Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
Wenn Steffen Seibert an diesem Donners-
tag zurMorgenlage im Kanzleramt er-
scheint, bringt er seine Pressemappe mit
und einen neuen Rekord. 3362 Tage ist es
her, dass der heute 59-Jährige am 10. Au-
gust 2010 seine Ernennungsurkunde er-
hielt. Seibert ist jetzt der am längsten
amtierende Regierungssprecher in der
Geschichte der Bundesrepublik und über-
holt Felix von Eckardt – genau genom-
men schon zum zweiten Mal, denn der en-
ge Vertraute Konrad Adenauers kratzte
seine 3361 Tage zwischen 1952 und 1962
in zwei Etappen zusammen.
Seibert hat den Rekord in einem
Rutsch aufgestellt. In Anbetracht des Pen-
sums seiner Chefin muss man den vielen
Tagen eigentlich noch einige durchwach-
te Nächte hinzurechnen, die er mit Angela
Merkel vor allem auf EU-Gipfeln durch-
litt. Zwar war der gebürtige Münchner
schon beim ZDF Experte für lange Stre-
cken: Für seine sechsstündige Moderati-
on nach den Terroranschlägen des 11. Sep-
tember 2001 erhielt er die Goldene Kame-
ra. Doch Brüsseler Marathonsitzungen
führten anfangs selbst bei ihm dazu, dass
er danach mehr mit den Augenlidern als
mit den Journalistenfragen kämpfte.
Es gibt bemerkenswerte Gemeinsam-
keiten zwischen altem und neuem Rekord-
halter, sieht man davon ab, dass Seibert
niemals einer ausladenden Eleganz mit
karierten Westen über seidenen Hemden
frönen würde, wie es Felix von Eckardt
tat. Dem mit einer Künstlerin verheirate-
ten Vater von drei Kindern fiele auch nicht
ein, Journalisten in sein Privathaus einzu-
laden, wie es in Adenauers Bonn durchaus
üblich war. Doch wie Seibert war der 1979
verstorbene Eckardt Journalist, mehr-
sprachig, parteilos und interessiert an in-

ternationaler Politik. Seine Bewerbung
als Regierungssprecher begründete er
Adenauer so: „Weil ich ein interessantes
Leben führen will.“ Das muss auch für Sei-
bert ein Motiv gewesen sein, trotz Fern-
sehkarriere mal was Neues zu machen.
Wie ein Symbol für seine anhaltende Be-
geisterung aktualisiert er bis heute im Bü-
ro eine Weltkarte, in der Nadeln die Ziele
der Reisen mit der Kanzlerin markieren.
Eckardt musste Adenauer noch das We-
sen freier Presse erklären. Bei schlechter
Berichterstattung forderte der Kanzler, er
solle dafür sorgen, dass das aufhört. „Sie
sind doch der Chef.“ Von solchem Begehr

blieb Seibert verschont, nach fünf Jahren
als Kanzlerin war Merkels Fell bei seinem
Amtsantritt schon dick genug. Wenn er
heute überhaupt auf Artikel reagiert, was
selten vorkommt, formuliert er den Text
einer SMS allenfalls als eine Art ergänzen-
de Information oder Diskussionsbeitrag.
Es entspricht zwar ohnehin dem We-
sen der Kanzlerin, enge Mitarbeiter mög-
lichst lange an sich zu binden. Trotzdem
kann sich Seibert auf die Dauer seiner
Amtszeit etwas einbilden: Der Sprecher
ist unter Merkels engsten Vertrauten der
einzige, der sich regelmäßig sowohl vor
seiner Chefin wie vor den Journalisten be-
währen muss und so in der Regel eher ent-
gegengesetzten Erwartungen zwischen
Schweigen und Reden ausgesetzt ist.
Den Rollenwechsel vom ehemaligen
ZDF-Journalisten zum Regierungsspre-
cher hat Seibert gründlich vollzogen. Sei-
ne unbedingte Loyalität gehört der Kanz-
lerin. Ihre Politik erklärt er entlang Struk-
tur und Intention, bisweilen fast pedan-
tisch formell. Für Machtfragen und Men-
schelndes ist er selten der richtige An-
sprechpartner. Seibert ist zuverlässig und
uneitel, sehr geduldig und stets von ehr-
lich wirkender Freundlichkeit. Er hat sich
unter den Berliner Journalisten Respekt
erworben – wäre es mehr, würde es wohl
seinem eigenen Begriff vom Umgang zwi-
schen Medien und Politik zuwiderlaufen.
Dass Seiberts Rekord durch Merkel be-
sondere Würdigung erfährt, ist unwahr-
scheinlich. Im Kabinett am Mittwoch, als
er mit Eckardt gleichzog, sagte sie nichts.
In der Regierungspressekonferenz muss-
te sich Seibert durch viele Fragen zum Ver-
hältnis von Kanzlerin und Verteidigungs-
ministerin lavieren. Das Thema wird wohl
wieder eine längere Strecke. nico fried

