Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
von michael rohlmann

H


eimlich traf sich Mona Lisa in einer
kleinen Hütte (cappannuccia) mit
dem jungen Papstneffen Lorenzo
de’ Medici. Doch die damals 36-Jährige
lehnte dort die Avancen des Florentiner
Stadtregenten ab. Auch der Versuchung
durch Lorenzos Schwager Strozzi wider-
stand die Ehefrau von Francesco del Gio-
condo. Als diesem das Gerücht davon zuge-
tragen wurde, eilte er zu Strozzi voller
Angst, die Zurückweisungen durch seine
Frau könnten seine guten Geschäftsbezie-
hungen mit den Medici bedrohen. Er versi-
cherte ihnen seine bis aufs Blut gehende
Treue. Strozzi beruhigte Giocondo, Loren-
zo und er seien nicht verstimmt. Er selbst
habe auch nie Francescos Frau begehrt,
wenngleich er aber schon über dessen jun-
ge Söhne nachgedacht habe. So schilderte
Strozzi das Geschehen in einem Brief an Lo-
renzo zu dessen Erheiterung.
Mehr als zehn Jahre zuvor hatte Leonar-
do da Vinci ein Porträtgemälde Mona Lisas
begonnen, aber unvollendet gelassen. Spä-
ter stand Leonardo in Rom in Diensten sei-
nes Freundes Giuliano de’ Medici, Loren-
zos Onkel und Bruder des Papstes Leo X.
Für Giuliano hat Leonardo damals offen-
bar an Mona Lisas Porträt weitergearbei-
tet. Nach Giulianos Tod 1516 folgte Leonar-
do einer Einladung des französischen Kö-
nigs an die Loire. Dort präsentierte er 1517
das Bildnis der lächelnden Frau, als ein ita-
lienischer Kardinal ihn mit seinem Gefolge


besuchte. Es zeige eine gewisse Florenti-
nerin und sei auf Drängen Giuliano de’ Me-
dicis entstanden. Giuliano galt als galanter
Verteidiger der Frauen, Liebesdichter und
vor allem als großer Liebhaber. Einst hatte
sein Neffe Lorenzo über ihn wohl nicht oh-
ne Neid berichtet, Giuliano habe sich
gleich nach der Rückkehr aus den Bädern
von Lucca mit vier Florentinerinnen heim-
lich für ein, zwei Tage in einem Haus einge-
schlossen. Man habe die Nacht zusammen
zugebracht und dabei einander „Freude
und schönes Wetter“ bereitet.
Von alldem konnte Marcel Duchamp
1919 noch nichts wissen, als er zum vier-
hundertsten Todestag Leonardos offenbar
in Anspielung auf dessen Homosexualität
einen Druck der Mona Lisa mit Schnurr-
und Kinnbart schmückte sowie dem Laut-
spiel der Buchstabenfolge „L. H. O. O. Q.“
(„Elle a chaud au cul“, „Sie hat einen hei-
ßen Hintern“). Duchamp versuchte einen
ironischen Angriff auf die moderne Ikone
einer bürgerlichen Werteordnung und
Ästhetik. Die Aussage allein freilich hätte
in bestimmten Männerkreisen der Floren-
tiner Renaissance kaum einen Skandal
ausgelöst.
Die Ausstellung in der Bremer Kunsthal-
le führt Duchamps Bearbeitung mit einer
alten Kopie der Mona Lisa zusammen. Sie
erinnert mit Leonardos Werk an jene Epo-
che der Renaissance, die den europäischen
Bilderhaushalt für immer veränderte. Ne-
ben die mehr als tausendjährige religiöse
Verehrung von Bildern des christlichen
Gottes und seiner Heiligen trat ein neuer
ästhetischer Kult der Kunst. Leonardos Mo-
na Lisa steht im Kontext der zunächst in pe-
trarkistischer Liebesdichtung gerühmten
„bella donna“. Mit Blick und Lächeln
spricht die unerreichbar Schöne zum Lie-
benden. Die Dichter hatten sich an den Lie-
besmetaphern des biblischen Hohelieds


