Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1

Muttertage in Hamburg. Auf drei Bühnen
nur Verzweifelte. Die einen haben das
Selbstmord-Gen. Die andere die Mordlust.
Und alle weiteren Mamis sind auch un-
glücklich. Eine will kein Kind von dem
Mann, den sie liebt, und zeugt es dann mit
dessen Bruder. Ihre Schwägerin mit zwei
Kindern ist auch nicht fröhlicher. Und
selbst ein Mann kann plötzlich Mutter
sein, so verkehrt ist die Welt für alle Frau-
en, die nichts zu lachen haben. Jedenfalls
nicht die vielen Stunden lang, die diese
drei Theaterstücke an zwei Häusern neun
Frauenschicksale beschreiben, von denen
vier im Freitod enden. Herbstblues oder
Dunkelziffer, Depri-Barometer oder Meta-
phern für den Zustand der Welt? Wie auch
immer, Mutter möchte man nicht mehr
sein nach diesem Seufzertriathlon mit den
Streckenabschnitten: „Anatomie eines Sui-
zids“, „Neverland“ und „Sechs Koffer“.
Es fängt an mit einem Selbsttötungs-
versuch. In einem tristen Bunker (Bühne:
Alex Eales) steht Clara (Julia Wieninger)
mit verbundenen Handgelenken und er-
klärt ihrem liebenswerten Mann (Paul Her-
wig), das sei nur ein „Unfall“ gewesen.
Schnell erfährt man, dass diese Frau ihre
Depression weitervererben wird, denn Ali-
ce Birch, die Autorin von „Anatomie eines
Suizids“, erzählt drei Geschichten parallel,
von drei Generationen, alle seelisch ver-
sehrt. Clara, ihre Tochter Anna (Gala Othe-
ro Winter) und deren Kind Bonnie (Sandra
Gerling), jede immun gegen Mutterglück.
Katie Mitchell spielt am Deutschen
Schauspielhaus dieses Trauer-Domino in
der generalstabsmäßigen Schonungslosig-
keit durch, mit der sie stets Stoffe in Dar-


stellungsmaschinen verwandelt. Die drei
Leidensepisoden, die 1971, 1997 und 2033
beginnen, erzählt sie gleichzeitig in Form
eines mechanischen Balletts der Sätze,
Bewegungen und Umkleidepausen, bei
denen die drei Protagonistinnen zu Schau-
fensterpuppen erstarren. Alles sitzt
perfekt, fügt sich sauber ineinander, selbst
wenn auf den drei Bunkersektoren simul-
tan etwas geschieht. Das Publikum wird
militärisch geführt, ist stets im Bilde, wel-
che der Frauen gerade wem erklärt oder
zeigt, dass sie eigentlich nur sterben möch-
te. Depression als Apparat. Niederdrü-
ckend, humorfrei und tödlich mit Ansage.

Das sollte bei Peter Pan eigentlich an-
ders sein. Aber die Version von dem Jun-
gen, der nie erwachsen wird, die Antú Ro-
mero Nunes und seine Mitautorin Anne
Haug für ihr Projekt „Neverland“ am Tha-
lia-Theater erfunden haben, fliegt nicht
leicht durch die Luft, sondern zentrifugal
auseinander. Und sie ist auch kein amerika-
nisches Märchen, sondern eine typisch
deutsche Textcollage längs linker Tages-
themen wie Gender, Gentrifizierung und
globaler Gefahren. Hier ist Peter Pan eine
weibliche Scheinwaise (Electra Hallman),
die so besessen ist von dem Wunsch nach
Mutterliebe, dass sie sogar einen Kerl als
Mami akzeptiert (Marko Mandić). Der ge-
biert ihr alienmäßig eine Brut neuer Ge-
schwister. Pans wahre Mutter aber ist

