Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

Politik


4 ** Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


Yossis


letztesHaus


LiebeAnja,

beim LesenDeines Briefs habe
ich geweint.Ichweiß nicht genau,
worüber:Über den Abschied von
unserenBriefen, über dieErkennt-
nis,dass ich zu optimistisch bin,
überdie GetöteteninHalle,überden
schwankendenBodenunterdenFü-
ßen,überdieWurzellosigkeitmeiner
Kinder,darüber,wieleichtdasLeben
sichvonGrundaufändernkann.
So vieles schwirrtmir durch den
Kopf. Auch ich schreibeDirständig
im Geist. Jedes Erlebnis kristallisiert
sich für denAugenblick, in dem ich
esfür Dichaufzeichne.DieseWoche
wollte ichDirvon meinemBesuch
bei dem Künstler DovOr-Nerim
KibbuzHatzorerzählen,fühltemich
glücklich, einem so außergewöhnli-
chen Menschen begegnet zu sein –
93Jahrealt,Holocaustüberlebender,
Witwer .EinGeistesmensch,vollHu-
mor undTiefgang. Er hörtnicht
mehr gut und geht langsam durch
seinAtelier,fährtabernochmitdem
FahrradimKibbuzumherundberei-
tet die Ausstellungvor, die er Ende
desMonatszeigenwird.IchrateDir
wärmstens,nachHatzorzufahren.
IchwollteDirauchvonJomKip-
pur schreiben, den ich so herbeige-
sehnthatte.Nacheineranstrengen-
denZeitfreuteichmichaufdenru-
higen Familientreff mit Schwer-
punktaufdemGuteninderWelt.Am
Vorabend desJomKippur gingen
meine Mutter und ich auf denMili-
tärfriedhof, um dasGrab vonYossi,
demBrudermeinerMutter,zub esu-
chen. Meine Großmutter tut das je-
den Freitag undFeiertagsvorabend
undgewissvorJomKippur,dennYo-
ssiistimJom-Kippur-Krieggefallen.

Berlin–Tel Aviv


Dieses Jahr geht es ihr nicht so gut,
und dieBeine wollen nichtrecht.
DahergingenmeineMutterundich
auchinihremNamenhin.
DerFriedhof war fast leer und
überraschend schön:voll mit Blu-
mensträußen, Bäumen und endlo-
senFeldernweißerSteine.Einer„ge-
fallen im Altervon19J ahren“,einer
mit 22, 25, 20, 35. AmNachbargrab
stand eineMutter oder Schwester
und säuberte es wie wir das unsere,
legteBlumendaraufwiewir,wischte
sich eineTräne ab und ging.Meine
Mutter verbietet sich dasWeinen.
Abereswartröstlichzuwissen,dass
wir uns vonGeneration zuGenera-

Wehrdienst gehen.Ichsaß meiner
Großmutter gegenüber,die uns im-
mer bestürmt, zurückzukommen,
und sie sagte: „Sie sollen nicht zu-
rückkehren und nicht zumMilitär
gehen. Wirhaben genug hingege-
ben.“
DenJomKippurselbstverbrach-
tenwirallegemeinsam:Aharonund
ich, dieKinder,meine Elternund
meine Großmutter.Wir saßen un-
termBaum imHof, spieltenKarten,
und natürlich fuhren wir mit den
Fahrrädernand enStrand.DasMeer
war besonders schön: sauber,klar
und ruhig. DasWetter war traum-
haft,derTagperfekt.
AlsAharonmirvondemAnschlag
auf die Synagoge inHalle erzählte,
wollte–nachdemerstenSchock–et-
wasinmirdieNachrichtnichtrein-
lassen.Ichlaskeine Berichteun dbe-
mühte michredlich, dieSachezu
verdrängen. Aber die Angst,voral-
lem wegen meinerExponiertheit in
der Zeitung, meinem Kultursalon
und Dovs bevorstehenderAusste l-
lung, die Angst fand alle Ritzen und
sickerteein.
IchhabeAngst,schwarzaufweiß
niederzuschreiben, wovorich mi ch
fürchte .Aber Du wirst verstehen.
Undichverstehe.Unddasisttraurig.
Ichhabe jetzt schonSehnsucht
nach unserenBriefen, nochvorih-
remEnde.

