Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
von florian fuchs
und claudia henzler

Augsburg– AlsMarkus Baumann kürz-
lich im Wirtschaftsausschuss des Augsbur-
ger Stadtrats saß, um über den Stand des
Ausbauprojekts der Bahnstrecke zwischen
Augsburg und Ulm zu berichten, schickte
er seinem Vortrag vorsichtshalber eine klei-
ne Erklärung voraus: Ihm sei schon be-
wusst, dass Augsburg größer sei als Ulm,
„weitaus größer“, sagte der Projektleiter
der Bahn. Der Ausbau laufe aber trotzdem
unter dem Titel „Ulm – Augsburg“ und
nicht „Augsburg – Ulm“, weil die Strecke
Stuttgart – Ulm ja schon im Bau und der Ab-
schnitt nach Augsburg davon quasi die Ver-
längerung sei. Er wolle das nur mitteilen,
sagte Baumann und hob entschuldigend
die Schultern: „Ich bin schon öfter darauf
angesprochen worden.“
Die Befindlichkeiten sind groß bei dem
schon lange diskutierten Bahnausbau –
und wenn es nur darum geht, welche Stadt
zuerst genannt wird. Landkreise, Städte,
Fahrgastverbände, alle haben andere Wün-
sche, was den künftigen Streckenverlauf
anbelangt. Dabei geht es bei dem Projekt
nicht nur darum, Pendler zwischen Augs-
burg und Ulm schneller zu befördern, es
geht auch darum, die sogenannte Magistra-
le für Europa, die Verbindung zwischen Pa-
ris und Budapest flotter zu machen – und
so laut Bahn 35 Millionen Menschen ange-
messen zu vernetzen.
Zudem will die Bahn eine Zielfahrzeit
von 3:49 Stunden zwischen Köln und Mün-
chen schaffen, was nach jetzigem Stand,
bei dem sich Nahverkehr und Fernverkehr
zwei Gleise teilen, unmöglich ist. Es nützt
nicht viel, wenn das Teilstück zwischen
Stuttgart und Ulm in den nächsten Jahren
fertig ausgebaut ist, die Züge dann aber
hinter Ulm wieder ausgebremst werden.
Deshalb starten die Arbeiten nun so rich-
tig, gerade finden die ersten Vermessungs-
arbeiten statt. Das Problem ist: Allein alle
Streckenvarianten zu prüfen und schließ-
lich eine zu favorisieren, dauert nun erst
einmal bis zum Jahr 2025.
Baumann und seine Mitarbeiter haben
gerade frisch Büros in Augsburg bezogen.
Von Anfang 2020 an werden in der Bahn-
hofstraße acht Leute sitzen, die das Projekt
beaufsichtigen und externe Firmen len-
ken. Baumann hatte schon bis jetzt aller-
hand zu tun, auch um möglichst alle Betei-
ligten mit einzubeziehen: Er tourt bereits
lange durch Stadträte und Gemeinderäte,
spricht mit Fahrgastverbänden und Land-
räten. Mehr als 160 Jahre alt ist die 85 Kilo-
meter lange Strecke zwischen Augsburg
und Ulm, jetzt, wo endlich grundsätzlich et-
was verändert wird, wollen alle das Maxi-
mum für sich herausholen.
Die Landkreise und kleineren Orte an
der Strecke legen Wert auf neuen Lärm-
schutz, barrierefreie Bahnsteige und einen
zuverlässigeren sowie höher getakteten
Nahverkehr. Sie favorisieren deshalb eher
zusätzliche Gleise an der bestehenden Stre-
cke, weil dann die anderen Neuerungen


leichter durchzusetzen sind. Augsburgs
Wirtschaftsreferentin sind die Pendler
ebenfalls ein Anliegen, sie will es aber auch
„nicht noch einmal erleben, dass wir im
Fernverkehr abgehängt werden“, und
spielt damit auf den Ausbau der Nord-Süd-
Verbindung der Bahn über Ingolstadt an,
als Augsburg vor Jahren leer ausging.