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VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
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von bastian brinkmann

M


ario Draghi ist das Gesicht der
Negativzinsen: An diesem Don-
nerstag erklärt er zum letzten
Mal der Öffentlichkeit, was der Rat der
Europäischen Zentralbank beschlossen
hat. Acht Jahre war Draghi im Amt, An-
fang November übernimmt Christine La-
garde als Präsidentin. Draghi wurde für
die Geldpolitik der EZB persönlich heftig
kritisiert: Noch nie habe ein Notenbanker
die Sparer so sehr gequält wie er. Die Kri-
tik war oft unfair und untergräbt das Ver-
trauen in eine zentrale Institution, dies
hat zu Recht Isabel Schnabel angemahnt,
die nun von der Bundesregierung als
neue EZB-Direktorin vorgeschlagen
wird. Schnabel ist eine gute Wahl, sie gilt
wie Lagarde als kommunikationsstark,
Draghis Stärke war das nicht. Dennoch:
Seine großen Linien waren richtig. Er ver-
dient es, gegen die größten Kritikpunkte
in Schutz genommen zu werden.
Kritikpunkt eins: Draghi bestrafe die
Sparer. Jeder sieht es ja auf dem Spar-
buch, da bringt Geld keine Zinsen mehr.
Allerdings gab es in Draghis Amtszeit
auch eine geringe Inflation. Das wird oft
übersehen, wenn man sich zu optimis-
tisch an früher erinnert. In Zeiten hoher
Zinsen hatten viele Sparer effektiv häufig
weniger Geld zur Verfügung als unter Dra-
ghi, denn damals war auch die Inflation
höher. Dazu kommt: Wer heute langfris-
tig Geld anlegen will, kann das über die Fi-
nanzprodukte namens ETF so günstig
machen wie noch nie. Niemand ist ge-
zwungen, nicht benötigtes Geld jahrzehn-
telang in Tages- oder Festgeld zu parken.
Kritikpunkt zwei: Draghi habe Regie-
rungen vom Haken gelassen, die eigent-
lich Reformen hätten durchsetzen müs-
sen. Es stimmt, besonders in wirtschaft-
lich schlechten Zeiten werden Reformen
durchgesetzt. Aber im Umkehrschluss
würde das bedeuten, Wirtschaftskrisen

zu fordern und damit menschliches Leid
wie in Griechenland in Kauf zu nehmen.
Die EZB ist keine Brechstange, um eine
andere Wirtschaftspolitik zu erzwingen.
Kritikpunkt drei: Draghi habe die EZB
in eine Sackgasse manövriert. Ökono-
men trauen der EZB noch Spielraum zu.
Außerdem ist die langfristige Perspekti-
ve wichtig: Es wird viel gespart und we-
nig Kapital nachgefragt, daher sinkt der
Preis des Geldes, der Zins. Da kann die
EZB nichts dafür, sie muss hier dem
Markt folgen. Sogar der deutsche Staat
spart: Viele feiern die schwarze Null und
schimpfen über die niedrigen Zinsen, da-
bei bedingt sich beides. Die EZB wird die
Zinsen erst wieder steigen lassen kön-
nen, wenn der Staat mehr investiert.

