Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
von jens flottau

Washington –Seit Monaten versucht Boe-
ing, die größte Krise der Unternehmensge-
schichte zu bewältigen. Immer neue Ent-
hüllungen rund um die zwei Abstürze der
beiden Boeing737 Maxbelasten den Flug-
zeughersteller, immer wieder muss er ein-
gestehen, dass sich die Rückkehr seines
wichtigsten Flugzeuges verzögert. Seit sie-
ben Monaten gilt ein weltweites Flugver-
bot, ein Vorgang ohne Beispiel in der Ge-
schichte der zivilen Luftfahrt. Nun meldet
die Konzernsparte einen Milliardenverlust
für die ersten neun Monate.
Bis Dienstagabend aber war kein ein-
ziger Manager für das Desaster, durch das
346 Menschen ums Leben gekommen
sind, zur Verantwortung gezogen und ent-
lassen worden. Doch vergangene Woche
wurde ein Nachrichtenaustausch zwi-
schen zwei Boeing-Piloten bekannt, in
dem diese Software-Probleme in einem
Max-Flugsimulator diskutieren. Eine In-
vestmentbank nach der anderen korrigier-
te die Prognose für den Boeing-Aktienkurs
nach unten, der in zwei Tagen mehr als
zehn Prozent nachgegeben hatte. Und
dann wurde Kevin McAllister, der Chef der
wichtigen Zivilflugzeugsparte, gefeuert.
Der Vorgang ist ebenso erstaunlich wie
der Stillstand in den Monaten zuvor. Denn
immer mehr zeigt sich, dass sich die Kom-
munikation zwischen den beiden Boeing-
Piloten von Ende 2016 auf ein spezifisches
Problem mit diesem einen Simulator be-
zog und nicht auf ein generelles Problem
mit der fehlkonstruierten Flug-Software
Maneuvering Characteristics Augmentati-
on System (MCAS), das mutmaßlich die
entscheidende Rolle bei den Abstürzen
von Lion Air und Ethiopian Airlines ge-
spielt hat. Der Schluss, dass Boeing schon
damals über die Fehler Bescheid wusste
und sie vertuschte, ist auf der Grundlage
der Konversation also nicht zulässig. Da-
mit taugte der kaputte Simulator also
kaum als Anlass für einen Rücktritt. Und
warum eigentlich Kevin McAllister und
nicht Konzernchef Dennis Muilenburg?
Boeing hat am Mittwochmorgen die Fi-
nanzzahlen für die ersten neun Monate
bekannt gegeben. Die geben mehr als ge-
nug Anlass für Rücktritte: Die Zivilsparte
hat einen operativen Verlust von 3,8 Milliar-
den Dollar gemacht, hauptsächlich wegen
derMax-Krise – im Vorjahr war es noch ein
Gewinn von mehr als fünf Milliarden Dol-
lar. Der Umsatz ging um 39 Prozent auf

24,7 Milliarden Dollar zurück. Nur 301 Flug-
zeuge hat Boeing in der Zeit ausgeliefert, im
vergangenen Jahr waren es 568. Schlechte
Nachrichten gab es nicht nur bei derMax:
Die Produktion des Langstreckenjets 787
wird von Ende 2020 an für zwei Jahre von
14 Maschinen pro Monat auf zwölf redu-
ziert, der Markt gibt im Moment nicht mehr
her. Die neue777Xwird nun offiziell erst
2021 ausgeliefert und damit ein Jahr später
als vorgesehen – auch die Lufthansa ist von
den Problemen betroffen. Aus der Krise füh-
ren soll die Sparte nun Stan Deal, der bisher
für das Servicegeschäft verantwortlich war
und seit 1986 für Boeing arbeitet.
McAllister ist dem Anschein nach aber
auch das Bauernopfer, mit dem Muilen-

burg seinen Job retten will. Der Chef der
Passagierflugzeugsparte, die mit einem
Umsatz von rund 60 Milliarden Dollar für
etwa zwei Drittel des Geschäftes verant-
wortlich ist, war erst vor drei Jahren von