„Man wird nicht alle Wünsche befriedi-
gen können“, sagt Markus Baumann. Aber
er will eine Trasse finden, die „mit mög-
lichst wenig Betroffenheiten auskommt“
für Natur und Mensch und möglichst viele
Anliegen berücksichtigt. Deshalb prüfen
sie ja so viele Varianten, deshalb dauert die
Planung fünf Jahre. Für Baumann ist dabei
vor allem eines wichtig, denn das ist sein
Auftrag: Züge sollen zwischen Augsburg
und Ulm künftig 27 Minuten fahren, nicht
wie bisher 38 bis 43 Minuten. Nur so kann
der sogenannte Deutschlandtakt eingehal-
ten werden, der im gesamten Netz der deut-
schen Bahn sicherstellen soll, dass Fahrgäs-
te an Knotenpunkten problemlos umstei-
gen können. Ob deshalb nun an der beste-
henden Strecke ausgebaut wird oder eine
neuen Fernverkehrsverbindung an der A 8

entlang entsteht, da will sich Baumann
nicht festlegen. „Wir werden alle Möglich-
keiten anschauen.“ Um den Nahverkehr
und den Fernverkehr zu verbessern, so viel
kann Baumann schon sagen, wird es am
Ende wohl vier Gleise brauchen. Egal, ob
die nun alle an der Bestandsstrecke, etwa
zwischen Augsburg und Dinkelscherben,
oder getrennt auf verschiedenen Trassen
verlaufen. Das zeigen die Erfahrungen des
Ausbaus zwischen München und Augs-
burg und Stuttgart und Ulm.
Dort, in Baden-Württemberg, werden
Züge auf der neuen Strecke zwischen Stutt-
gart und Ulm künftig auch bis zu 250 Kilo-
meter pro Stunde schnell fahren können.
Auf der alten Trasse sind nur Höchstge-
schwindigkeiten zwischen 70 und 160 mög-
lich. 54 Minuten braucht ein Fernverkehrs-
zug heutzutage von Ulm nach Stuttgart.
Nach dem Ausbau sollen es nur noch
knapp 30 Minuten sein – auch das ist wich-
tig für den Deutschlandtakt. Auf der Neu-
baustrecke werden schon die ersten Gleise
verlegt, die Beschleunigung kommt aber
schrittweise und beginnt frühestens in
drei Jahren mit dem Fahrplanwechsel En-
de 2022. Dann wird sich die Fahrzeit laut
Bahn zunächst um zehn bis fünfzehn Minu-
ten verkürzen.
Denn der Ausbau zwischen Ulm und
Stuttgart ist in zwei Abschnitte unterteilt:
Zum einen ist da die Neubaustrecke über
die Schwäbische Alb, die gut im Zeitplan
liegt, zum anderen das Projekt Stutt-
gart21, bei dem es nicht nur um einen Tief-
bahnhof geht, sondern auch um eine neue
Bahntrasse zwischen der Schwäbischen
Alb und der Landeshauptstadt. Bei Stutt-
gart 21 hakt es nach wie vor gewaltig, für
die Strecke am Flughafen vorbei gibt es
noch nicht einmal eine rechtsgültige Pla-
nung. Offiziell geht die Bahn derzeit von ei-
ner Inbetriebnahme Ende 2025 aus. Ob
das klappt, ist jedoch genauso offen wie
die Frage, wie weit der Kostenrahmen des
Milliardenprojekts bis dahin noch nach
oben korrigiert werden muss.
Für den Abschnitt zwischen Ulm und
Augsburg kalkuliert der Bundesverkehrs-
wegeplan momentan mit 2,1 Milliarden Eu-

ro. Projektleiter Baumann kann sich da
aber nicht festlegen: Kosten werden frühes-
tens absehbar, wenn eine Trasse geplant
ist. Das gilt auch für den Zeitrahmen: Wer
weiß, ob nicht allein Klagen gegen das Pro-
jekt den Bau verzögern werden? Fest steht,
wenn die Züge endlich schnell durch Ba-
den-Württemberg rauschen, wird in Bay-
ern erst die Trassenplanung beendet sein.
Überhaupt wird der Abschnitt zwischen
Augsburg und Ulm der letzte sein, der neu
überplant den Westen mit dem Osten ver-
bindet, alle anderen Teilstücke zwischen
Köln und München sowie Paris und Buda-
pest werden dann schon modernisiert
sein. „Wichtig ist, dass es jetzt schnell vor-
angeht. Es kommt auf jedes Jahr an“, for-
dert deshalb etwa der Sprecher des Fahr-
gastverbandes Pro Bahn, Winfried Karg.