Hook (Christiane von Poelnitz), die ihre Bla-
ge liebend gerne töten will, man erfährt al-
lerdings nie, warum eigentlich.
Dieses Projekt zeigt die Anatomie eines
Ambitions-Suizids. Da das Thalia sich die-
se Spielzeit „international“ präsentieren
will, wurden für „Neverland“ zwölf Gäste
aus 20 Ländern gecastet, die in 100 Szenen
mit 1000 Ideen die ganze Welt in eine Nuss-
schale hineinziehen möchten – und das ist
der Grund dafür,why they never land,um
es mal mit einem Kalauer zu sagen. Da
wird über Ronaldos Homosexualität speku-
liert und ein Schlenker zu den Protesten in
Hongkong gezogen, die Geschichte der
Matebrause kritisch hinterleuchtet und
griechische Tragödie zitiert, Portugiesisch
mit seinen vielen „Sch“-Lauten als die
schlimmste Sprache der Welt gedisst und
zwischendurch die Augsburger Puppenkis-
te imitiert.
Dieser Verhau aus Szenenschnipseln,
Filmkostümen, kritischer Weltsicht, Gen-
derchange und Vielsprachigkeit zerfled-
dert dann auch noch in lauter unterschied-
liche Spielformen. Das erinnert mal an
russisches Volkstheater, dann an Jugend-
chaos im Friedenscamp, mal an kerndeut-
sches Pathosdröhnen und ab und zu auch
an überzeugendes Schauspiel, aber bitte
immer nur kurz. Vor allem Electra Hall-
man vom Dramaten in Stockholm sowie
Pascal Houdus und Christiane von Poelnitz
aus dem Thalia-Ensemble sorgen für Spu-
ren von unpeinlichem Spielspaß. Aber war-
um Petra Pan am Ende als Jesus am Kreuz
stirbt und Mama Mann endlich Papa wird,
können sie auch nicht erklären.
Der Mutterselbstmord in Maxim Billers

Roman „Sechs Koffer“, den Elsa-Sophie
Jach im Thalia Gaußstraße für die Bühne
adaptiert hat, ist dagegen wieder ganz ir-
disch. Natalia (Marie Rosa Tietjen) wirft
sich in Genf vor den Laster. Sie hat ihr Kind
vom falschen Bruder, hat mit den falschen
Professoren geschlafen, um Filmkarriere
zu machen, und sie wird von der Familie ih-
res Gatten auch noch fälschlich bezichtigt,
in den Fünfzigern den Schwiegervater, ei-
nen jüdischen Devisenschmuggler in Mos-
kau, verraten zu haben, worauf der ge-
hängt wurde. Oder doch nicht fälschlich?

Das jedenfalls ist das „dunkle Geheimnis“
von Billers Familie, das er in diesem Roman
an den Schauplätzen Prag, Zürich, Montre-
al, London und Hamburg aufzuklären ver-
sucht. Wer war’s, der den bösen Tipp gab?
In einem extrem variablen Bühnenbild
(von Marlene Lockemann) aus vier Neon-
Arkaden, die zu unterschiedlichsten wech-
selfarbigen Räumen verschoben werden
können, erzählt Jach diese Geschichte mit
den Händen ihrer Darsteller. Während sie
die zunächst verwirrenden, dann immer
klarer werdenden Familienverhältnisse

