Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
von jürgen moises

W


o fangen wir an? Bei James Dean
oder Marilyn Monroe, Nelson
Mandela, Che Guevara, Coca Cola
oder Micky Maus? Bei Madonna oder Di-
ego Maradona, der New Yorker Skyline,
dem Pariser Eiffelturm oder dem Olympia-
stadion in München? Die Liste, sie ist
schier unendlich, weil gefühlt so gut wie je-
der, so gut wie alles heute zur Ikone wer-
den kann. Es gibt Pop- und Bildungsiko-
nen, touristische und politische Ikonen, All-
tags- oder Werbe-Ikonen, wie es in den
70er- und 80er-Jahren Frau Antje und On-
kel Dittmeyer waren, oder Youtube-Iko-
nen wie Pewdiepie. Hinzu kommt, dass die
Grenzen zum Star-, Legenden-, Totenkult
oder zur Heldenverehrung oftmals flie-
ßend sind. Ikonen überall und über alles.
Ohne sie scheint es im heutigen Massenme-
dienzeitalter nicht mehr zu gehen.
Tatsächlich hängt der dahinterstehen-
de Bedeutungswandel der Ikone als Be-
griff eng mit dem modernen Medienzeital-
ter zusammen. Bis in die 60er-Jahre hinein
verstand man im allgemeinen Sprachge-
brauch darunter noch ganz selbstverständ-
lich die religiöse, christliche Ikone und spe-
ziell die der orthodoxen Kirche. Als Repro-
duktion zwar, aber trotzdem noch immer
als Verkörperung des Göttlichen war sie in
den Wohnzimmern präsent und dem west-
deutschen Bildungsbürgertum geläufig.
Aber immer mehr waren damit auch die
Ikonen der Massenkultur und des aufkom-
menden Medienzeitalters gemeint. Das
heißt, die modernen oder säkularen Iko-
nen, als die sie etwa die Philosophin Berna-
dette Collenberg-Plotnikov bezeichnet.
Dieser Begriff mag nicht ganz trenn-
scharf sein, darauf weist auch Collenberg-
Plotnikov in einem Aufsatz über „Moderne
Ikonen“ hin. Weil unter anderem auch der
Papst oder der Kölner Dom als Tassen-
oder T-Shirt-Motiv längst säkulare Ikonen
sind. Aber als Abgrenzung zur christlichen
Ikone mag er taugen und genauso zur Be-
schreibung eines Phänomens, mit dem
sich auch die Wissenschaft, die Kunstge-
schichte und die Pädagogik schon seit Län-
gerem beschäftigen.
Als Beispiel dafür sei die „Ikonothek“ ge-
nannt: eine internetfähige Datenbank für
den Kunst- und Geschichtsunterricht, die
zwischen 2002 und 2005 unter Federfüh-
rung des Bayerischen Staatsministeriums
für Unterricht und Kultus entstand. Und


die als Ikonen „ausgewählte Bilder des kul-
turellen Bildgedächtnisses“ versammelt
und zugänglich macht.
Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Iko-
nen des globalen Bildverkehrs“, das Lydia
Haustein von 2001 bis 2005 an der Kunst-
hochschule Berlin-Weißensee durchge-
führt hat. Die säkularen Ikonen wurden
dort als „wirkungsmächtige Schlüsselbil-
der“ definiert, die sich tief ins kollektive Ge-
dächtnis einbrennen und repräsentativ für
die jeweilige Zeit sind.