DeineYael

Übersetzung: RuthAchlama

Buchpremiere:AnjaReichundYael Nachshon le-
sen am 27.11. und 28.11. um 20 Uhr im Pfeffer-
berg-Theater.
Karten-Telefon :030 93 9358 555

tionweiterumden22-jährigenYossi
kümmern.Großmutter sagt, das sei
nunseinHaus,undmanmüsseesso
schön und sauber halten wie unse-
res.
ZurückbeiihrspieltendieKinder
auf demHof, und sie erwartete uns
aufder Terrasse ,umz uhören,obwir
die richtigenBlumen gekauft und
auch nichtverg essen hatten, eine
Seelenkerze zu entzünden.In dem
MomentdachteichzumerstenMal
seitunsererÜbersiedlungnachBer-
lin,dassichgernnachIsraelzurück-
kehrenwürde–undineinunddem-
selben Atemzug, dass ich nicht
möchte,dass meine Söhne zum

NACHRICHTEN


Bundestag stimmt für


höheresWohngeld


DasWohngeldfürHaushaltemitge-
ringemEinkommensollzumJahres-
wechselsteigen.Dasbeschlossder
BundestagamFreitagmitdenStim-
menvonUnionundSPDinBerlin.
Linke,GrüneundFDPenthielten
sich.DerBundesratmussnochzu-
stimmen.MitWohngeldwerdenein-
kommensschwacheHaushaltemit
GeldknappüberHartz-IV-Niveau
unterstützt.DreiViertelderEmpfän-
gerbekamen2017wenigerals
EuroimMonatWohngeld.LautIn-
nenministeriumsollenrund
HaushaltevonderReformprofitie-
ren,darunter180000Haushalte,die
derzeitkeinWohngelderhalten.Be-
dürftige Zwei-Personen-Haushalte,
dieder zeitimSchnitt145Euro
WohngeldimMonatbekommen,
sollendemnachkünftig190Euroer-
halten.(dpa)


Karlsruhe stärkt Grundrecht


auf Resozialisierung


DasBundesverfassungsgerichthat
dasRechtvonlangjähriginhaftier-
tenGefangenenaufbegleiteteAus-
gängegestärkt.DieKarlsruherRich-
tergabenmitdreiamFreitagveröf-
fentlichtenBeschlüssenVerfas-
sungsbeschwerdenvonHäftlingen
statt,denensolchesogenannten
Ausführungenverwehrtworden
waren. DieBetroffenensitzenseit
mehrals7beziehungsweise12und
14Jahrenin Haft.DieOberlandes-
gerichteseieninihrenEntschei-
dungendavonausgegangen,dass
diebeaufsichtigtenAusgängenur
danninBetrachtkommen,wenn
beidenGefangenenwegenderHaft
konkreteEinschränkungenderLe-
benstüchtigkeitdrohen.Damithät-
tensieaberdenSinndesgrund-
rechtlichenGebotsverfehlt,einem
VerlustderLebenstüchtigkeitder
Gefangenenentgegenzuwirkenund
diesezufestigen.(Az.2BvR
1165/19,2BvR681/19und2BvR
650/19)(dpa)


KenLoach sieht im Brexit


ein Ablenkungsmanöver


Der britische RegisseurKenLoach wurde
für seineFilme mehrfach geehrt. GETTY


DerBrexitbestimmtderzeitdie
Schlagzeilen–ausSichtdessozial
engagiertenbritischenRegisseurs
KenLoachlenkterallerdingsvon
vielschwerwiegenderenProblemen
ab.DerangestrebteEU-Austritt
Großbritannienssei„eineAblen-
kung“,denn„diegroßenProbleme,
diewirwährendunsererZeitinder
EuropäischenUnionhatten,wer-
denimmernochdasein,wennwir
dieseverlassen“,sagteder83-jäh-
rigeFilmemacheramDonnerstag-
abendbeimFilmfestivalLumièrein
Lyon.„UndwennBorisJohnson
Premierministerbleibt,werdendie
Problemenochgewichtiger“,fügte
Loachhinzu.(AFP)


Mehr als 60Tote bei


Anschlag in Afghanistan


BeieinemAnschlagineinerMo-
scheeinderostafghanischenPro-
vinzNangarharsindmindestens
Menschengetötetundmindestens
weitere36v erwundetworden.Das
teiltederSprecherdesProvinzgou-
verneurs,AttaullahChogiani,am
Freitagmit.(dpa)