General Electric zu Boeing gestoßen und
hatte als erster Manager von außen einen
Vorstandsjob bekommen. Mit der Entwick-
lung derMaxund ihrer Flugsteuerung hat-
te er nichts zu tun, er kam erst nach Se-
attle, als die neue 737 -Version praktisch fer-

tig war. Allerdings ist er im vergangenen
halben Jahr mehr oder weniger aus der Öf-
fentlichkeit verschwunden und arbeitet
vor allem hinter den Kulissen daran, das
Projekt wieder in die Spur zu bringen.
Boeing-Insider rätseln über die Ent-
scheidung, McAllister zu feuern. Er sei der
einzige, dem es gelingen könne, das Ver-
trauen der Kunden wiederherzustellen,
denn er habe gute Drähte und werde trotz
allem hoch geschätzt, sagt einer. Muilen-
burg sei dazu außerstande – „weil er Den-
nis ist. Er wirkt wie ein Roboter“.
Muilenburg selbst ist allerdings keines-
falls auf der sicheren Seite. Kommende Wo-
che steht ihm eine Anhörung vor einem
Ausschuss im US-Kongress bevor, die äu-

ßerst unangenehm werden dürfte. Es gibt
die Theorie, dass er den Termin noch
durchstehen und dann gehen muss. Sei-
nen Posten als Chef des Verwaltungsrates
hat er schon Anfang des Monates abgeben
müssen. David Calhoun, auch Ex-GE-Ma-
nager, ist nun oberster Aufseher des Kon-
zerns und könnte Muilenburg zumindest
interimistisch als Vorstandschef ersetzen.
„Wenn der Verwaltungsrat bereit ist, Ke-
vin vor den Bus zu werfen, hat er es ge-
schafft, nichts aus dem Debakel gelernt zu
haben“, so ein Boeing-Kenner. Er findet, es
gebe Anlass genug für einen Kulturwandel
im von Muilenburg strengstens auf Marge
getrimmten Konzern. Dieser sei aber nur
mit einem neuen Chef zu schaffen.

München– Insolvenzverwalter Michael
Jaffé stellt den geschädigten Anlegern der
Containerfirma P&R eine Milliardensum-
me in Aussicht. Es sei Ziel, „aus der Verwer-
tung der vorhandenen Container in den
kommenden Jahren Erlöse von über einer
Milliarde Euro zu erwirtschaften“, teilte
Jaffé am Mittwoch in München mit. Die et-
wa 54000 P&R-Anleger hätten insgesamt
etwas mehr als drei Milliarden Euro an For-
derungen angemeldet. Offen ist, ob Alt-An-
leger ihre ausbezahlten Gelder im Wege
der Anfechtung zurückzahlen müssen.
Das sollen Pilotverfahren klären.
P&R hat jahrzehntelang Schiffscontai-
ner als Direkt-Investments an private Anle-
ger verkauft. Die wurden – auf dem Pa-
pier – Eigentümer der Container und ver-
dienten an den Mieteinnahmen und einer
Rückkaufsgebühr. Zwischen drei und fünf
Prozent Rendite machten die Investoren
damit. Im Frühjahr 2018 musste die Fir-
mengruppe mit Sitz in Grünwald bei Mün-
chen Insolvenzantrag stellen. Von 1,6 Milli-
onen Schiffscontainern, die P&R verkauft
hatte, existierten nur gut 600 000. Spätes-
tens seit 2007, so stellte sich heraus, waren
sukzessive weniger Container vorhanden,
als verkauft wurden. Ein Strafprozess ge-
gen den Firmengründer kam aus gesund-
heitlichen Gründen nicht zustande.
Jaffé will die vorhandenen Container
weiter vermieten, zum Teil aber auch
rasch verkaufen. Die Verwertung der Con-
tainer-Flotte verläuft nach seinen Anga-
ben gut. Noch vor Jahresende wolle er
250Millionen Euro einnehmen, die in ei-
ner ersten Abschlagszahlung ausgeschüt-
tet werden sollen. Mehr als 98 Prozent der
Anleger hatten einem Vergleich mit Jaffé
zugestimmt, der die eingezahlten Gelder
zum Maßstab für die Insolvenzforderun-
gen macht und nicht die versprochenen Er-
löse aus der Vermietung und der Rücknah-
me der Container. jawi


München– Brustkrebs ist mit Abstand die
häufigste Tumorerkrankung bei Frauen,
etwa 69000 Frauen erhalten jedes Jahr die-
se Diagnose. Früherkennung erhöht die
Chancen für eine erfolgreiche Behand-
lung. Hier setzt das Berliner Start-up Me-
rantix Healthcare an. Mit seiner Software
Vara will das Unternehmen Radiologen bei
ihrer Arbeit unterstützen. Als erste Soft-
ware auf diesem Gebiet in Deutschland
wurde Vara nun CE-zertifiziert, die Zertifi-
zierung als Medizinprodukt wurde bereits
im Frühjahr erteilt. Vara wertet mithilfe
von künstlicher Intelligenz (KI) die Bilder
von Brustkrebs-Screenings aus.