berichten, steuern sonderliche Handbewe-
gungen die Akteure zu marionettenhaften
Tänzen. Paul Schröder muss ständig
schnipsen, Tim Porath wird durch die Welt
gezogen wie Pegman in Google Maps, Tiet-
jen bewegt sich ihren Händen folgend wie
eine Knetfigur, und am brillantesten er-
zählt Bekim Latifi als Maxim Billers Alter
Ego von aufregenden Entdeckungen in der
Schublade seines Onkels mit extrem gym-
nastischen Körperverknäulungen.
Damit findet Jach eine sportlich-unter-
haltende Lösung für das Problem so vieler
Romanadaptionen, die eben zentral aus
Prosa bestehen und nicht wie Stücke aus
Dialogen und deswegen oft zu ödem Aufsa-
getheater an der Rampe neigen. Ihre Insze-
nierung ist eine Choreografie, ein Texttur-
nen im Neongerüst, bei dem selbst zu lan-
ge Monologe keine echten Durchhänger bil-
den. Dazu öffnet die Sopranistin Lisa Flo-
rentine Schmalz noch manchmal Aufmerk-
samkeitsfenster, indem sie traurige Lieder
oder energische Technonummern singt.
Viel mehr Mittel braucht es nicht, um die-
ser Uraufführung interessiert zu folgen,
die von sechzig Jahren Nachkriegswehen
zwischen den Machtblöcken aus der Per-
spektive familiärer Traumata erzählt.
Paaren mit Kinderwunsch und Schwan-
geren ist allerdings auch von dieser Insze-
nierung abzuraten. Trauriger als die Be-
schreibungen von Elternschaft als Glücks-
falle in diesen drei Stücken ist eigentlich
nur der Zustand von Mutter Erde selbst.
Und auch der schreit eher nach Fortpflan-
zungsstreik. Mamma mia, gibt es denn
wirklich keine Glückshormone mehr im
Theater? till briegleb

Das Klavier – eine Klangwelt, ein Univer-
sum derMusik. Aber was vermutlich nir-
gendwo zu finden ist: eine Instrumenten-
werkstatt und ein Konzertsaal in einem –
einem einzigen großen Raum. Das gibt es
im Wedding, dem alten West-Berliner
Stadtteil. Dort, im Areal „Uferhallen“, dem
früheren Ausbesserungswerk der Berliner
Verkehrsgesellschaft, logiert der Piano-Sa-
lon Christophori. Der gehört zu den kurio-
sesten Institutionen der an ungewohnten
Spielstätten nicht armen Berliner Klassik-
musiklandschaft.
In dem Piano-Salon wird das Klavier
nach allen Regeln des Handwerks unter die
Lupe genommen – und es wird dann dort
professionell Musik gemacht. Hier stehen
historische Hammerklaviere in Reih und
Glied, Pariser Érard- oder Pleyel-Flügel,
Blüthner-Exemplare, betagte Steinways.
Und im selben Raum mit seinen 200 Zuhö-
rerplätzen geben Musiker manchmal im Ta-
gesrhythmus Konzerte mit Klavier- oder
Kammermusik. Seit 2001 gibt es den Salon,
der von dem Sammler und Restaurator
Christoph Schreiber begründet wurde und
geleitet wird. Schreiber hat als Neurologe
gearbeitet und sich zum Klavier-, zum Mu-
sikmäzen aus Leidenschaft entwickelt.
Namensgeber des Salons ist der italieni-
sche Instrumentenbauer Bartolomeo di
Francesco Cristofori, der 1709 im Florenz
der späten Medici-Epoche das erste Ham-
merklavier entwickelte, indem er eine
neue Technik entwickelte: Die Saiten wer-
den nicht mehr wie beim Cembalo angeris-
sen, vielmehr wird ein kleiner Hammer
durch eine Stoßzunge gegen die Saite ge-
schleudert. Das bringt diese zum Schwin-
gen und lässt den festen, farbigen, nun-
mehr weicheren Ton erklingen. Durch eine
Dämpfung wird der Ton „abgefangen“.
Cristofori war es auch, der pro Taste
zwei gleich gestimmte Saiten nebeneinan-
der anordnete, so wird der Ton lauter. So
konnte der Spieler durch ungleich starken
Tastendruck sowohl leise (piano) als auch
laut (forte) musizieren, weshalb sich für
das Instrument der Name Pianoforte ein-
bürgerte. Im Weddinger Piano–Salon
Christophori, wo Flügel und Klaviere jeden
Alters und Zustands den Raum füllen, ist al-
so die Historie des Hammerklaviers anwe-
send – zum Spielen, zum Restaurieren,
zum Anschauen und zum Hören.

