Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
Der Kultur- und Freizeit-Service
mit Tipps vom 24. bis 30. Oktober

Meinung


Der Deal zwischenErdoğan und


Putin offenbart, wie machtlos


die EU im Nahen Osten ist 4


Feuilleton


Mit Leihgabenaus aller Welt:


Im Louvre beginnt eine große


Leonardo-Retrospektive 9


Wirtschaft


DieBahn will das Reisen


mit neuen Sitzen und Essen


am Platz bequemer machen 17


Medien


WelcheGefahren es birgt, wenn


Algorithmen Hasskommentare


im Netz aufspüren 23


Sport


Nach demSieg gegen Piräus


steht der FC Bayern gut da, nur


die Stimmung ist schlecht 25


TV-/Radioprogramm 24
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 23
Traueranzeigen 12


„Firma Heizung Müller. Wir sollen den
Brenner von Ihrer Ölheizung anschauen“,
heißt es in dem Roman. Die Frau wundert
sich: „Haben Sie einen Termin ausge-
macht?“ Die Antwort: „Nein. Ich war gera-
de in der Gegend.“ Die Frau lässt den
Mann also ins Haus und führt ihn in den
Heizungskeller. Dann sagt er: „Vielen
Dank, ich komm jetzt allein klar.“
Die Szene stammt aus einem Kriminal-
roman, natürlich. „Wolfsschlucht“ von An-
dreas Föhr. Wer mit einer Ölheizung auf-
gewachsen ist, dem muss man das Gefühl
erst gar nicht erklären. Sofort hat der
Krimi-Leser jenen dunklen Raum vor Au-
gen, in dem schon bei Edgar Wallace die
Rohdiamanten des „Würgers von Schloss
Blackmoor“ lagerten. Einen Raum, in den
der Öllieferant mindestens einmal jähr-
lich durch ein winziges Kellerfenster
einen gewaltigen Tankschlauch führte.
Im Nachkriegsdeutschland einen Hei-
zungskeller mit Tank zu besitzen, das

roch ganz stark nach Wirtschaftswunder.
Denn in Ostdeutschland, da schleppten
sie noch Kohlen. Aber im Westen, da gab’s
längst den „Feurio Ölbrenner“ und ande-
re tolle Dinge.
Vom Jahr 2026 an dürfen in Deutsch-
land nun keine neuen Ölheizungen mehr
eingebaut werden. Das hat das Bundeska-
binett beschlossen – aus guten Gründen.
Austauschprämien und die in Schweden
längst bewährte CO2-Bepreisung dürften
den geschätzt 5,7 Millionen Ölheizungs-
anlagen im Land vielleicht doch noch
irgendwann den Garaus machen. Der ural-
te Inuit-Spruch „Wohl dem, der einen war-
men Iglu, Öl in der Lampe und Frieden im
Herzen hat“ – er könnte bald auf dem
Friedhof der klimafeindlichen Ausdrücke

landen. Spätestens dann, wenn auch in
Deutschlands Städten endlich jener
Smog verschwindet, der schon Oliver
Twist das Sonnenlicht geraubt hat.
Und doch: Der dunkle Heizungskeller,
das war nicht nur der Ort, in dem Filmfigu-
ren wie Freddy Krueger ein unschönes
Schicksal widerfuhr. Es war auch der Ort,
in dem sich die Darsteller des Boulevard-
stücks „Männerhort“ von Kristof Magnus-
son ihren eigenen, vielleicht etwas frauen-
feindlichen Lebensraum schufen. Und Öl,
das machte ja lange Zeit generell ein gutes
Gefühl. Schon, weil der „Tin Man“ in „The
Wizard of Oz“ immer ein kleines Ölkänn-
chen mit sich herumtrug, um nicht wie-
der einzurosten. Dass der „Tin Man“ in
der deutschen Filmfassung „Zinnmann“