Anders als bei ähnlicher Software sei
das Ziel von Vara nicht, die Verdachtsfälle
zu finden, sondern die unauffälligen Brust-
aufnahmen vorzusortieren und die Fach-
ärzte damit von einer sehr repetitiven und
ermüdenden Arbeit zu entlasten, erläutert
Sven Piechottka, der bei Merantix fürs Qua-
litätsmanagement zuständig ist. 97 Pro-
zent der Bilder von Brustkrebs-Screenings
zeigten keine Auffälligkeiten, nur drei Pro-
zent würden zur genaueren Prüfung wei-
tergeleitet, nur bei einem geringen Anteil
davon bestätige sich der Verdacht schließ-
lich.
Die Software soll Radiologen dabei un-
terstützen, die unauffälligen Bilder zu klas-
sifizieren. Wenn die Kunden es wollen,
kann das Programm aber auch verdächti-
ge Stellen mit einer Box markieren. Vara
hilft aber nicht nur dabei, die Bilder durch-
zusehen, sondern füllt auch den für jede
untersuchte Frau nötigen Bericht aus und
erspart den Radiologen damit viel Arbeit.
Vara läuft bei der Einführung in einer radio-
logischen Praxis zunächst im Hintergrund
mit. Dabei können die Fachärzte mit dem
Hersteller zusammen abstimmen, wie
empfindlich Vara reagieren soll.
Die Software wurde mit einem sehr gro-
ßen Datensatz von mehr als zwei Millionen

Bildern trainiert. Die Bilder, die dabei ver-
wendet wurden, waren nach Angaben von
Merantix unter anderem durch Gewebe-
proben abgesichert, um zu verhindern,
dass falsche Trainingsdaten den Algorith-
mus beeinflussen. „Mit den Daten steht
und fällt alles“, sagt Piechottka. In Pilotpro-
jekten arbeitet das junge Unternehmen be-
reits mit Radiologen in fünf europäischen
Ländern zusammen.
Da man sich in einem sensiblen Umfeld
bewegt, habe man einen sehr sicheren An-
satz gewählt. Nach wie vor erstellten zwei
Fachärzte jeweils einen eigenen Befund zu
jeder Patientin. Ein Dritter arbeitet mit Un-

terstützung durch die Software. Langfris-
tig sei das Ziel, dass die Software die unver-
dächtigen Fälle aussortiere und nur noch
ein Radiologe sich alles ansehen muss.
In Deutschland wird das wegen gesetz-
licher Regelungen aber so schnell nicht
möglich sein, deshalb will sich Merantix
zunächst auf Märkte im Ausland fokussie-
ren, in denen ein großer Mangel an Radiolo-
gen herrscht und die Unterstützung durch
die Software für Entlastung sorgen kann.
Merantix ist deshalb nun auf der Suche
nach Investoren, um die Expansion finan-
zieren zu können.
Die Analyse von Bilddaten mithilfe von
KI-Algorithmen hat zuletzt große Fort-
schritte gemacht. Vor allem dann, wenn es
um relativ eng begrenzte Aufgabenfelder
geht, sind die Ergebnisse sehr vielverspre-
chend und erreichen hohe Trefferquoten.
Merantix nimmt für sich in Anspruch, eine
mit Radiologen vergleichbare Trefferquote
zu erreichen. Der Vorteil der Software: Sie
kommt stets zu denselben Ergebnissen,
die Befunde verschiedener Radiologen wei-
chen jedoch voneinander ab. Zudem ermü-
det die Software nicht. Radiologie gilt als
ein Gebiet der Medizin, das prädestiniert
ist für den Einsatz von künstlicher Intelli-
genz. helmut martin-jung

