Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1

Kerbholz, Knoten in der Schnur oder der
Abakus ausGlaskugeln – Menschen such-
ten und entwickelten schon immer Hilfs-
mittel, um schneller und besser rechnen
zu können. Das effizienteste dieser Werk-
zeuge ist mittlerweile der Computer. Bis
Google jetzt den Durchbruch bei Quanten-
computern verkündet hat, waren die soge-
nannten Supercomputer das Maß aller Din-
ge. Auf jährlichen Ranglisten veröffentli-
chen Computerwissenschaftler ihre Spit-
zenreiter. Derzeit wird sie von „Summit“
angeführt, einem Riesenrechner von IBM,
der am Oak Ridge National Laboratory in
Tennessee, USA, steht und Grundlagenfor-
schung zu sauberer Energie unterstützt. Er
hat eine Leistung von 148,6 Petaflops. Ein
Petaflops entspricht einer Billiarde Flops.
Das Wort ist ein Akronym für „Floating
Point Operations Per Second“, also Rechen-
operationen pro Sekunde.


Ganze 0,3 Flops hatte die vom engli-
schen Mathematiker, Ökonomen und Er-
finder Charles Babbage im Jahr 1837 als
Entwurf vorgestellte „Analytical Engine“.
Basierend auf seiner bereits in den
1820ern entwickelten „Differenzmaschine
Nr. 1“ gilt sie als die erste automatische Re-
chenmaschine und Vorläufer des moder-
nen Computers. Die Analytical Engine rech-


nete selbst, der Mensch musste nicht mehr
in den Rechenvorgang eingreifen. Sie be-
stand aus Zahnrädern und verwendete das
Dezimalsystem. Angetrieben werden soll-
te sie von einer Dampfmaschine, gesteuert
von programmierbaren Lochkarten. Aller-
dings wurde sie zu Lebzeiten Babbages nie
vollendet. Auch dessen Sohn Henry konnte
nur Teile des Prototyps Anfang des 20.
Jahrhunderts fertig stellen. Kurz danach
geriet der revolutionäre Entwurf viele Jah-
re in Vergessenheit. Heute weiß man durch
Nachbauten, dass die automatische Ma-
schine funktionstüchtig gewesen wäre.
Als erster funktionierender Digitalrech-
ner der Welt gilt die Z3, die der Berliner
Bauingenieur Konrad Zuse im Jahr 1941
baute. Der Rechner bestand aus 30 000 Ka-
beln und rund 2500 Relais, also elektri-
schen Schaltern, wie sie in damaligen Tele-
fonanlagen benutzt wurden. Sie wog etwa
eine Tonne und war groß wie eine Schrank-
wand. Die Z3 verwendete das binäre im Ge-
gensatz zum dezimalen System, also nur
die Ziffern Null und Eins. Das Binärsystem
galt seither als Grundlage für jeden moder-
nen Computer. Der Zuse-Rechner konnte
64 Worte speichern und benötigte drei Se-
kunden für eine Multiplikation. 1944 wur-
de der Rechner im Zweiten Weltkrieg
durch Bombenangriffe zerstört, eine Re-
konstruktion steht mittlerweile im Deut-
schen Museum in München.
350 Flops schafft Eniac (Electronic Nu-
merical Integrator and Computer), der von
der US-Armee 1946 der Öffentlichkeit vor-

gestellte Großrechner. Er bestand aus
mehr als 17 000 Elektronenröhren und
wog 27 Tonnen. Sein Daseinszweck be-
stand vor allem darin, die Flugbahnen von
Raketen und Geschützen für die Artillerie
zu berechnen. Programmiert wurde er vor
allem von Frauen. In den 1960ern tauchte
dann zum ersten Mal der Begriff Super-
computer auf, die Rechner haben sich so-
weit ausdifferenziert, dass sie sich deutlich
von anderen Computern unterscheiden.
1960 wurde der Univac Larc gebaut, einer
dieser frühen Supercomputer. Einer ging
an die US-Navy und einer an ein amerikani-
sches Atomwaffenforschungszentrum.
Ebenfalls aus den 1960ern stammt die
Vorhersage des Physikers und Mitgrün-
ders des US-Chipherstellers Intel, Gordon

Moore. Sie besagt grob ausgedrückt, dass
die Leistung der Computer sich in einem
Zeitraum von ein bis zwei Jahren verdop-
pelt, weil die Computerchips immer besser
werden. Das Moore’sche Gesetz war weg-
weisend, die Leistungskurve der Super-
computer stieg rasant an. Kam die Control
Data Corporation 6600 im Jahr 1964 auf
drei Megaflops, brachte es ihre Nachfolge-
rin fünf Jahre später bereits auf mehr als
das Zehnfache. 1976 führte die Cray-1 die
Weltrangliste an. Cray-1 kostete damals
8,8 Millionen Dollars und wurde unter an-
derem an das Los Alamos National Labora-
tory verkauft, an die Kernforschungsein-
richtung in den USA. Aber auch zivile For-
scher schafften ihn sich an. So erwarb das
Europäische Zentrum für mittelfristige
Wettervorhersage im britischen Reading
einen der 5,5 Tonnen schweren Geräte.
Ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit
traten die Superrechner wieder 1997, als
„Deep Blue“ den Schachweltmeister Garri
Kasparow besiegte, auch wenn er seiner-
zeit nur Platz 259 der damaligen Supercom-
puterliste belegte. Die Petaflops-Marke
überschritt 2008 der IBM Roadrunner,
doch die Rechenleistung stieg nun nicht
mehr so stark an wie in den Vorjahren und
Jahrzehnten. Von 2018 bis 2019 legten die
Top-500-Computer nur noch um zehn Pro-
zent zu. Das Moor’sche Gesetz scheint aus-
gedient zu haben. Die neuen Quantencom-
puter könnten es durch ihre exponentiell
ansteigende Rechenleistung gänzlich obso-
let machen. mirjam hauck