Kritikpunkt vier: Draghi betreibe eine
Umverteilung von unten nach oben. Wer
nur darauf schaut, dass ein Superreicher
dank eines billigen Kredits eine weitere
Loftwohnung in der Innenstadt kaufen
kann, der übersieht: Die Geldpolitik hat
viele Arbeitsplätze gerettet.
Kritikpunkt fünf: Draghi habe verbote-
nerweise Staatsanleihen gekauft. Dabei
wurde die Praxis von allen Gerichten be-
stätigt und ist auch kein Tabubruch. Die
Bundesbank kaufte in den Siebzigern für
mehrere Milliarden Mark Anleihen auf.
Die Geldpolitik wird richtigerweise
noch länger locker bleiben, auch wenn
das vielen Deutschen nicht gefallen wird.
Die Inflation ist zu niedrig, Handelsstrei-
tigkeiten bedrohen Europas Wohlstand.
In der Euro-Zone liegt das Bruttoinlands-
produkt pro Kopf immer noch niedriger
als vor der Finanzkrise. Das ist nicht im
deutschen Interesse – und Mario Draghi
hatte es im Blick.

von cathrin kahlweit

E


ine der Lieblingsformulierungen
britischer Politiker lautet: „Let me
be absolutely clear“. Aber wenige Ta-
ge nach der Einigung auf einen Brexit-Ver-
trag in Brüssel ist absolut nichts klar.
Zwar dürften sich die EU-27 nach einigem
Hin und Her letztlich auf eine Verlänge-
rung des Austrittsverfahrens bis zum
31.Januar einigen, nachdem am Dienstag-
abend der Zeitplan der Regierung vom Un-
terhaus gekippt worden war. Aber wie es
in London weitergeht, das ist so undurch-
sichtig wie der legendäre, feuchte Herbst-
nebel über der Themse.
Ein Treffen zwischen dem Tory-Premi-
er und dem Oppositionschef am Mittwoch-
vormittag brachte keine Annäherung in
dem Streit, ob der Ratifizierungsprozess
im Unterhaus fortgesetzt werden soll. Die
Fragestunde des Premiers am Mittag gab
hingegen einen Hinweis. Sie war ein
Schlagabtausch, wie er sonst vor allem in
Wahlkampfzeiten stattfindet: Johnson
zählte teure Versprechen für die Zukunft
auf, Jeremy Corbyn hielt ihm Versäumnis-
se und Lügen in der Vergangenheit vor.
Die schottische Ministerpräsidentin
und ihr Kollege aus Wales wetterten zum
gleichen Zeitpunkt wenige Hundert Meter
entfernt auf einer Pressekonferenz gegen
den Deal und forderten Neuwahlen. Auch
Johnson hatte das immer wieder gefor-
dert, von Labour aber aus taktischen Grün-
den keine Zustimmung bekommen. Das
dürfte sich demnächst ändern.
Noch spielt die Regierung Schwarzer Pe-
ter. Sie will keine ausführliche Behand-
lung des Austrittsvertrags im Unterhaus
zulassen. Stattdessen behauptet Johnson,
er warte auf eine Reaktion aus Brüssel –
und sondiert derweil die Stimmung im
Land und in seiner Partei. Die Wahlkampf-
Schatullen sind, wie man hört, gut gefüllt;
Brexit-freundliche Unternehmer aus dem
In- und Ausland warteten – so wird in

Downing Street kolportiert – nur darauf,
ihr schönes Geld erst in einen konservati-
ven Wahlsieg und dann in ein Freihandels-
Königreich zu investieren.
Die Tories rechnen sich daher die bes-
ten Chancen aus, wenn sie mit folgender
Botschaft losmarschieren: Wir hatten ei-
nen Deal, wir können ihn immer noch ab-
liefern, die Brexit-Gegner haben uns aber
daran gehindert. Nun brauchen wir eine
schöne Mehrheit, um uns dann endlich an-
deren Fragen zuzuwenden. Labour hat
dem vorerst wenig entgegenzusetzen.