Der


neue


Söder


BayernsMinisterpräsident
korrigiertdasCSU-Image

VonDanielaVates, München

E


sgibteineLückebeiderCSU.Sie
ist erst mal nicht zu sehen, aber
sieistpräsent.Bundesinnenminister
Horst Seehofer ist nicht gekommen
zum CSU-Parteitag.Bisvor kur zem
waren das seine Veranstaltungen,
Seehofer war CSU-Chef und bayer-
ischer Ministerpräsident. Andere
ehemalige sind gekommen: Theo
Waigel zum Beispiel, Edmund Stoi-
berredetaufMarkusSöderein.Der
spartsichdadurcheinFotomitAnd-
reasScheuer,demmitderPkw-Maut
schlingerndenVerkehrsminister.
Söder ist derNeue,ein Stoiber-
Vertrauter.ErhatSeehoferabserviert.
JetztisterderChefderParteiundder
Regierung. „Aufbruch Bayern.Zu-
kunft Deutschland“, steht auf einer
riesigen Wand hinter der Bühne.Es
kannalsoendlichlosgehenindiesem
Bayern,findet die CSU, die dortseit
Jahrzehntenregiert.
VoreinemJahrseidieCSUineiner
Existenzkrise gewesen, sagt Söder in
seinerRedeals Erstes.„EinJahrspäter
sind wir wieder so in Schuss,dass
manche uns mehr zutrauen, als nur
in Bayern erfolgreich zu sein.“Der
Absturzbeide rLandtagswahlvorei-
nemJahristdamitnichtmehrSöders
Absturz,obwohlerdamalsschonMi-
nisterpräsidentwar.Esi stdie Nieder-
lagedes Phanto ms.
Söder wirdmit 91,3 Proz entals
CSU-Chefwiedergewählt,undesist
ein neuer Söder.Seitder Landtags-
wahl hat sich der 52-Jährige einen
anderenTonübergestreift.„Zusam-
menführenstattzuspalten“,darum

gehe es ,hat er derS üddeutschen
Zeitung gesagt.Vorder Wahl hat er
im Streit vonCDU und CSU um die
Flüchtlingspolitik fleißig mitge-
macht, er war keiner derZarteste n.
NunsagtSöder,man habe auf die
Menschen„negativundzumTeilso-
gar aggressiv“ gewirkt.Er klingt fast
etwas verwundert. „Uns fehlte der
Optimismus“, sagt Söder.Kerndes
StreitsmitderCDUwarunterande-
rem, dass die CSU AngelaMerkels
Optimismusblauäugignannte.

Migran tenundFrauenimBlick
NunstehtimEntwurffürdie Partei-
reform, die an diesemSonnabend
beschlossenwerdenso ll:„DieZuge-
zogenen und Neubürger schätzen
Bayernalserfolgreichesundlebens-
wertesLand,siesindleistungsbereit
und wertkonservativ– gerade auch
Personen mit Migrationshinter-
grund.“Siewillman nun als CSU-
Mitgliede rhaben.UndFrauenoben-
drein,derCSUgehendieMitglieder
ausundlangsamauchdieWähler.
Aberes gehtbeiderCS Uauchum
Holz-JojosundBambus-K ugelschrei-
ber.Die hatd ie Partei seit neuestem
alsWerbematerial.Söderhatsichdas
Klimathemageschnappt,dieGrünen
haben schließlich geradedieposi-
tivsteAusstrahlung.„Bayernistheute
andersalsvor25Jahren“, sagter .„Es
wirdnichtreichen,nurzuwünschen,
dass wir wieder in den altenZeiten
wären.“ DiealtenZeiten–ind erCSU
sind das dievonFranz JosefStrauß
undEdmundStoibermüheloserrun-
genenabsolutenMehrhe iten.

Markus Söder wurde mit 91 Prozent der
Stimmen wiedergewählt. GETTY IMAGES EUROPA

Trauerund Wut


DerrechtsextremeAnschlaglässtHallenichtzurRuhekommen.SeehoferwilldasWaffenrechtverschärfen