Schneller gebaut wäre wohl eine komplett
neue Trasse. Baut man zudem in den Orten
die Bestandsstrecke aus, hätten die Städte
und die Gemeinden eine höhere Belas-
tung, nicht nur während der Bauzeit.
Laut Bahn können durch den Ausbau
zwischen Augsburg und Ulm 112 Millionen
Pkw-Kilometer und 17 Millionen LkW-Kilo-
meter pro Jahr eingespart werden. Das wä-
ren 23 000 Tonnen Kohlendioxid
(CO2)-Emissionen im Jahr weniger als bis-
lang. Augsburgs Wirtschaftsreferentin We-
ber sieht aber auch den wirtschaftlichen
Impuls für die Region. Das würde Schwa-
ben, sagt sie, einen großen Schub geben.
Weber sieht letztlich das große Bild: „Es
geht hier darum, wie die künftige Anbin-
dung Augsburgs an den Westen aussehen
wird.“

Grassau– Die Marktgemeinde Grassau im
Chiemgau hat erstmals einen Literatur-
preis ausgelobt, den „Grassauer Deichel-
bohrer“. Mit dem Namen des Preises spie-
len die Grassauer auf die hölzerne Rohrlei-
tung an, durch die im 19. Jahrhundert flüs-
sige Salzsole von Reichenhall bis zur Saline
in Rosenheim gepumpt wurde. Diese histo-
rische Pipeline bestand aus sogenannten
Deicheln, der Länge nach durchbohrten
und zusammengefügten Fichtenstäm-
men. Das Durchbohren der Deicheln war
ein anspruchsvolles Handwerk. Schreiben

verlangt zwar ein anderes Werkzeug, doch
in die Tiefe sollte es dabei schon auch ge-
hen. In Grassau sieht man deshalb den Dei-
chelbohrer als griffige Trophäe. Die Preis-
verleihung findet am Samstag, 26. Okto-
ber, in der Grassauer Villa des verstorbe-
nen Dirigenten Wolfgang Sawallisch statt
(19.30 Uhr). Am Tag zuvor lesen am glei-
chen Ort die acht Autoren der Shortlist aus
ihren Texten (19.30 Uhr). Anmeldung: agen-
[email protected].
Auch in Viechtach steht die Literatur an
diesem Freitag hoch im Kurs. Zum 10. Mal
findet in der Stadthalle die Viechtacher Li-
teraturrevue statt, die der Lichtung Verlag,
die Stadt Viechtach und das Bayerwaldfo-
rum gemeinsam organisieren. Ein buntes
Programm aus Literatur, Musik und Kaba-
rett gibt es von 20 Uhr an zu erleben. Zu
Gast sind Friedrich Brandl (Amberg), Lída
Rakušanová (Budweis), Wolfgang Sréter
(Passau) und der Kabarettist Jaromir Ko-
necny. Der Eintritt ist frei, es ist allerdings
erforderlich, sich in der Tourist-Informati-
on Viechtach (Tel. 09942/1661) eine der
Platzkarten zu reservieren. hak

München– Oft beginnt es mit einem harm-
losen Chat. Unverfängliche Nachrichten,
Komplimente, sexuelle Belästigung und ir-
gendwann die Forderung nach pornografi-
schen Bildern oder Videos. Immer mehr
Kinder und Jugendliche sind vom soge-
nannten Cyber-Grooming betroffen. Sexu-
alstraftäter geben sich im Internet als Ju-
gendliche aus und belästigen Minderjähri-
ge. Cyber-Grooming reicht von sexueller
Anmache durch Gleichaltrige bis hin zu