Aber Ikonen repräsentieren nicht nur ei-
ne Zeit. Sie können auch für andere, häufig
abstrakte und eigentlich nicht darstellbare
Dinge wie Jugend, Schönheit, Gesundheit,
Freiheit oder Terror stehen und teilweise
auch für mehrere auf einmal. So können et-
wa Fans von Elvis Presley, David Bowie
oder Beyoncé diese mit Jugend oder Frei-
heit verbinden, Ähnliches gilt für ein Mu-
sik-Event wie Woodstock.
Das heißt, eine Ikone bedeutet immer
mehr als das, was sie darstellt. Sie macht et-
was sinnlich präsent, wonach wir uns seh-
nen, was wir uns wünschen, was wir fürch-
ten oder was verloren ist. Dass Abbild und
Urbild, Gegenstand und Vision oder Ge-
fühl dabei zusammenfallen, das alles hat
die säkulare mit der religiösen Ikone ge-
meinsam.
Hier spielt auch die Omnipräsenz der
Medienbilder eine wichtige Rolle, die Tat-
sache, dass sich das Bild des Popstars oder
berühmten Gebäudes von diesem loslöst
und jenseits davon in Zeitschriften, im
Fernsehen oder Internet zirkuliert. Oft ist
sogar das Foto oder Kamerabild erst der Be-

weis dafür, dass etwas existiert oder Bedeu-
tung hat. Die (digitalen) Bilder helfen uns,
dem Ersehnten nahe zu sein, die Kluft zwi-
schen Diesseits und Jenseits in spiritueller
Hingabe zu schmälern. Und stehen nicht
auch die Covergirls und Coverboys der Zeit-
schriften in der Ikonen-Tradition?
Wie sich nun die Kunst zu dem Ganzen
verhält, das wäre die Frage. Und die Ant-
wort dürfte sein: ambivalent. Mit der klas-
sischen Ikone teilt sie schon einmal die Ei-
genschaft, mehr als bloße Darstellung zu
sein. Und dann gibt es natürlich Bilder wie
die Mona Lisa von da Vinci, die Selbstpor-
träts von Dürer oder van Gogh oder Gebäu-
de wie das Bauhaus Dessau, die als Werke
der Kunst zu Bestandteilen der Populärkul-
tur, zu säkularen Ikonen geworden sind.
Bei Andy Warhol rücken Kunst und Popu-
lärkultur besonders sinnfällig zusammen,
wenn er etwa in seinen Siebdruck-Serien
vorführt, wie man mithilfe der Kunst und
serieller Reproduktion aus Marilyn Mon-
roe genauso wie aus einer Suppendose ei-
ne Ikone machen kann.
Ein Stück weit ähnlich funktioniert
auch Marcel Duchamps „Fountain“, das be-
rühmt gewordene Urinal, das dieser als so-
genanntes Readymade ins Museum ge-
bracht hat. Damit stellte er nicht nur die
künstlerische Originalität in Frage, son-
dern zeigte auch die Deutungsmacht des
Künstlers und der Kunstwelt insgesamt
auf. Ein ganz normaler Gegenstand wurde
mit einer Aura aufgeladen, die bis zum Iko-
nen-Status reichte. Vergleichbares gilt
aber auch für den Pop oder die Popwelt. Be-
stimmte Rituale, Strukturen, Mechanis-
men spielen hier ebenfalls eine Rolle, wie
sie auch in den Religionen, in der Kirche
vorzufinden sind. Eine gewisse Gläubig-
keit, die braucht es auch. Oder würde man
sonst 90 Millionen für einen „Hasen“ von
Jeff Koons zahlen oder 700 Euro für ein

Konzert der Rolling Stones? Diese Sichtwei-
se legt jedenfalls nahe, dass die Bedeutung
eines Kunstwerks stark von äußeren Fakto-
ren bestimmt ist, dass diese genauso wie
bei anderen säkularen Ikonen kontext-
und zeitabhängig ist. Gleichzeitig gibt es
aber auch noch eine andere Art der Deu-
tung, und zwar die, die im Kontrast dazu
die Kunst als Erbin der religiösen Ikonen
und damit gewissermaßen auf der ande-
ren Seite sieht.
Ein Vertreter dieser Sichtweise ist der
amerikanische Theoretiker George Stei-
ner. In seinem viel diskutierten Buch „Von
realer Gegenwart“ von 1990 interpretiert
er die Kunst als Vertreterin einer absoluten
Wahrheit, die nur diese auf einzigartige
Weise für uns anschaulich erfahrbar ma-
chen kann. Nur in ihr scheint in unserer
profanen, oberflächlichen Welt ein von
Gott gegebener Sinn auf oder provozieren-