Salomos inspirieren können. Dessen späte-
re fromme Auslegung als Verklärung Chris-
ti und Mariens wurde in die Sphäre irdi-
scher Liebe rückübertragen.
Auch Leonardo orientierte sich für seine
schöne Mona Lisa an religiösen Mariendar-
stellungen. Die Inszenierung vor einer mit
Säulen flankierten Brüstung etwa ist ei-
nem flämischen Madonnenbild Memlings
entlehnt, das für einen Florentiner Bestel-
ler entstanden war. Leonardo erhebt mit
dem Schema Lisas Schönheit als Erhaben-
heit hoch über eine tiefe und weite urtümli-
che Weltlandschaft. Zugleich lässt er in die-
ser einen Weg und eine Brücke in die Kör-
persilhouette der Frau einmünden. Zu-
gänglichkeit und doch unerreichbare Fer-

ne changieren in poetischem Spiel. Statt ei-
ner repräsentativen Familienerinnerung
an eine herausgeputzte biedere Ehefrau ist
in unendlich zarter, duftender Malerei ein
verführerisches wie verehrungswürdiges
Wunder der Kunst entstanden.
Die neue naturalistische Malerei der Re-
naissance veränderte das alte religiöse
Kultbild. Die heiligen Ikonen brauchten
zur Suggestion von Authentizität nicht
mehr unbedingt die tradierten wundertäti-
gen Vorbilder zu reproduzieren. Statt des
Glaubens an eine göttliche, nicht von Men-
schen geschaffene Urform ist es jetzt die
Hand der Künstler, die durch veristischen
Schein eine sichtbare Nähe, Präsenz und
Lebendigkeit des Dargestellten garantiert.

Die Bremer Sammlung besitzt eine
frühe Inkunabel dieser neuen religiösen
Kunst. Masolinos Marienbild entstand
1423 für die Florentiner Familie Carnesec-
chi. Wappen deuten auf die Hochzeit mit ei-
ner Frau aus der Familie Boni. Noch zeigt
der alte, kostbare goldene gotische Rah-
men im Giebel en-face ein hieratisches
Christusporträt. Die heiligen Schemen von
Mandylion und Vera Ikon sind zu einem
Bildnis zarter, entrückter Schönheit ver-
schmolzen. Doch darunter im Hauptbild
feiert das Ehepaar Carnesecchi-Boni die
auch in irdischer Gegenwart erhofften
Freuden des Mutterglücks. Der Sohn klet-
tert zum Gesicht der Mutter hinauf, um
sich anzuschmiegen. Eine Aufschrift

preist: „Oh, wie viel Mitleid ist bei Gott!“
Die Größe von Gottes Misericordia erweist
sich in der Menschwerdung seines Sohnes,
so las man es etwa bei Augustinus. Inkarna-
tion heißt „Fleischwerdung“. Die neue na-
turalistische Malkunst lässt unter dem
kurzen Hemdchen des Kleinen überaus
prominent seinen speckigen Körper her-
vorschauen. In den Rundungen des Flei-
sches wird so die Inkarnation Christi wie
tast- und greifbar. Gott ist wirklich
Mensch geworden.
Das überaus schöne, still den Sohn be-
trachtende Gesicht Mariens hat Masolino
mittels einer ausgeschnittenen Formvorla-
ge auf einem Madonnenbild, heute in der
Alten Pinakothek in München, wiederholt.

Die Ursache wird wohl nicht reine Arbeits-
ökonomie gewesen sein. Vielmehr muss
der Maler mit seiner ästhetischen Leistung
so zufrieden gewesen sein, dass er sie
gleichsam als Ikone nicht mehr zu steigern-
der Kunstfertigkeit in ein neues Bildexem-
plar übertragen wollte. Damit beginnt
auch hier die Wertschätzung der Kunst
sich gegen die Kraft und die Pflicht der Tra-
dition ihren Raum zu erobern.
Den Carnesecchi hat dies gefallen, denn
sie bestellten bei Masolino ebenfalls ein
umfangreiches Altarbild für ihre Familien-
kapelle. Die Florentiner Betrachter verehr-
ten in diesen Werken nicht allein die Dar-
gestellten, sondern auch die ästhetische
Schöpfung einer neuen Malkunst.