Wer den Raum in den Weddinger Ufer-
hallen betritt, verliert leicht die Übersicht:
Man sieht sich einer Fülle von histori-
schen, noch spielfähigen oder maroden
Konzertflügeln und auch „Ersatzteilen“ ge-
genüber. Da stapeln sich an den Wänden so-
wie in den Flächen und Ecken des Raums
in einer Art kreativen Durcheinanders die
Instrumentenutensilien, Holzplatten und,
als Zugaben, Bücherregale, Schallplatten,
Ölgemälde sowie Musikerfotos.
Hier frönt Christoph Schreiber seiner so
edlen wie bizarren Neigung: „Regulation,
Hammerköpfe schleifen, intonieren,
Dämpfung setzen und regulieren, Tastatur-
beläge reparieren, reinigen, bleichen und
polieren ...“ Der Piano-Salon bietet sämtli-
che Restaurierungsdienste an: „Abwa-
schen des alten Lackes, Reparatur des Fur-
niers, Schellackpolitur je nach Wunsch
oder historischem Vorbild ...“
Im Zentrum der Sammlung historischer
Instrumente, mit Exemplaren der Marken
Pleyel, Schiedmayer oder Steinway, Blü-
thner, Broadwood oder Duysen, befinden
sich einige Konzertflügel der legendären
französischen Firma Érard. Im Jahr 1777

fertigte Sébastien Érard aus Straßburg
sein erstes „Tafelklavier“, aber erst 1821 pa-
tentierte er seine „Doppelrepetitionsme-
chanik“, die Voraussetzung für die spekta-
kuläre Virtuosität eines Chopin, Thalberg
oder Liszt – möglich gemacht durch die hö-
here Anschlagsdynamik und die schnelle-
re Wiederholung der Anschläge auf dersel-
ben Taste.
Der Chef des Piano-Salons ist sich des
Risikos jeder Restaurierung historischer
Konzertflügel bewusst, nämlich „der Crux,
sich positionieren zu müssen zwischen
dem musealen Konservieren historischer
Substanz, welche sich strikt dagegen
wehrt, Neues und Eigenes in das Instru-
ment einzubringen, und dem vorsichtigen
Versuch, ein Instrument wieder in einen
dem Original nahen Zustand zu bringen“,
also erneut spielbar zu machen.

„Der dünnere Resonanzboden, die zarte
Berippung, die schlankere Mensur, das
heißt das Verhältnis von klingender Länge
einer Saite zum Durchmesser“, das sei, so
Schreiber, beim historischen Instrument
höher und führe „zu einem leiseren, aber
schwingungsfähigeren und gefühlt helle-
ren Klang“. Den schätzen immer zahlrei-
cher jene Pianisten, die dem „historisch in-
formierten“ Musizieren verfallen sind.
Angeboten werden vom Piano-Salon
der Verkauf, der Verleih und auch der An-
kauf von Instrumenten. Und veranstaltet
werden in kurzen Abständen Konzerte, so-
listische Klavierrecitals sowie kammermu-
sikalische Darbietungen in variablen Strei-
cher-Klavier-Besetzungen. Das Alte und
das Neue Testament der Klavierkunst sind
längst terminiert: Ludwig van Beethovens
32 Sonaten und Johann Sebastian Bachs
Wohltemperiertes Klavier. Und zwischen
Streichquartette und Vokalrecitals hat sich
dort der Jazz etabliert.
Wer jetzt das Konzert mit dem griechi-
schen Pianisten Giorgos Fragos hörte, für
den der Klavierstimmer Andreas Weihert
das Instrument hergerichtet hatte, ver-
nahm einen ungewohnt hellen und schar-
fen Klavierklang. Weihert ist Schreibers
ständiger Arbeitspartner an den Klavie-
ren, und noch Sekunden vor Konzertbe-
ginn musste dieser den Steinway-Klang
von 1950 korrigieren. Da sitzen knapp ein-
hundert Zuhörer auf ihren Plätzen, die
dem 1984 geborenen Pianisten aus Athen,
der auch Mathematik studiert hat, mit be-
merkenswerter Konzentration und Ken-
nerschaft folgen.
Fragos spielt auf dem delikaten Instru-
ment mit virtuoser, spontan wirkender Ge-
staltungsenergie, Wolfgang A.Mozarts So-
nate in c-Moll, Beethovens „Waldstein“-So-
nate sowie Claude Debussys zweiten
„Image“-Zyklus und die „Dante-Sonate“
von Franz Liszt. Und der Hausherr steht
für Informationen und Gespräche gern zur
Verfügung – in der so gut wie familiären
Veranstaltung eines Piano-Salons.
wolfgang schreiber