hieß, das hat man übrigens nie verstan-
den. Denn Zinn rostet nicht.
Wahrscheinlich sind es genau jene Erin-
nerungen, die einen beim Gedanken an
den Ölkeller etwas wehmütig werden las-
sen. In einem solchen schrieb Günter
Grass einst „Die Blechtrommel“ (später
stellte der Autor in seinem Wohnhaus auf
Fernwärme um), und in Kellern drehten
bedeutende Regisseure wie Orson Welles,
Ulrich Seidl oder Bong Joon-ho herausra-
gende Filme.
Aber keine Sorge: Zieht der Tank aus,
zieht schon bald was Neues ein. Die Strom-
kästen der neuen Photovoltaik-Anlage
auf dem Dach zum Beispiel. Oder Musik
wie im Pariser „Le Caveau de la Huchet-
te“, dem ältesten Jazzkeller Europas. Oder
eine Kellerbar wie das „Enigma“ in Kra-
kau. Vielleicht auch ein Theater wie der
Bremer „Literaturkeller“. Da sieht man’s
mal wieder: Klimaschutz macht ungeheu-
er kreativ. martin zips  Wirtschaft

von stefan kornelius

München– Antisemitismus istin Deutsch-
land weit verbreitet. 27 Prozent aller Deut-
schen und 18 Prozent einer als „Elite“ kate-
gorisierten Bevölkerungsgruppe hegen an-
tisemitische Gedanken, 41 Prozent der
Deutschen sind gar der Meinung, Juden re-
deten zu viel über den Holocaust. Die neu-
en Zahlen stammen aus einer repräsentati-
ven Umfrage des Jüdischen Weltkongres-
ses, der Dachorganisation jüdischer Ge-
meinden und Organisationen aus mehr als
100 Ländern. Die Befragung mit 1300 Teil-
nehmern fand vor zweieinhalb Monaten
statt, also vor dem Anschlag auf die Synago-
ge in Halle. Ihr Ergebnis liegt jetzt derSüd-
deutschen Zeitungvor.
Wachsender Antisemitismus wird von
einer überwältigenden Mehrheit in der Be-

völkerung wahrgenommen und mit dem
Erfolg rechtsextremer Parteien in Verbin-
dung gebracht. 65 Prozent der Deutschen
und 76 Prozent der sogenannten Elite er-
kennen einen Zusammenhang an.
Bemerkenswert sind die Umfragewerte
unter Hochschulabsolventen mit einem
Jahreseinkommen von mindestens
100 000 Euro, die in der Studie als Elite be-
zeichnet werden. 28 Prozent von ihnen be-
haupten, Juden hätten zu viel Macht in der
Wirtschaft, 26 Prozent attestieren Juden
„zu viel Macht in der Weltpolitik“ – Aussa-
gen, die zum klassischen Repertoire des
Antisemitismus gehören. Fast die Hälfte
von ihnen (48 Prozent) behauptet, Juden
verhielten sich loyaler zu Israel als zu
Deutschland. Immerhin zwölf Prozent al-
ler Befragten geben an, Juden trügen die
Verantwortung für die meisten Kriege auf

der Welt. 22 Prozent sagen, Juden würden
wegen ihres Verhaltens gehasst.
Während der Antisemitismus also brei-
ten Raum einnimmt, wächst gleichzeitig
die Bereitschaft, dagegen vorzugehen.
Zwei Drittel der sogenannten Elite würden
eine Petition gegen Antisemitismus unter-
zeichnen, ein Drittel aller Befragten würde
gegen Antisemitismus auf die Straße ge-
hen. Etwa 60 Prozent räumen ein, dass Ju-
den einem Gewaltrisiko oder hasserfüllten
Verbalangriffen ausgesetzt seien.
Der Präsident des Jüdischen Weltkon-
gresses, Ronald S. Lauder, kommentierte
die Studie mit drastischen Worten. Anti-
semitismus habe in Deutschland einen Kri-
senpunkt erreicht. „Wir haben gesehen,
was passiert, wenn einfache Leute wegge-
schaut oder geschwiegen haben“, sagte er.
„Es ist an der Zeit, dass die gesamte deut-