Die Brexit-Partei von Nigel Farage dürf-
te zwar in die nächsten Wahlen mit dem
Vorwurf ziehen, Johnson habe viel ver-
sprochen, aber letztlich nicht geliefert.
Aber der Spin aus der Downing Street ver-
fängt bei den meisten Medien, und die
transportieren ihn ins Land: Das Remai-
ner-Parlament sei schuld, Ex-Tories hät-
ten den Brexit „vereitelt“, das Unterhaus
habe einen „neuen Anschlag“ auf die Frei-
heit verübt, die Einwanderungspolitik
von Labour habe den Samen für die Brexit-
Sehnsucht gelegt. Johnson, so die Bot-
schaft, hat alles versucht. Nun braucht er
mehr Macht und endlich eine Pro-Brexit-
Mehrheit im Parlament.
Die kommenden Wochen dürften mehr
plumpe Slogans wie „Let’s get Brexit do-
ne“ und kaum inhaltliche Debatten brin-
gen. Das ist in Vorwahlkampf- und Wahl-
kampfzeiten so. Das war aber auch schon
in den vergangenen Monaten so, die auf-
grund des fragilen Machtgefüges im Un-
terhaus und einer Regierung ohne klare ei-
gene Mehrheit in einer Art Dauerwahl-
kampf mündeten. Der Brexit vergiftet das
Land schon seit mehr als drei Jahren. Es
wird noch schlimmer werden.

I


m vergangenen Wahlkampf sprachen
die Parteien beim Thema Gesundheit
vor allem über den Unterschied zwi-
schen Privatversicherten und Kassenpati-
enten. Damals ging es um die Ungerechtig-
keiten des Alltags, um ungleiche Wartezei-
ten beim Arzt oder auf Klinikbetten. Jetzt
ist diese Gerechtigkeitsfrage zurück, aber
mit einer viel größeren sozialen Bedeu-
tung: Es geht um das Leben im Alter.
Die meisten Menschen werden irgend-
wann pflegebedürftig, und meist wird es
teuer. Schon jetzt kostet ein Zimmer im
Pflegeheim etwa 2000 Euro im Monat,
Tendenz steigend. Viele Betroffene ver-
kaufen dafür erst Haus und Auto und ge-
hen anschließend zum Sozialamt. Denn


anders als die Krankenversicherung zahlt
die Pflegekasse nur einen Teil der Kosten.
Die Versorgung im Alter wird so zu einer
Frage des Geldes. Das ist nicht gerecht.
So fordert die SPD jetzt wieder eine Bür-
gerversicherung, diesmal für die Pflege.
Privatversicherungen werben dagegen
für Zusatzpolicen, am besten staatlich be-
zuschusst. Doch dieses Mal ist keine Zeit,
diesen Streit in eine Kommission auszula-
gern und auf eine Zukunft nach der nächs-
ten Wahl zu verschieben. Die Bundesregie-
rung muss das System jetzt nachhaltig re-
formieren und steigende Kosten auf viele
Schultern verteilen. Sonst trifft es am En-
de diejenigen am härtesten, die am we-
nigsten haben. kristiana ludwig