Konstantin Treplew erschießt sich hier
nicht.Der junge Schriftsteller ist in Anton
Tschechows Künstlerdrama „Die Möwe“ ja
die tragische Figur: Er scheitert an sich
und seinen Ambitionen, außerdem muss
er mit ansehen, wie Trigorin, der erfolgrei-
che Literat, nicht nur seine Mutter, son-
dern auch seine Freundin Nina, die „Mö-
we“, an sich reißt und mit einem Kind sit-
zenlässt. Treplew arbeitet an „neuen For-
men“ für das Theater – eigentlich wie Kay
Voges, der Dortmunder Intendant, der sein
Haus mit visuellen Medien verbündet hat.
Es wäre unangebracht, Voges mit Tre-
plew gleichzusetzen. Kay Voges ist ja kei-
neswegs gescheitert, er wechselt dem-
nächst als Chef ans Wiener Volkstheater.
In zehn Jahren hat er das Dortmunder
Schauspiel zweifellos belebt, hat es bunter,
schriller, aufregender gemacht. Er hat ver-
standen, wie sich „neue Formen“ am Thea-
ter praktizieren lassen. Er hat allerdings
auch einen hohen Preis dafür bezahlt. Klas-
sische Literatur spielt nur noch eine Neben-
rolle – als Stofflieferant und nützlicher Idi-
ot. Kommen in einem kanonischen Text
vier Künstler vor? Prima, die kann man für
alle möglichen Künstler-Debatten gebrau-
chen. Ihre eigentlichen Konflikte interes-
sieren weniger.
„Raus aus der Literatur!“, heißt es daher
auch für „Play: Möwe“, sehr frei nach
Tschechow. Voges und seine Dramaturgie
nehmen den Text (in der Übersetzung von
Thomas Brasch), schütteln ihn durcheinan-
der und knüpfen Assoziationsketten. Tri-
gorin und Treplew kann man kaum unter-
scheiden, beide sitzen an einer Schreibma-
schine, sie räsonieren ziemlich hilflos über
ihren Job. Fragmentierung ist hier alles.
Jean-Luc Godard und seine „Histoire(s) du
Cinema“ haben bei dem Mash-up-Verfah-
ren Pate gestanden. Voges hat in Dort-
mund Theatergeschichte geschrieben,
jetzt, nach zehn Jahren, zieht er Bilanz.
Tschechows Melancholie kommt dabei
durchaus nicht zu kurz. Als vorweggenom-
menes Abschiedsweh. Tschechows Figu-
ren erinnern sich an die Schmerzen, die sie
in ihrem Leben erlitten haben. Nina, die ih-
ren Trigorin auch am Schluss noch liebt,
stellt fest, nicht auf Ruhm und Glanz kom-
me es an, sondern auf die Kraft, etwas aus-
zuhalten. Das Ende der sogenannten Ko-
mödie ist bitter. Bettina Lieder transfor-
miert Ninas Impuls setzt mit einem pa-
ckenden Wut- und Klage-Monolog einen
gewaltigen Energieschub frei. Sie ist da
nicht mehr Nina, sondern die Schauspiele-
rin Bettina Lieder, die sich die Seele aus
dem Leib kotzt, weil (angeblich) niemand
ihre Anstrengungen honoriert.
Das ist toll anzusehen, aber auch ein
bisschen schräg, denn die Anstrengungen
des Voges-Theaters sind ja sehr wohl hono-
riert worden, an Applaus fehlt es nicht. In
seinen besten Arbeiten, etwa „Einstein on
the Beach“ von Robert Wilson oder auch
dem „Theatermacher“ von Thomas Bern-
hard hat Kay Voges sich entweder an die
Vorlage gehalten oder sie aber so signifi-
kant verändert, dass man zugeben musste:
Aha, so geht es also auch – man kann also
einem Theatermacher das Monopol strei-
tig machen und durch die Aufteilung sei-
nes Parts auf viele Beteiligte zeigen, dass
hier jeder und jede ein Theatermacher, ei-
ne Theatermacherin ist. Sozusagen eine
Demokratisierung einer autoritär-patriar-
chalen Textfläche durch die Regie.
Am Ende seiner zehnjährigen „Reise“
ist das Voges-Ensemble nun so vom Erfolg
verwöhnt, dass es sich sogar leisten kann,
einen kunterbunten, überfrachteten
Abend, bei dem es um alles und nichts
geht, als „Play: Tschechow“ laufen zu las-
sen und sich selbst zu feiern. Die neuen For-
men haben das Theater im Kohlenpott er-
reicht, wandern demnächst nach Wien aus
und kehren vermutlich in anderer Gestalt
zurück. martin krumbholz