der formuliert: „Kunst und Religion ... sind
dasselbe.“
Diese Denkfigur, die Ästhetik mit Religi-
on, mit Mystik in Zusammenhang bringt,
erinnert an den Deutschen Idealismus, an
Ideen von Martin Heidegger oder Maurice
Merleau-Ponty. Aber auch an künstleri-
sche Topoi und Phänomene aus dem 20.
Jahrhundert, wie sie sich bei Klassikern
der Moderne, etwa bei Wassily Kandinsky,
Paul Klee, Franz Marc oder Piet Mondrian
zeigen. Der russische Künstler Kasimir
Malewitsch nahm mit seinem berühmten
„Schwarzen Quadrat“ nicht nur formal zur
Ikonenmalerei Bezug. Sondern auch da-
durch, dass er es in der „Letzten futuristi-
schen Gemäldeausstellung 0,10“ in die öst-
liche Ecke des Raumes hängte und somit
an die Stelle, an der nach russischer Traditi-
on die Ikone präsentiert wird. Und die
Farb- oder Lichtkunst eines Mark Rothko

oder James Turrell verlangt geradezu nach
meditativer Versenkung.
Das heißt: Sie fordert vom Betrachter
die totale Hingabe, birgt damit aber die
Gefahr, sich darin zu verlieren. Denn was
(gute) Kunst dann doch von der Ikone un-
terscheidet, das ist die Einladung zur Re-
flexion, zur geistigen Auseinanderset-
zung. Und damit auch zum Bruch mit der
Kontemplation.
Im Gegenzug führt die „Ikonisierung“
von Kunst in Form von massenhaft repro-
duzierten Meisterwerken dazu, dass man
diese eigentlich gar nicht mehr richtig
wahrnimmt. Insofern ist die Ikonen-Aus-
stellung in Bremen ein spannendes Expe-
riment, weil es genau dieses Wechselspiel
zwischen Ikonenhaftigkeit und deren Re-
flexion auslotet. Mit welchem Ausgang,
das muss man sich selbst ansehen oder
am eigenen Leib erfahren.

Nur noch drei Jahre, dann darf in Bremen
gefeiert werden: Der Kunstverein wird
2023 bereits 200 Jahre alt. Das Jubiläum
an sich ist schon ein stattliches, nicht min-
der beachtlich ist aber auch das, was diese
Bürger-Institution über Revolutionen,
Reichsgründungen und Kriege hinweg er-
halten, getragen und erweitert hat, näm-
lich eine Kunstsammlung von Rang und
ein eigenes Museum.
Der Bremer Senator Hieronymus Klug-
kist gründete 1823 gemeinsam mit 23 wei-
teren Bürgern den Kunstverein. Erklärtes
Ziel war es, den „Sinn für das Schöne zu ver-
breiten und auszubilden“. Die Bremer be-
gnügten sich nicht damit, über Schönem
zu sinnieren, sondern organisierten be-
reits sechs Jahre nach der Gründung ihres
Vereins die erste Ausstellung. Der Schwer-
punkt lag auf einer kunsthistorisch bis heu-
te unbestritten wichtigen Phase, dem Gol-
denen Zeitalter, holländischer Malerei des



  1. Jahrhunderts.
    Und der Pflege des Schönen gaben die
    rührigen Bremer auch so bald wie möglich
    einen eigenen Ort: 1849 wurde die neu er-
    baute Kunsthalle eröffnet, finanziert von
    Klugkist, seiner Stiftung und vielen weite-
    ren Mäzenen. Die Bürger hatten einen Mei-
    lenstein gesetzt. Und sie waren auch stolz
    darauf, wie sie in der Mitteilung zur Eröff-
    nung vermerken: „...nicht das Decret einer