von jannis brühl

E


inige der herausragendsten Köpfe
der Wissenschaft arbeiten in der
Quantenforschung, jenem Teilbe-
reich der Physik, der sich der Vorstellungs-
kraft der meisten Menschen entzieht. Ähn-
lich brillante Forscher treiben die Informa-
tik in immer neue Sphären. Und dann gibt
es den Bereich, in dem die beiden Diszipli-
nen zusammenkommen, um Computer,
wie wir sie kennen, mithilfe der Quanten-
physik hinter sich zu lassen. Es ist die Ar-
beit an Quantencomputern, deren enorme
Rechenleistung selbst die bisher leistungs-
stärksten Computer wie primitive Rechen-
schieber aussehen lassen soll. Jetzt tritt
diese kleine, kluge Szene ins Rampenlicht.
Helle Aufregung herrscht, und kein Ver-
gleich ist zu groß: Ist es der Sputnik-Mo-
ment der Quantencomputerforschung? Ih-
re Mondlandung? Oder am Ende nur der
nächste übertriebene Hype um eine ver-
meintliche digitale Revolution? Die Aufre-
gung hervorgerufen hat Google. Der Kon-
zern rief am Mittwoch ein neues Computer-
zeitalter aus. Seine Forscher hätten die so-
genannte Quantenüberlegenheit erreicht.
Der Begriff beschreibt den Moment, in
dem Quantencomputer mathematische
Probleme berechnen können, die auch die
besten derzeitigen Supercomputer nicht
schaffen. In einer Mitteilung von Google
heißt es: Googles spezieller Quanten-Chip
Sycamore „konnte in 200Sekunden eine
Berechnung durchführen, für die der
schnellste Supercomputer der Welt 10 000
Jahre gebraucht hätte“.
Praxistaugliche Quantencomputer sol-
len eines Tages Medizin, Chemie und
Verschlüsselungstechnik revolutionieren.
Dass das Unternehmen nun einen Durch-
bruch verkündet, dürfte intensive Diskus-
sionen in der Informatik und anderen Wis-
senschaftsgebieten auslösen. In seinem
Papier, das im WissenschaftsmagazinNa-
tureveröffentlicht wurde, spricht Googles
Forscherteam von einem Meilenstein. Es
kursierte bereits im September im Netz.

Normale Rechner arbeiten unter den Be-
dingungen und Gesetzen der klassischen
Physik, mit binären Bits, die immer nur ei-
nen Wert annehmen können: 0 oder 1.
Dagegen arbeiten Quantencomputer mit
sogenannten Qubits, die 0 und 1 gleichzei-
tig sein können. Dieses Paradox gilt selbst
in der theoretischen Physik noch heute als
Herausforderung. Bekanntestes Beispiel
für die paradoxen, gleichzeitig herrschen-
den Zustände ist Schrödingers Katze aus
dem Gedankenexperiment des Physikers
Erwin Schrödinger: Das Tier ist in einem
Kasten, in dem es – theoretisch – langsam
mit Gas getötet wird. Ein Zufallsereignis
setzt eine tödliche Menge Gas frei. Würde
die Quantenmechanik nicht nur auf Ebene
der Atome, sondern auch für die Katze gel-
ten, so würde sie einen Zustand anneh-
men, in dem sie sowohl „tot“ als auch „le-
bendig“ wäre – bis jemand nachsieht.
Ebenso können Qubits Rechenoperatio-
nen gleichzeitig statt nacheinander ausfüh-
ren. Dadurch nimmt die Menge an Informa-
tionen, die Quantencomputer verarbeiten
können, exponentiell zu. Die 54 Qubits in
Googles neuem Computer nutzen diese
Gleichzeitigkeit, um Abermillionen Vor-
gänge in Sekunden zu rechnen.