Textturnen im Neongerüst: „Sechs Koffer“. FOTO: FABIAN HAMMERL

von max fellmann

D


ie wunderbaren Quatschköpfe von
der BandCamper Van Beethovenha-
ben vor vielen Jahren mal einen So-
lo-Hit von Ringo Starr gecovert, „Photo-
graph“. Sie verkauften das damals als Be-
schwörungsgeste, denn bei Ringo, so ihre
Argumentation, müsse es sich um ein höhe-
res Geschöpf handeln oder um ein Alien,
anders sei nicht zu erklären, warum ein
derart unterdurchschnittlich begabter Mu-
siker ausgerechnet bei denBeatlesmitspie-
len durfte. Sehr gemein und sehr lustig. Ja,
die Frage, ob Ringo den anderen dreien das
Wasser reichen konnte, ist so alt wie die
Beatles selbst. Inzwischen sind sich aber
viele Musiker einig, vor allem berühmte
Schlagzeuger wie Dave Grohl und Chad
Smith: Natürlich hat Ringo Starr den Bea-
tles-Sound unzweifelhaft geprägt mit sei-
nem leichten Schleppen, mit der unortho-
doxen Herangehensweise des Linkshän-
ders, mit seinen oft eigenwilligen Rhyth-
men („Ticket To Ride“, „Tomorrow Never
Knows“).
Aber ganz ohne Beatles blieb dann doch
nicht so wahnsinnig viel übrig. Er war nie
ein richtiger Songschreiber, als Sänger
eher mäßig, auf der Bühne bestenfalls
Schunkelbär. Direkt nach der Trennung
der Band hatte er noch ein paar Hits, aber
ab Mitte der Siebziger zuckelte er durchs
Leben wie eine gemütliche alte Lokomoti-
ve ohne Ziel. Alle paar Jahre ein Soloalbum,
das nur wenige interessierte, etwas Schla-
ger, ein bisschen Country, viel Schunkel-
bärgeschunkel. Lange Zeit kämpfte Ringo
mit einem Alkoholproblem; seit das über-
standen ist, genießt er das Leben mit sei-
ner Frau, dem ehemaligen „Bond Girl“ Bar-
bara Bach. So weit, so beschaulich.