Was können Kunstwerke mit uns machen?
Welche Macht haben sie über uns als Be-
trachter? Was lösen sie beim Anschauen in
uns aus? Das sind für Christoph Grunen-
berg ganz zentrale Fragen, die hinter der
aktuellen Ausstellung „Ikonen. Was wir
Menschen anbeten“ stehen. Fragen, die
dem Direktor der Kunsthalle Bremen ge-
nauso wie der Titel schon recht lange
durch den Kopf gingen. Und die ihn im
Grunde schon seit seiner Magisterarbeit
über Mark Rothko begleiten. Der hat seine
Kunst, so Grunenberg, nicht nur „sehr at-
mosphärisch inszeniert“, sondern er setzte
das Malen und Betrachten seiner Bilder so-
gar direkt mit einer religiösen, spirituellen
Erfahrung gleich. Er sprach von „Leuten,
die vor meinen Bildern weinen“. Und dass
in Houston, Texas, seit 1971 zudem die be-
rühmte „Rothko Chapel“ steht, ist in die-
sem Zusammenhang ebenfalls kein Zufall.
Wie die Kunst wirkt, was sie bewirken
kann, das ist ansonsten im Museum natür-
lich auch eine sehr geläufige, alltägliche
Frage. Für „Ikonen“ haben Christoph Gru-
nenberg und Mit-Kuratorin Eva Fischer-
Hausdorf nun eine ganz besondere Form
der Präsentation gefunden. Oder zumin-
dest eine, die sehr ungewöhnlich für ein
Museum ist. Von den Kunstwerken hat fast
jedes seinen eigenen Raum bekommen,
um sich dort so frei wie möglich zu entfal-
ten. Darunter sind berühmte Arbeiten wie
das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Male-
witsch, „Fountain“ von Marcel Duchamp,
das „Selbstbildnis mit grauem Filzhut“
von Vincent van Gogh, „Who’s Afraid of
Red, Yellow and Blue III“ von Barnett New-
man und „Ohne Titel (Drei Schwarz in Dun-
kelblau)“ von Mark Rothko.


Ein Raum, ein Werk. Das soll für eine
langsame und intensive oder sagen wir es
gleich: meditative, spirituelle Auseinander-
setzung sorgen, wie es sich für eine „Iko-
ne“ auch gehört. Aber es ist, das gibt Chris-
toph Grunenberg zu, auf gewisse Art auch
ein Wagnis. Für den Zuschauer, der viel-
leicht lieber eilig von Werk zu Werk
„zappt“, anstatt sich auf ein einzelnes zu
konzentrieren. Und für die Kunst, die nun
beweisen muss, dass sie dem Blick und In-
teresse des Betrachters standhält und ih-
ren Ikonen-Status auch verdient. Der Ort
für diese Begegnung ist, so Grunenberg,
„trotz aller technischen Entwicklungen
und neuer Kommunikationskanäle“ noch
immer das Museum. Im Falle der Mitte des


  1. Jahrhunderts errichteten Bremer
    Kunsthalle und ihres Erweiterungsbaus ist
    das durchaus ein besonderes.


„Wir haben sehr viele, abwechslungsrei-
che Räume“, von den „ganz wunderbaren,
kleinen Kabinetten bis hin zu großen Ober-
licht-Sälen mit sechs bis sieben Metern Hö-
he“, berichtet der Direktor. 64 Räume sind
es insgesamt, die sich auf unterschiedliche
Weise inszenieren lassen. Unterteilt sind
sie in sechs Kapitel: „Die Ikone und die Fol-
gen“, „Schöpfer, Heilige und Schamanen“,
„Abstraktion. Ikonen der Moderne“, „Un-
darstellbarkeit. Wort und Leere“, „Anbe-
tung. Ironisierte Ikonen, Readymades und
Starkult“ und zuletzt „Eintauchen in das
Bild“. Hier ist auch das Gemälde von Mark

Rothko zu finden. Alle zeigen sie verschie-
dene Aspekte der heute inflationär vorhan-
denen „Ikonen“ auf: von deren religiösen
Ursprüngen über die Figur des Künstlers
als „Celebrity“ zu modernen Erscheinun-
gen wie den Popstars, Youtube-Stars und
Influencern.
Aber auch Marken und Konsumproduk-
te sind ein Thema der Ausstellung sowie
private Hausaltäre, die in Gestalt von Pos-
tern oder gesammelten Objekten, erzählt
Christoph Grunenberg, „ein ganz breites,
gesellschaftliches Phänomen“ darstellen.
„Es war uns wichtig, die Ikonen in verschie-
denen Alltagsphänomenen zu verankern.“
Und das ist auch der Grund, warum jeder,
der möchte, auf einen Aufruf des Muse-
ums hin per Post oder Mail für ihn wichti-
ge, persönliche Bilder einschicken kann,
damit diese an den aufgestellten Hausaltä-
ren gezeigt werden. Bei den präsentierten
Kunstwerken handelt es sich dagegen fast
ausschließlich um wertvolle Leihgaben
aus internationalen Museen in Städten wie
Amsterdam, Moskau oder San Francisco.
Denn, das gibt Christoph Grunenberg zu:
„So eine Ausstellung könnten wir aus unse-
rer eigenen Sammlung gar nicht bestü-
cken.“ Die Werke zu organisieren bedeute-
te einen großen Aufwand und zusammen
mit dem ungewöhnlichen Konzept auch ei-
ne lange Planungszeit. Diese verlängerte
sich noch dadurch, dass parallel dazu 150
Werke der Kunsthalle auf Reisen gingen.
Da die „Ikonen“-Ausstellung den kom-
pletten Raum im Museum benötigt und
für die eigenen Werke kein Platz mehr ist,
gehen ausgewählte Exponate aus der Ge-
mäldegalerie, der Skulpturensammlung
und dem Kupferstichkabinett in Bremen