öffentlichen Behörde hat es errichtet“. Die-
ser Maxime sind die Bremer über die 200
Jahre hinweg weitgehend treu geblieben.
Die erste Erweiterung um die Wende vom


  1. zum 20. Jahrhundert wurde wiederum
    von den Bürgern gestemmt. An der bislang
    jüngsten baulichen Ergänzung im Jahre
    2011 beteiligten sich auch Stadt und Land,
    ein Drittel der Kosten aber stemmten wie-
    der Verein und Spender.


So weit das bauliche Engagement. Na-
türlich sollte das Schöne auch das Haus fül-
len. Wiederum war es Initiator Klugkist,
der mit gutem Beispiel voranging und sei-
ne Dürer-Sammlung an die Kunsthalle
spendete. Seitdem ist die Zahl der Papierar-
beiten deutlich gestiegen: Mehr als
200000 Blätter gehören dem Verein mitt-
lerweile. Bei Dürer und dem Goldenen Zeit-
alter ist man auch nicht stehen geblieben.
Die Sammlung umspannt 600 Jahre
Kunst. Rembrandt ist ebenso vertreten wie
Werke von Sarah Morris.
Relativ früh leistete sich der Kunstver-
ein eine professionelle Führung. Gustav
Pauli wurde 1899 zum ersten künstleri-

schen Direktor des Hauses ernannt. Mit
Pauli hatten sich die Bremer einen muti-
gen Direktor eingekauft. Er lud Paula Mo-
dersohn-Becker, heute eine der berühm-
testen Malerinnen, die mit Bremen verbun-
den sind, ein, sich an einer Ausstellung zu
beteiligen. Damit war er aber seiner Zeit
voraus: Frau und modern, das löste einen
Aufschrei aus. Die Werke von Modersohn-
Becker und Marie Bock mussten aus der
Schau entfernt werden.
Einen weiteren, schließlich sogar
deutschlandweiten Streit löste Pauli gut
zehn Jahre später mit einem Ankauf aus.
Vincent van Goghs „Mohnfeld“ ist heute
unbezahlbar viel wert. Der Künstler Carl
Vinnen hingegen war der Ansicht, dass
deutsche Museen auch deutsche Kunst zu
sammeln hätten. Die Auseinandersetzung
schlug hohe Wellen. Ihr „Mohnfeld“ aber
behielten die Bremer.
Dem Künstler van Gogh setzen sie auch
in der aktuellen Ausstellung „Ikonen“ mit
einem seiner Selbstbildnisse ein Denkmal.
So ändern sich die Zeiten. pfu

Im Glauben


an Marilyn


Manche Kunstwerke machen sinnlich präsent,
wonach wir uns sehnen. Doch bei

Kontemplation soll es nicht bleiben


Der Zeit voraus


Bremen hat seine Kunsthalle mutigen Bürgern zu verdanken


DEFGH Nr. 246, Donnerstag, 24. Oktober 2019 SZ SPEZIAL – IKONEN 15


Gründer Klugkist
stiftete demVerein
seine Dürer-Sammlung

Marcel Duchamp hat
die Deutungsmacht der Kunst
an einem Urinal demonstriert

Über-Bilder: Beyoncé, das
Urinal, das Marcel
Duchamp zur „Fountain“
erklärte, oder Sturtevants
„Triptych Marilyn“.
FOTOS: SAN FRANCISCO MUSEUM OF
MODERN ART/BEN BLACKWELL /
ASSOCIATION MARCEL DUCHAMP/ VG
BILD-KUNST, BONN 2019;
PARKWOOD ENTERTAINMENT;
GALERIE THADDAEUS ROPAC, ESTATE
STURTEVANT / CHARLES DUPRAT

Ikonen
Verantwortlich: Peter Fahrenholz
Redaktion: Johanna Pfund
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