyrienabzuziehen,
nun doch einen kritischenPunkt erreicht
hat, an dem auch dieRepublikaner nicht
mehrbereitsind,ihmzufolgen.ImKongress
bilden sich überparteilicheKoalitionen, um
den außenpolitischen und strategischen
Schaden,dendieserPräsidentseinemLand
zufügt, zu begrenzen.Noch haben die USA
nachZeitenderKriseimmerdieKraftgefun-
den,ihrpolitischesSystem,ihreKoordinaten
wieder in Ordnung zu bringen.Freilich war
esnochniesoerschüttertwiejetzt.
DieUSAsindheuteeineSupermachtauf
demRückzug,dieinderinternationalenPo-
litikRusslandimmermehrdasFeldüberlässt
und sich der wirtschaftlichenStärke Chinas
immer weniger zu erwehren weiß. Nicht ei-
nes seinervollmundigverk ündeten außen-
politischenZielehatTrumperreicht:dieAb-
rüstungNordkoreas,eine Annäherung an
Russland, eineFriedenslösung für denNa-
hen Osten, Handel sfrieden mit China.Die
VereinigtenStaatenfallendamitinallenBe-
reichen als die Ordnungsmacht aus,die sie
langeauchwaren:eindenGrundsätzenvon
internationaler Zusammenarbeit, Rechts-
staatlichkeit undVerlässlichkeitverpflichte-
terPartner.ChinaundRusslandaberkönnen
derweil recht ungestörtihreganz eigenen
globalenInteressenverfolgen.Damussnie-
mandmehrrufen:„Amigohome.“

Holger Schmale
hat die heiteren Jahre der Ära Clinton
in den USAverbracht.

Report


Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019 3 *·························································································································································································································································································

AP/J. SCOTT APPLEWHITE; AFP/DELIL SOULEIMAN

Oktober 2019–Die in Syrien stationierten US-Truppen verlassen Syrien. Mit dem
Rückzug erfüllt Präsident DonaldTrump einWahlkampfversprechen.

2003 –Präsident GeorgeW. Bush verkündet an Bord des Flugzeugträgers„USS
Abraham Lincoln“ das Ende der Kampfhandlungen im Irak.
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