nun auf Reisen. Dazu gehören bedeutende
Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert
wie van Goghs „Mohnfeld“ oder Werke aus
der Worpsweder Malerkolonie. Der „dop-
pelte Kirchner“, das heißt das von Ludwig
Kirchner beidseitig bemalte Bild „Liegen-
der Akt mit Fächer“, ist beispielsweise aber
nicht mit dabei. Das schien als eine der ei-
genen Sammlungs-Ikonen für eine Reise
dann doch zu wertvoll zu sein.
Das Reiseziel der vorübergehend hei-
matlosen Bilder? Spanien, das Baskenland
oder genauer: das berühmte Guggenheim-
Museum in Bilbao. Das hat eine Architek-
turikone, Frank O. Gehry, Anfang der 90er-
Jahre dort geplant. Mit der Leitung des Mu-
seums haben die Bremer aus einem Ge-
spräch heraus die Kooperation entwickelt.
Und als das Ganze dann vor zwei bis drei
Jahren als Projekt konkret wurde, fingen
dann auch bald schon die Reiseplanungen
an. Dass das Guggenheim-Museum Inter-
esse an einem Austausch hatte, bedeutet
für Grunenberg und die Kunsthalle Bre-
men nun die Chance, „auch einem interna-
tionalen Publikum unsere Sammlung und
unser Haus“ zu präsentieren. Und genau
das wird nun vom 25. Oktober an in einer
Ausstellung in Bilbao passieren.
Bis Anfang März die Ikonen-Ausstel-
lung in der Kunsthalle zu Ende geht. Dann
reisen die Bremer Bilder wieder nach Hau-
se, zurück in die eigenen vertrauten Räu-
me. jürgen moises

Die Ausstellung „Ikonen. Was wir Menschen anbe-
ten“ ist bis 1. März 2020 in der Kunsthalle Bremen
zusehen.Weitere Infos zu Öffnungszeiten und
zum Begleitprogramm unter http://www. kunsthalle-bre-
men.de

Überirdisch schön


Die Renaissance hat die europäische Kunst dramatisch verändert. An die Stelle der religiösen Verehrung von Bildern


trat ein Kult des Ästhetischen – mit Folgen bis in die Gegenwart


Anbetung des Wesentlichen


DieAusstellung „Ikonen“ in der Kunsthalle Bremen zeigt pro Raum nur ein Werk – ein gewagtes Konzept


Marcel Duchamp ironisierte


die Mona Lisa. Das hätte


die Florentiner kaum gestört


Heilige, Leere, Stars:
Zu einer Ikone kann heute
vieles werden

Zwei verehrungswürdige Frauenporträts: Die Mona Lisa von Leonardo da
Vinci,hier in der Kopie eines Anonymus, zählt zu den berühmtesten Ge-
mälden der Welt. Eine scheinbar klassische Madonna schuf Masolino da
Panicale 1423. Doch diese Darstellung zeigt bereits die Merkmale
naturalistischer Malkunst.
BILDER: STAATSGALERIE STUTTGART; KUNSTHALLE BREMEN / DER KUNSTVEREIN IN BREMEN

Das Mandylion, ein Abbild Christi auf einem Tuch, wurde angeblich nicht von Men-
schenhand geschaffen. Es wurde vielfach als gemalte Ikone nachgebildet. In der Bre-
mer Kunsthalle ist diese russische Kopie aus dem 16. Jahrhundert zu sehen.
BILD: IKONEN-MUSEUM RECKLINGHAUSEN / JÜRGEN SPILER

14 SZ SPEZIAL – IKONEN Donnerstag, 24.Oktober 2019, Nr. 246 DEFGH

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