sche Gesellschaft Position bezieht und An-
tisemitismus frontal bekämpft.“ Deutsch-
land habe eine einmalige Verpflichtung,
die Rückkehr von Intoleranz und Hass zu
verhindern. Wenn sich mehr als ein Viertel
der Gesellschaft mit Antisemitismus iden-
tifizierte, dann sei es Zeit für die restlichen
drei Viertel, Demokratie und tolerante Ge-
sellschaften zu verteidigen.
In der Umfrage räumt ein Drittel der Be-
fragten ein, dass Juden in Deutschland
nicht gut behandelt würden. Gleichwohl
zeigten sich lediglich 44 Prozent besorgt
über Gewalt gegen Juden oder jüdische Ein-
richtungen. Ein Viertel der Befragten hält
es für möglich, dass sich „so etwas wie der
Holocaust in Deutschland heute wiederho-
len kann“. Eine Wiederholungsgefahr in ei-
nem anderen europäischen Land halten im-
merhin 38 Prozent für möglich.  Seite 4

Mittwoch-Lotto(23.10.2019)
Gewinnzahlen:1, 7, 16, 19, 26, 31
Superzahl: 5
Spiel 77: 9013559
Super 6:3 0 7 4 0 2 (Ohne Gewähr)

Hilfe von Darth VaderTunesien will seine
zurückgewonnenen Urlauber verstärkt in
die Wüste schicken. Dazu sollen auch die al-
ten „Star Wars“-Kulissen besser vermark-
tet werden.  Seite 29

Washington– In der Ukraine-Affäre ist US-
Präsident Donald Trump schwer belastet
worden. Nach Aussage von William Taylor,
dem geschäftsführenden US-Botschafter
in der Ukraine, hat Trump Militärhilfen an
die Bedingung geknüpft, dass Kiew gegen
den Demokraten Joe Biden und dessen
Sohn ermittelt. cas  Seiten 4 und 7

Peking– Chinas Führung erwägt nach ei-
nem Bericht derFinancial Times,dieHong-
konger Regierungschefin Carrie Lam abzu-
lösen. Ein Nachfolger könnte bis März ein-
gesetzt werden. Seit Monaten kommt es in
Hongkong zu Demonstrationen gegen die
Regierung. dpa  Seite 6

Chicago– Das andauernde Flugverbot für
Boeings Mittelstreckenjet737 Maxhat bei
dem US-Flugzeugbauer einen Gewinn-
einbruch verursacht. Der Airbus-Rivale
verdiente mit knapp 1,2 Milliarden US-Dol-
lar (rund 1,1 Milliarden Euro) knapp halb so
viel wie im Jahr zuvor.dpa  Wirtschaft

London– Die britische Polizei hat 39 Lei-
chen in einem Lastwagen-Auflieger in ei-
nem Industriegebiet östlich von London
entdeckt. Der 25-jährige Fahrer aus Nordir-
land sei wegen Mordverdachts festgenom-
men worden, teilten die Ermittler mit.
38 Tote seien Erwachsene, einer ein Teen-
ager. Das Fahrzeug sei per Schiff von Belgi-
en ins englische Purfleet gekommen. Pur-
fleet liegt nahe des Fundorts. Die Leichen
werden obduziert. Ob es sich bei den Op-
fern um ins Land geschleuste Migranten
handelt, wurde zunächst nicht offiziell be-
stätigt. reuters  Panorama

München– US-Präsident Donald Trump
hat am Mittwoch alle Sanktionen gegen
die Türkei aufgehoben, die er wegen des
Einmarschs in Nordsyrien verhängt hatte.
Im Weißen Haus sagte er, der türkische
Staatschef Recep Tayyip Erdoğan habe ihn
informiert, dass sein Land die Militäroffen-
sive gegen die kurdischen YPG-Milizen in
Syrien beendet habe und die von Vizepräsi-
dent Mike Pence ausgehandelte Waffenru-
he nun dauerhaft sei. Die Sanktionen könn-
ten neu eingesetzt werden, wenn „etwas
passiert, mit dem wir nicht glücklich sind“.
Die USA hatten Strafen gegen drei Minister
Erdoğans verhängt und türkischen Stahl
mit Strafzöllen von 50 Prozent belegt.
Trump wertete die Waffenruhe als Be-
leg, dass seine „unkonventionelle“ Außen-
politik funktioniere. „Dies ist ein Ergebnis,