Die Bedingungen, um stabile Quanten-
berechnungen zu erzielen, sind nur mit gro-
ßem Aufwand zu erreichen. Zum Beispiel
muss extreme Kälte herrschen. Quantenzu-
stände sind flüchtig. Sie lassen sich nur
erhalten, wenn sie strikt von der Umwelt
isoliert sind. Sonst werden sie von der
Nicht-Quantenwelt beeinflusst und wer-
den „klassisch“, verlieren also ihren Quan-
tencharakter. Dann kommt es zu Rechen-
fehlern. Frank Wilhelm-Mauch, Professor
für Theoretische Physik an der Universität
des Saarlandes, sagt: „Die Fehlerrate ist
über Googles gesamten Chip sehr gering.
Eine grandiose Ingenieurleistung.“

Sind die Quantenprozessoren ausge-
reift, sollen sie dank ihrer ungeheuren Leis-
tung etwa die Struktur von Molekülen be-
rechnen oder den Verlauf von Aktienmärk-
ten detailliert prognostizieren. Manche IT-
Experten fürchten, Geheimdienste könn-
ten damit auch die beste Verschlüsselung
knacken. Google stellt vage bessere Arznei-
mittel, Batterien und Energienutzung in
Aussicht, zu deren Entwicklung die For-
schung irgendwann beitragen könnte.
Noch sind das theoretische Szenarien.
Was der Sycamore-Chip durchrechnete,
war zwar höchst kompliziert, aber keine
Rechenaufgabe mit einem nutzbaren Er-
gebnis. Eher eine Demonstration von Re-
chenkraft als die Lösung für ein drängen-
des Problem. Die Frage ist, ob Googles
Quantenrechner mehr ist als ein Spielzeug
für Forscher, und tatsächlich den Weg zu
praktischen Anwendungen weist, die die
Welt verändern. Wilhelm-Mauch erklärt,
wie weit die praktische Umsetzung noch
entfernt ist: „Wenn die Fehlerrate der
Chips etwa um den Faktor 5 reduziert wird
und die Zahl der Qubits etwa verfünffacht,
dann könnten so Berechnungen in theoreti-
scher Chemie möglich sein.“
Schon im September war Googles Pa-
pier zu seiner Forschung – wohl unabsicht-
lich – auf einer Webseite der Nasa veröf-
fentlicht worden. Danach gab es Streit
darüber, ob Googles mathematisches Pro-
blem wirklich so schwer zu lösen war, wie
der Konzern behauptet. IBM, ein Konkur-
rent auf dem Gebiet der Quantencompu-
ter, hatte Googles Behauptungen als „Hy-
pe“ kritisiert. Um die Aufgabe aus dem
Experiment zu lösen, brauche ein aktuel-
ler Supercomputer nicht 10 000 Jahre, wie
von Google behauptet, sondern nur zwei-
einhalb Tage. Google habe die Fähigkeiten
moderner Supercomputer nicht voll ausge-
nutzt. Das Schlagwort „Überlegenheit“ (su-
premacy) werde nur falsch verstanden wer-
den, wie es zuvor schon vielen Begriffen
aus dem Bereich der künstlichen Intelli-
genz ergangen sei. John Martinis, Forscher
in Googles Quanten-Team, sagt nun: Er
werde Daten und Programmcode des Expe-
riments öffentlich machen, dann könnten
sich die Kollegen von IBM selbst von dem
Durchbruch überzeugen.
Die Megamaschinen haben noch viele
Experimente vor sich, bevor sie Handys si-
cherer machen oder blitzschnell Verkehrs-
flüsse an Flughäfen berechnen können. So
lange gilt das Zitat, das vom Physiker Ri-
chard Feynman in Anspielung auf die zwei
paradoxen Zustände von Schrödingers Kat-
ze überliefert ist: „Wenn du denkst, du ver-
stehst die Quantenmechanik, verstehst du
die Quantenmechanik nicht.“

2 HF3 (^) THEMA DES TAGES Donnerstag, 24.Oktober 2019, Nr. 246 DEFGH
Google-Chef Sundar Pichai (Mitte) mit der neuen Maschine und einem Techniker im kalifornischen Santa Barbara. FOTO: GOOGLE
Der Konkurrent IBM
hat dieAufmerksamkeit
als „Hype“ kritisiert
Eiskalt
durchgerechnet
Googles Maschine übertrifft klar bisherige Supercomputer.
Bis zu praktischen Anwendungen aber ist der Weg noch weit
Geheimdienste könnten so
die besten Verschlüsselungen
knacken, warnen Experten
Als erster funktionierender
Digitalrechner gilt die Z
des Berliners Konrad Zuse
HochleistungscomputerSeit Jahrzehnten suchen Forscher nach immer neuen Wegen, um schnelle Rechner noch schneller zu machen.
Nun hat Google einen Durchbruch gemeldet: Der Quantencomputer des US-Konzerns soll alle bisherigen Geräte
in den Schatten stellen. Was steckt hinter der Entwicklung – und welche Auswirkungen könnte sie haben?
Wie Computer immer schneller wurden
Die Rechenleistung des jeweils schnellsten
Supercomputers, angegeben in Billiarden
Rechenoperationen pro Sekunde (Petaflops).
Ein Petaflops = 1 000 000 000 000 000 Flops
30
0
60
90
120
150
2010 2019
148,
1,8 SZ-Grafik; Quelle: Top
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Die erstenRechner wurden schon in den 1820er-Jahren entworfen, nach 1960 war der Fortschritt dann rasant
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