München– Esgeht um mehr als 600 Milli-
onen Euro, es geht um fast 85 000 Lastwa-
gen und um gut 3200 angeblich Geschädig-
te: Der größte deutsche Prozess um Scha-
denersatz aus dem so genannten Lkw-Kar-
tell beginnt am Donnerstag vor dem Land-
gericht München I. Das Unternehmen „Fi-
nancialrights Claim“ verklagt für ihre Kli-
enten die größten europäischen Lastwa-
gen-Bauer Daimler, Volvo, Iveco, MAN und
DAF.
Der Prozess ist der Nachhall eines Kar-
tell-Verfahrens der EU, in dem den Herstel-
lern insgesamt fast vier Milliarden Euro
Bußgeld auferlegt wurden – allein Daimler
bezahlte mehr als eine Milliarde, nur MAN
kam straffrei davon, weil das Münchner
Unternehmen sich offenbart und die illega-
len Preisabsprachen aufgedeckt hatte.
Nun versucht Financialrights Claim,
Schadenersatz zu erzielen: Die Kaufpreise,
so die Argumentation, wären ohne das Kar-
tell niedriger gewesen. Die Hersteller be-
streiten das vehement und weisen vor al-
lem darauf hin, dass die EU-Kommission
im Kartellverfahren nichts zu Auswirkun-
gen auf den Markt festgestellt habe.
Financialrights Claim hat sich die Forde-
rungen der Lkw-Käufer abtreten lassen
und will, sollte die Klage Erfolg haben, 30
Prozent der erzielten Summe als Provision
für sich behalten. Juristisch geführt wird
die Klage von der amerikanischen Kartell-
rechts-Kanzlei Hausfeld, die Beklagten hal-
ten mit europäischen Groß-Kanzleien da-
gegen.


Ausschlaggebend für Erfolg oder Miss-
erfolg werden Probleme sein, die bislang
höchstrichterlich noch nicht geklärt sind.
So wird sich die 37. Zivilkammer des Land-
gerichts am ersten Verhandlungstag haupt-
sächlich mit der Frage der so genannten
Aktivlegitimation beschäftigen: Ob das Ge-
schäftsmodell von Financialrights Claims
korrekt ist und das Unternehmen über-
haupt berechtigt, ist zu klagen.
Sobald das geklärt ist, wird es an der Klä-
gerin sein, die jeweiligen Schäden konkret
nachzuweisen – was schwierig werden
könnte, weil es ja um fiktive Zahlen geht:
Wie viel ein Lastwagen denn gekostet hät-
te, wenn es kein Kartell gegeben hätte.
Financialrights Claims hat hierzu ein
Gutachten beim Frankfurter Wirtschafts-
professor Roman Inders in Auftrag gege-
ben, der Preisaufschläge von bis zu zehn
Prozent und mehr ausgerechnet hat. Wenn
der Prozess diesen Punkt erreicht, dürfte
es zu einer „Gutachter-Schlacht“ kom-
men, wie Insider meinen.
Neben dem nun beginnenden Mammut-
Prozess sind bei der Münchner Kammer
mehr als 100 Verfahren unterschiedlicher
Größenordnungen um das Lkw-Kartell an-
hängig. Die jetzige Klägerin hat bereits ei-
ne weitere Klage von nur unwesentlich ge-
ringerem Umfang eingereicht, eine dritte
ist nach ihren Angaben in Vorbereitung.
Die 37. Zivilkammer ist aus diesem Grund
von ihren anderen Aufgaben entlastet wor-
den. So wurde eine Hilfskammer errichtet,
die die gewöhnlichen Zivil-Streitigkeiten
übernimmt. Wie lange der Prozess dauern
wird, ist völlig unabsehbar: Optimistische
Schätzungen gehen von zwei Jahren aus,
andere halten fünf für realistischer – und
das nur in der ersten Instanz, die allein we-
gen der hohen Schadensumme nicht die
letzte sein wird. stephan handel


Immer schlimmer


Die Krisebeim Flugzeughersteller Boeing zeigt sich nun auch in der Bilanz: Die Zivilsparte des Konzerns macht Milliardenverluste,
die Zahl der ausgelieferten Maschinen hat sich fast halbiert. Das hat nun auch personelle Konsequenzen

Etwas Hoffnung für


P&R-Geschädigte


Die zentrale Frage ist: Wie viel


hätte ein Lkw gekostet, wenn es


kein Kartell gegeben hätte?


Dr. KI


NeueTechnik soll bei Brustkrebs-Vorsorge helfen


Konzernchef Muilenburg
muss kommende Woche
im US-Kongress aussagen

DEFGH Nr. 246, Donnerstag, 24. Oktober 2019 (^) WIRTSCHAFT 19
Bau der737 Maxim Boeing-Werk Renton im Bundesstaat Washington. Nach zwei Abstürzen dürfen Maschinen dieses Typs vorerst nicht mehr fliegen. FOTO: J. REDMOND / AFP
Krebs oder nicht? Das sollen auch künftig Radiologen beurteilen, eine Software
könnte ihnen dabei aber helfen. FOTO: JAN-PETER KASPER / DPA
Schwerer
Kartellverdacht
Spediteure wollen von Lkw-Bauern
Schadenersatz wegen Absprachen
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