K


erzenlichter flackernzwi-
schen welken Blumen,
Herbstlaub hat sich zwi-
schen demMeer aus Mit-
leidsbekundungen und Fotos der
Opferangesammelt.Auchneun Tage
nachdemrechtsextremenTerroran-
schlag vonHalle halten immer wie-
derMenschenvordenGedenkorten
inderStadtinne–legenfrischeBlu-
mennebenalteSträuße.
Fürdie Opfer sinddiese Orte
wichtig,umsichüberdasErlebte
auszutauschen, berichtet etwa An-
wohnerAndreas Splett. Er hat am
Tagdes rechtsextremen Terroran-
schlagsStephanB.gefilmt,wieerauf
die Polizei geschossenhat. „Ich bin
krankgeschrieben und kann nicht
mehrschlafen“,erzählter.
Am9. OktoberhattederAttentä-
ter schwer bewaffnet erstversucht,
in eine Synagoge einzudringen. Als
sein Plan misslang, erschoss er auf
derStraßeeine40JahrealteFrauund
kurzdaraufeinen20-jährigenMann
ineinemDöner-Imbiss.
Auch die Mitarbeiter des Ge-
schäfts stehen noch unter Schock:
„Ismet, der ist noch okay,der ist
stark. Aber der Jüngere, der leidet
immer noch darunter“, sagt derBe-
treiberderImbissbude,Izzet Cagac,
mit Blick auf seinenMitarbeiterIs-
metundseinenjüngerenBruder.„So
wasdar fniewiederpassieren.“
Am Freitag hattenSachsen-An-
halts MinisterpräsidentReiner Ha-
seloff (CDU) und derOpferbeauf-
tragte derBundesregierungEgbert
Franke (SPD) den Dönerladen be-
sucht. Beide haben dem Besitzer
und seinenMitarbeiternUnterstüt-
zungzugesichert,sagteCagac.
Aber auch die Zivilgesellschaft
stehtanderSeiteder Opfer.„Daswar
wirklichWahnsinn“, sagtMaxPri-
voro zki, derVorsitzende der jüdi-
schenGemeindeinHalle.Insbeson-
dereseiihmeineLichterketteimGe-
dächtnisgeblieben.VoreinerWoche
hatten Hunderte Menschen vorder
Synagoge einen symbolischen
Schutzschild vordem Gotteshaus
gebildet, während imInneren eine
Sabbat-Feierstattfand.
In die Trauer und Bestür zung
mischt sich bei einigen aber auch

Wut: „Die rechte Propaganda, dass
,ja keineJuden zu Schaden gekom-
men sind‘ ist ein Schlag mit drecki-
genbraunenHändeninsGesich tal-
lerBetroffenen“,sagtSplett.
Am Freitagnachmittag war zu-
demeineTrauerfeierfürdengetöte-
ten 20-Jährigen in Merseburgge-
plant. Neun Tage nach demTerror-
anschlag wollten Angehörige und
FreundeAbschiednehmen.

DrohungengegenHabeck
Unter demEindruck desTerroran-
schlagshabensichdieInnenminister
vonBundundLänderndafürausge-
sprochen,dasWaffenrechtnachHalle
noch einmal zu verschärfen. Sieer-
klärtenamFreitagnacheinerSonder-
konferenz inBerlin ihr eUnterstüt-
zung für entsprechende Pläne der
Bundesregierung, die amMittwoch
im Kabinett verabschiedet werden
könnten.Danach soll künftigvorje-
der Erteilung einerWaffenerlaubnis
immer erst beimVerfassungsschutz
geprüft worden, ob der Antragsteller
dortalsExtrem istbekanntist.Istdas
derFall,erhälterkeineWaffenbesitz-
karte .BundesinnenministerHorst
Seehof er(CSU)sagte,dass„Waffenin
den Händen derExtrem isten nichts
zusuchenhaben“.
Nach Spiegel-Informationen su-
chen ErmittlerdesBundeskriminal-
amts weiterhin nach dreiPersonen,
dieoffenbartatenlosimInternetmit
ansahe n,wieStephanB.vorderSyn-
agoge inHalle mehrereSprengsätze
zündete und später zweiMenschen
erschoss.Mittels einerHelmkamera
hattederAttentäterseineMordelive
übertragen. Diedigitalen Spuren
führten zu IP-Adressen in den USA
undderSchweiz.
In Thüringen hat es nachDro-
hungen gegenGrünen-ChefRobert
Habeck im Landtagswahlkampf bei
zwei BeschuldigtenDurchsuchun-
gen gegeben. AmFreitag wurde die
Wohnung eines polizeibekannten
RechtsextremenimSaale- Orla-Kreis
wegen des Vorwurfs des illegalen
Schusswaffenbesitzes durchsucht.
Ein27-Jähriger ausNordthür ingen.
soll in einem sozialenNetzwerk zu
schwerenStraftaten gegenHabeck
aufgerufenhaben.(dpa, AFP)

Izzet Cagac, Betreiber des Kiez-DönersinHalle, vorKerzen und Blumen. DPA/JAN WOITAS

KAMPF GEGEN RECHTSEXTREMISMUS

78 Prozent der Befragtenim neuen ZDF-„Po-
litbarometer“ sindderAnsicht,dass gegen
rechtsextremeAnsichten und Gruppierungen
bei uns zuwenig getanwird. Darin stimmen
Anhängeraller Parteien mehrheitlich überein.

Unte rAfD-Anhängernsinddagegen 55 Pro-
zent der Meinung, es werde genug getan. Für
72 Prozent allerBefragten trifft derVorwurf zu,
dieAfD habe durch ihrePositionenundAussa-
genMitschuld an rechtsextremer Gewalt.

Yael Nachshon
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