D


onald Trumps Verteidigung in der
Ukraine-Affäre ist in sich zusam-
mengebrochen. Vor dem Kongress
hat der geschäftsführende US-Botschaf-
ter in Kiew, William Taylor, ausgesagt,
dass der Präsident Druck auf seinen ukrai-
nischen Kollegen Wolodimir Selenskij aus-
übte. Trump forderte demnach von der
Ukraine nicht nur, Ermittlungen gegen
Joe Biden anzukündigen – sondern mach-
te davon sowohl einen Besuch Selenskijs
im Weißen Haus als auch die Zahlung von
Militärhilfe abhängig.
All dies hatte Trump stets bestritten, in-
dem er sagte, er habe keine Gegenleistung
verlangt, kein „Quid pro quo“. Er wird das
weiter tun. Doch Taylor ist ein glaubwürdi-


ger Zeuge; das Bild, das er zeichnet, ist ver-
nichtend: Es zeigt einen Präsidenten, der
die Macht seines Amtes dazu missbraucht
hat, sich einen persönlichen politischen
Vorteil zu verschaffen. Die Anklage zur
Amtsenthebung durch das Repräsentan-
tenhaus scheint spätestens jetzt sicher.
Die Republikaner sind denn auch da-
von abgerückt, Trump in der Sache zu ver-
teidigen. Wie auch? Stattdessen beklagen
sie, dass die Demokraten ihre Ermittlun-
gen hinter verschlossenen Türen durch-
führen. Damit haben sie einen Punkt. Die
Opposition sollte ihre Untersuchung nun
so transparent wie möglich machen – um
Trumps Verbündeten auch diese Ausrede
zu nehmen. alan cassidy

G


rund zur Freude ist in Deutschland
die Nachricht, dass ein Quanten-
computer den schnellsten her-
kömmlichen Superrechner abhängen
kann. Denn neben Google und etlichen
amerikanischen Eliteinstituten zählen
auch die Universität Erlangen-Nürnberg,
das Forschungszentrum Jülich und die
RWTH Aachen zu den Urhebern des
Durchbruchs. Das zeigt, dass deutsche
Quantenforscher zur Weltspitze zählen, in
einem Bereich also, der in den nächsten
Jahrzehnten prägend für die Informati-
onstechnik werden dürfte.
Doch was für einzelne Forscher gilt,
trifft noch nicht auf die Forschungsland-
schaft zu, und schon gar nicht auf die Um-


setzung solcher Grundlagenforschung in
Anwendungen, Arbeitsplätze, Unterneh-
men. Hier hinken Deutschland und das üb-
rige Europa der Konkurrenz aus den USA


  • und zunehmend auch China – weit hin-
    terher.
    Die Bundesregierung fördert Quanten-
    technologien in dieser Legislaturperiode
    mit 650 Millionen Euro. Das meiste davon
    ist jedoch für die Grundausstattung einzel-
    ner Institute vorgesehen. Nur etwa ein ein-
    stelliger Millionenbetrag fließt voraus-
    sichtlich in die Erforschung von Quanten-
    computern selbst, etwa Hardware oder Al-
    gorithmen. Es ist höchste Zeit für eine ge-
    samteuropäische Strategie in der Quanten-
    technik. christoph von eichhorn


H


istorisch nennt der türkische
Staatschef Recep Tayyip Er-
doğan die Vereinbarung, die
Russlands Präsident Wladi-
mir Putin ausgehandelt hat.
Er will das Treffen in Sotschi zu Hause als
Sieg verkaufen. Die zehn Punkte umfas-
sende Absichtserklärung liest sich nicht
wie ein bedeutendes Abkommen; es re-
gelt eine Waffenruhe und gemeinsame Pa-
trouillen in Nordsyrien. Dennoch ist es
wahrscheinlich, dass der 22. Oktober 2019
einmal als der Tag gelten wird, an dem die
Hauptphase des Bürgerkriegs in Syrien
dem Ende zuging und die Nachkriegsord-
nung an der Levante vorgezeichnet wurde.
Erdoğan hat de facto die Herrschaft
von Präsident Baschar al-Assad über Syri-
en anerkannt, den er jahrelang mit fast je-
dem Mittel zu stürzen versuchte. Er akzep-
tiert, dass die syrische Armee die Kontrol-
le über die Grenze zur Türkei übernimmt.
Zugleich hat sich Erdoğan der territoria-
len Integrität Syriens verpflichtet. Die Er-
oberungen der türkischen Truppen in Sy-
rien werden also im Zuge einer von Putin
vermittelten politischen Beilegung des
Konflikts an Assad zurückgehen, nicht
nur die Gebiete zwischen Tel Abjad und
Ras al-Ain, in die türkische Truppen
jüngst einmarschiert sind, sondern auch
Afrin und al-Bab weiter im Westen.