das von uns geschaffen wurde, den USA,
und niemand anderem“, sagte er, obwohl
die nun geltende Vereinbarung ohne Zu-
tun der USA zustande kam. Erdoğan hatte
mit Russlands Präsident Wladimir Putin
am Dienstag in Sotschi eine Erklärung aus-
gehandelt, die zunächst die Waffenruhe
um 150 Stunden bis Dienstagabend nächs-
ter Woche verlängert. In diesem Zeitraum
sollen sich die kurdischen YPG-Milizen
von der ganzen türkischen Grenze 30 Kilo-
meter auf syrisches Gebiet zurückziehen.
Pence hatte zuvor mit Erdoğan in Ankara
eine fünftägige Feuerpause ausgehandelt,
die Dienstagabend ausgelaufen war.
Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow forder-
te die Kurden auf, dem nachzukommen.
Andernfalls würden die „verbleibenden
kurdischen Einheiten von der türkischen

Armee zermalmt“. Präsident Erdoğan sag-
te, Putin habe ihm zugesichert, den YPG-
Kämpfern werde auch nicht erlaubt, „in
Uniformen des Regimes“ von Präsident Ba-
schar al-Assad im Grenzgebiet zu bleiben.
Die Kurden hatten die syrische Armee ge-
gen den türkischen Vormarsch zur Hilfe ge-
holt und mussten in einer auch von Mos-
kau vermittelten Vereinbarung zusagen, ih-
re Einheiten dem Regime zu unterstellen.
Trump hatte nach einem Telefonat mit
Erdoğan den Abzug der US-Truppen von
der Grenze befohlen, was die Türkei als Bil-
ligung ihrer Offensive wertete. Dafür wur-
de Trump international und in Washing-
ton scharf kritisiert. Die Sanktionen hatte
er auf Druck auch der Republikaner im
Kongress verhängt. Der kurdische General-
kommandeur, Mazloum Abdi, dankte

Trump dennoch in einer auf Twitter ver-
breiteten Erklärung für seinen „unermüdli-
chen Einsatz, der die brutale Attacke der
Türkei und dschihadistischer Gruppen auf
unser Volk gestoppt“ habe. Trump habe
dem von den YPG dominierten Milizen-
bündnis Syrische Demokratische Kräfte
langfristige Unterstützung in mehreren Be-
reichen zugesagt. Indes sagte der US-Syri-
en-Sondergesandte James Jeffrey dem US-
Kongress, es gebe Belege für Kriegsverbre-
chen bei der Offensive gegen die Kurden.
Das Außenministerium in Moskau wies
am Mittwoch die Initiative von Verteidi-
gungsministerin Annegret Kramp-Karren-
bauer (CDU) für eine internationale Schutz-
zone in Nordsyrien zurück. Dafür gebe es
keine Notwendigkeit.
paul-anton krüger  Seiten 4 und 5

Xetra Schluss
12798 Punkte

N.Y. Schluss
26834 Punkte

22 Uhr
1,1131 US-$

HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Teils neblig-trüb, teils freundlich-trocken.
Im Südwesten kann es regnen. 15 bis 22
Grad, im Nebel kälter, an den Alpen bis zu
25 Grad.  Seite 13 und Bayern

Riecht nach Wirtschaftswunder


Der Abschied von der Ölheizung macht wehmütig – und kreativ


Botschafter belastet


US-Präsidenten schwer


Regierungschefin von


Hongkong vor dem Aus


Boeings Gewinn bricht


wegen Flugverbot ein


Jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch


Eine Studie des Jüdischen Weltkongresses zeigt eine Zunahme judenfeindlicher Einstellungen.


Auch bei vielen gebildeten Bürgern finden solche Parolen Zustimmung


Trump hebt Sanktionen gegen die Türkei auf


Der US-Präsident reagiert auf die Vereinbarung zwischen Putin und Erdoğan über Ende der Offensive in Syrien


+ 0,34% + 0,17% + 0,

22 °/5°


Ein neuer Quantencomputer


von Google soll alle bisherigen


Rekordrechner weit hinter


sich lassen. Wird das die


Informationsverarbeitung


revolutionieren?