Aber dann ist ihm da unterwegs noch et-
was Schönes eingefallen: Er fing an, Butter-
fahrten für Altrocker zu organisieren. Rin-
go geht auf Tournee mit Musikern, die in ei-
ner ähnlichen Situation sind wie er, früher
mal an der Spitze, heute nicht mehr so rich-
tig gebraucht. Spielt mit den alten Herren
eine Handvoll Beatles-Songs, dazu ein
paar Hits der Kollegen, viel zum Mitsingen
und zum Mitschunkeln, a splendid time is
guaranteed for all.
Mit den Butterfahrtfreunden hat er jetzt
mal wieder ein Album aufgenommen. Es
heißt „What’s My Name“ und enthält – ja,
genau: etwas Rock, etwas Schlager, viel Ge-
schunkel. Den Versuch, musikalisch ir-
gendetwas Bedeutendes oder Zeitgemä-
ßes zu schaffen, unternimmt Ringo gar
nicht erst. In einem Song murrt er kurz, es
seien ja alle ständig auf Facebook, das
war’s auch schon mit der Gegenwart. Die
Lieder heißen programmatisch „Life Is
Good“, „Thank God For The Music“ und
„Send Love Spread Peace“. Den Titelsong
„What’s My Name“ (Antwort: „Ringo!“) hat
ihm Colin Hay geschrieben, einst Sänger
der BandMen At Work, inzwischen bei je-
der Tour mit an Bord. Außerdem dabei: der
Gitarrist Joe Walsh (Eagles), Steve Lukat-
her (Toto), der alte Bluesmann Edgar Win-
ter, Benmont Tench aus der Band des ver-
storbenen Tom Petty, und Dave Stewart
(einstEurythmics).
Tja, und jetzt die Frage: Ist „What’s My
Name“ ein gutes Album? Hm. Ein sehr
schlechtes? Ach was, wozu nörgeln. Ist es
denn überhaupt ein wichtiges Album? (Ex-
Beatle!) Oder eher ein völlig egales? Tja,
nun... sagen wir so: Der Mann wird nächs-
tes Jahr 80, er geht raus und wärmt die Her-

zen der Fans, die mit ihm alt geworden
sind, er verschafft seinen Kumpels ein
paar entspannte Reisen zu den Bühnen der
Welt (Privatjet!), er hält sich in Bewegung.
Was soll daran falsch sein?
„What’s My Name“ ist keine Bewerbung
um einen Musikpreis, sondern ein gut ge-
launtes Seniorenprogramm gegen einge-
schlafene Füße. Der berühmteste Stargast

ist übrigens Paul McCartney: Gemeinsam
singen sie John Lennons „Grow Old With
Me“. In einem Interview hat Ringo Starr ge-
sagt, die Geigenbegleitung dazu erinnere
ihn an George Harrisons „Here Comes The
Sun“, damit seien sie doch auf gewisse Wei-
se alle vier wieder beisammen. Und spätes-
tens da will man seufzen: Alles richtig ge-
macht, Ringo. Lass es dir gut gehen.

Hier ist Peter Pan eine
weiblicheScheinwaise, Hook
ist seine wahre Mutter

Leidenstriathlon


Freitod, Wahnsinn, Depression – in Hamburg werden drei Stücke über Mütter gezeigt. Fazit: Bloß nie Kinder kriegen


Ein Blick in den Berliner Piano-Salon
Christophori. FOTO: TIM SCHMUTZLER

Das Leben ist gut


RingoStarr versucht gar nicht erst, auf seinem neuen Album


etwas Bedeutendes zu schaffen. Ist daran etwas falsch?


Energie!


Kay Voges verabschiedet


sich mit Tschechow aus Dortmund


In einem Song murrt er kurz,
es seien ja alle ständig auf
Facebook, so viel zur Gegenwart

Zarte Berippung,


schlanke Mensur


Der Piano-Salon Christophori in Berlin-Wedding


Hammerköpfe schleifen,
Tastaturbeläge reparieren,
reinigen, bleichen und polieren

DEFGH Nr. 246, Donnerstag, 24. Oktober 2019 (^) FEUILLETON HF2 11
Gut gelauntes Seniorenprogramm gegen eingeschlafene Füße: Ringo Starr im
Jahre 2019. FOTO: AP

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