Übergriffen durch Erwachsene. Das Aus-
tauschen pornografischer Inhalte durch
Nachrichten oder Fotos, bis hin zu sexuel-
len Handlungen vor der Webcam zählen da-
zu. Der von der Kriminologischen For-
schungsgruppe im bayerischen Landeskri-
minalamt kürzlich veröffentlichte Jahres-
bericht „Kriminalität und Viktimisierung
junger Menschen in Bayern 2018“ befasst
sich mit den Gefahren des Internets für
Kinder und Jugendliche und schlüsselt die

Täter- und Opferzahlen der vergangenen
zehn Jahre nach verschiedenen Gruppen
und Delikten auf. Während bei den meis-
ten Vergehen über alle Altersgruppen hin-
weg eine rückläufige Tendenz zu beobach-
ten ist, stieg die Zahl der Minderjährigen,
die von Cyber-Grooming betroffen waren,
von 64 im Jahr 2010 auf 233 im Jahr 2018
an. Die Opfer sind überwiegend weiblich
und zwischen sechs und 13 Jahre alt. Mit
94 Prozent ist der Großteil der Tatverdäch-
tigen männlich. Auffällig ist, dass Jugendli-
che zwischen zehn und 20 Jahren am häu-
figsten als Tatverdächtige ermittelt wer-
den. Verglichen mit Fällen des sexuellen
Kindesmissbrauchs ist Cyber-Grooming
ein noch eher selten auftretendes Phäno-
men. Allerdings ist davon auszugehen,
dass die Dunkelziffer der im Internet sexu-
ell belästigten Kinder und Jugendlichen
deutlich höher ist.
Um im Notfall reagieren zu können, ist
es wichtig, Kinder im Umgang mit digita-
len Medien zu sensibilisieren. Kommunika-
tion über Social Media gehört für sie zum
Alltag und ist für die soziale Entwicklung
von großer Bedeutung. Auch der Aus-
tausch über Sexualität trägt zur sexuellen
Orientierung- und Identitätsfindung bei.
Sollten hierbei aber Grenzen überschritten
werden, ist es wichtig, sich Hilfe zu suchen.
Eltern und Lehrer sind oft die ersten An-
sprechpartner. Aber auch die kostenlose
App „Cyber-Mobbing Erste-Hilfe“ mit Hil-
fe-Videos, rechtlichen Tipps und Kontakt-
daten für Beratungsstellen, der Kika-Kum-
merkasten und die „Nummer gegen Kum-
mer“ können helfen. alena specht

Die Bahn vermisst derzeit das Gelände zwischen Augsburg und Ulm. Die Daten ergeben ein kleinteiliges Punktenetz und letztlich eine 3D-Karte, auf dem das Projekt-
team verschiedeneGleistrassen planen kann. FOTO: DEUTSCHE BAHN

233 Minderjährige wurden im Jahr 2018 Opfer von strafbaren Annäherungsversu-
chen im Internet. Der Großteil der Verdächtigen ist männlich. FOTO: IMAGO


Das Bohren von Deicheln ist ein an-
spruchsvolles Handwerk. FOTO: ARCHIV BOVERS

Im Schneckentempo zur Schnellfahrstrecke


Die Bahn beginnt mit den Planungen für den Ausbau der Trasse zwischen Ulm und Augsburg. Das Verfahren ist kompliziert und langwierig.
Irgendwann einmal sollen die Züge in weniger als vier Stunden zwischen Köln und München verkehren

Grassauer Deichelbohrer,


Viechtacher Revue


Auf Opfersuche im Internet


Cyber-Grooming: Das Landkriminalamt mahnt junge Menschen zur Vorsicht


Die Kosten werden
derzeit vom Bund auf
2,1 Milliarden Euro geschätzt

100 km
SZ-Karte/Maps4News

Straßburg

Stuttgart

Ulm

Augsburg

München
Salzburg Győr

Paris Linz Wien
Bratislava

Budapest

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DEFGH Nr. 246, Donnerstag, 24. Oktober 2019 (^) BAYERN R15

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