 Thema des Tages


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FOTO: DPA

Britische Polizei


findet 39 Leichen


Die Toten lagen in einem Lkw,
der wohl aus Bulgarien kam

FOTO: HANNAH BENET/GOOGLE

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Auf Stein gebaut: Mit Immobilien fürs Alter vorsorgen Wirtschaft


(SZ) Auf Kriegsfußmit Zahlen zu stehen, ist
keine leichte Sache, wie jetzt die Wettermo-
deratorin Eva Imhof bekannt hat. Es ist
zwar für Prominente schick, damit anzuge-
ben, dass sie in Mathematik eine Niete wa-
ren. Aber Eva Imhof (RTL) hat von Berufs
wegen mit Zahlen zu tun, sie muss die Tem-
peraturen ankündigen, und wenn die Deut-
schen bei etwas so wenig Spaß wie bei Un-
pünktlichkeit verstehen, dann ist es der
schlampige Umgang mit Zahlen. Das merkt
gerade auch Verkehrsminister Scheuer
(CSU), der über seine Zahlenschwäche im
Gegensatz zu Frau Imhof nicht gerne
spricht. Frau Imhof ist aber klüger als Herr
Scheuer. Sie weiß, dass es nicht gut an-
kommt, sich um zehn oder 20 Grad zu ver-
tun und die Menschen in Sommerkleidung
in das Island-Tief zu schicken. Deshalb
lernt sie jede Niederschlagszahl auswendig.
Dass es nicht so gut klappt mit dem Zählen
ist kein böser Wille, solche Menschen ha-
ben einfach, aufgepasst jetzt:keineSchwä-
che für Zahlen, sie spüren nicht die Magie,
die ihnen innewohnt, und wenn sie einen
Tisch für Gäste decken, dann müssen sie
wie Frau Imhof immer wieder die Teller zäh-
len, damit nicht hinterher einer ruft: Wer
hat von meinem Tellerchen gegessen?
Ja, Zahlen verhindern, dass das Leben
mal eben ins Märchenhafte abkippt. Das ist
in der Politik so, im Sport, wo die Tabelle
ein unerschütterliches, die Wahrheit von
Sieg und Niederlage abbildendes Regiment
führt, und das ist auch in der Literatur so.
Für die Erotik der Zahlen war einer wie Max
Frisch so empfänglich, dass er den größten
Apologeten der Lüsternheit vor den Karren
der in ihrer Stimmigkeit für Frisch sinnli-
chen Zahlenwelt spannte: „Don Juan oder
Die Liebe zur Geometrie“ hieß ein Drama
von Frisch, was für heute als Beweis für die
Schönheit der Zahlen und ihre richtungs-
weisende Macht genügen soll. So schön ei-
ne Eins in der Schule oder eine Neun beim
Kegeln leuchten mögen: Das Zählen ist ein
schwieriges Handwerk, das die Menschen
jeden Tag aufs Neue einüben müssen.
Es genügt, auf der Straße oder sonst wo
Zeitgenossen zu beobachten, wie sie versu-
chen, Ordnung in ihre kleine Zahlenwelt zu
bringen. Dazu halten sie, wenn es zum Zah-
lenschwur kommt, sofort in ihrer Bewe-
gung inne, vergessen alles aus der sie umge-
benden Welt und ziehen ihre Hand hervor,
als wäre sie plötzlich zu einem Taschenrech-
ner geworden. Und dann gehen sie im Geist
noch einmal durch, was es aufzulisten gilt,
jeder Finger eine Ziffer. Das bringt die Men-
schen und die Zahlen zusammen. Wenn die
Bewohner der Philippinen mal etwas frü-
her beim Inselzählen ihre vielen Hände zu-
sammengelegt hätten, eine nach der ande-
ren, dann hätten sie nicht erst vor ein paar
Tagen herausgefunden, dass sie 500 Inseln
mehr haben, als sie immer gedacht hatten.
Warum Andreas Scheuer nicht längst mal
seine beiden Hände zum Zählen der Maut-
millionen benutzt hat, lässt sich leicht aus-
rechnen: null mal null ist gleich null.


DAS WETTER



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