Es bleibt dann noch Idlib, die letzte
Hochburg der Rebellen, militärisch über-
wiegend kontrolliert von radikalen Isla-
misten und Dschihadisten. Assads Front-
besuch zeitgleich zum Gipfel lässt erah-
nen, wie das Regime gedenkt, dieses Pro-
blem zu lösen – ungeachtet der Tatsache,
dass in dem Gebiet drei Millionen Zivilis-
ten leben, die Hälfte von ihnen bereits aus
anderen Teilen Syriens vertrieben.
Erdoğan hat nicht viel mehr erreicht,
als er schon den USA abgehandelt hatte.
Keine Rede ist mehr davon, dass die Tür-
kei einen Streifen von 440 Kilometer Brei-
te und 30 Kilometer Tiefe auf syrischem
Boden einnimmt. Bekommen hat er indi-
rekt das Anerkenntnis Putins und des As-
sad-Regimes, die kurdischen YPG-Mili-
zen als Terroristen zu behandeln, und die
Zusage, dass die Türkei künftig 15 Kilome-
ter weit auf syrischem Boden gegen die-
sen Ableger der PKK vorgehen kann.
Die eigentlichen Gewinner von Sotschi
sind Russland und das Assad-Regime. Pu-
tin bringt zu Ende, was er mit der Militär-
intervention 2015 begonnen und politisch
durch den Astana-Prozess mit der Türkei
und Iran flankiert hat: Er hat Russland


wieder als unumgänglichen Machtfaktor
im Nahen Osten etabliert. Den sunniti-
schen Golfstaaten, den Europäern und
vor allem den USA hat er die Grenzen ihrer
Macht aufgezeigt. Er bindet die Türkei an
sich, treibt die Spaltung der Nato voran.
Assad wird kleinere Zugeständnisse
machen müssen bei der vom Kreml betrie-
benen Verfassungsreform. Er ist für Mos-
kau nicht unersetzlich, aber er wird auf ab-
sehbare Zeit an der Macht bleiben. Damit
schafft sich Putin am Mittelmeer einen Va-
sallenstaat, in dem allenfalls noch Iran als
Konkurrent auftreten kann.
Geschuldet ist das nicht etwa neuer rus-
sischer Stärke. Putin hat seine begrenzten
Ressourcen clever eingesetzt, er kann die
USA weder wirtschaftlich noch militä-
risch überflügeln. Herbeigeführt hat die-
se grundlegende Neuordnung der Macht-
verhältnisse im Nahen Osten ein ignoran-
ter, erratisch handelnder und überforder-
ter US-Präsident. Der vermeintlich größte
Dealmaker aller Zeiten hat seine Karten
auf den Tisch geworfen, ohne sich nur die
geringste Gegenleistung zu sichern.
Die US-Truppen in Syrien und die Tat-
sache, dass die Kurden ein Drittel des Lan-
des samt den Ölfeldern kontrollierten, wa-
ren Amerikas Hebel, um bei der Nach-
kriegsordnung in Syrien mitzureden. Eu-
ropa hätte die von Russland geforderte Hil-
fe zum Wiederaufbau beisteuern können.
Das hätte gereicht, um den Kurden Auto-
nomie zu sichern, um Irans Einfluss am
Mittelmeer zu begrenzen, womöglich so-
gar Assads Herrschaft. All das hat Trump
im Telefonat mit Erdoğan verschenkt.
Im Nahen Osten hat nun wirklich jeder
verstanden, wie wenig Verlass auf die USA
unter Trump ist. Der zarengleiche Emp-
fang für Putin in Saudi-Arabien und den
Vereinigten Arabischen Emiraten spricht
Bände. Israel, Amerikas engster Verbünde-
ter in der Region, verhandelt seine Sicher-
heitsinteressen in Syrien längst mit dem
Kreml. Und auch Ägypten fährt seit Jah-
ren zweigleisig. Neben Russland stößt Chi-
na in das Vakuum. Die Europäer dagegen,
für die der Nahe Osten und Nordafrika un-
mittelbare Nachbarschaft sind, stehen da-
neben wie der Ritter von der traurigen Ge-
stalt: tatenlos, ideenlos, machtlos.
Bundesverteidigungsministerin Anne-
gret Kramp-Karrenbauer wollte mit dem
Vorstoß für eine Sicherheitszone in Nord-
syrien einen dringend nötigen Kontra-
punkt setzen. Das ist gründlich misslun-
gen. Sie offenbart vielmehr, in welch er-
bärmlichem Zustand die deutsche und eu-
ropäische Außen- und Sicherheitspolitik
sind, trotz allem Gerede von strategischer
Autonomie. Niemand muss sich da wun-
dern, wenn Europa und auch Deutschland
in einer für sie eminent wichtigen Region
kaum mehr ernst genommen werden.

Nach dem antisemitischen
Anschlag in Halle vor zwei
Wochen verlangte der Jüdi-
sche Weltkongress (WJC) bes-
seren Schutz für jüdische
Einrichtungen in Deutschland. Es seien
nun „Taten statt Worte“ nötig, sagte der
Vorsitzende Ronald Lauder. Der WJC, der
die jüdischen Gemeinden in der Diaspora
vertritt, hat nun eine neue Antisemitis-
musstudie veröffentlicht. Die Organisati-
on mit Sitz in New York wurde 1936 in der
Schweiz gegründet, um der existenziel-
len Bedrohung durch das Naziregime zu
begegnen. Der Talmudspruch „Alle Ju-
den sind füreinander verantwortlich“ gilt
dem WJC bis heute als Leitbild. Die Be-
kämpfung von Antisemitismus gehört zu
den Hauptaufgaben des WJC. Ihm sind
Dachverbände in fast 100 Ländern ange-
schlossen, darunter der Zentralrat der Ju-
den in Deutschland. Nach dem Zweiten
Weltkrieg unterstützte der WJC Juden
bei der Auswanderung nach Israel. Der
langjährige WJC-Präsident Nahum Gold-
mann engagierte sich bis zu seinem Tod
1982 für eine Politik des Ausgleichs zwi-
schen Israel und den arabischen Nach-
barn. In den Achtzigerjahren erlangte der
WJC internationale Bekanntheit, als er
den österreichischen Präsidentschafts-
kandidaten Kurt Waldheim mit seiner NS-
Vergangenheit konfrontierte. Waldheim
hatte seine Offizierstätigkeit in der Wehr-
macht verschwiegen. dura

4 HF2 (^) MEINUNG Donnerstag, 24.Oktober 2019, Nr. 246 DEFGH
EUROPÄISCHE ZENTRALBANK
Danke, Herr Draghi
Die Geldpolitik wird noch
länger locker bleiben, auch
wenn das vielen nicht gefällt
FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA
BREXIT
Gift und Nebel
PFLEGEVERSICHERUNG
Keine Zeit für Streit
UKRAINE-AFFÄRE
Vernichtendes Bild
QUANTENCOMPUTER
Langsames Europa
Kommtin meine Arme sz-zeichnung: wolfgang horsch
SYRIEN
Von Putins Gnaden
von paul-anton krüger
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Seibert
Rekordhalter
und Merkels
getreuer Eckardt
Die kommenden Wochen
dürften noch mehr
plumpe Slogans bringen
Russland schafft sich einen
Vasallenstaat. Und Europa sieht
zu – tatenlos, ideenlos, machtlos

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