Süddeutsche Zeitung - 24.10.2019

(Nora) #1
Peking– Dass Regierungschefin Carrie
Lamnoch eine zweite Amtszeit antreten
würde, hat in Hongkong seit den mehr als
vier Monaten andauernden Massenprotes-
ten kaum jemand mehr erwartet. Nun
könnte es aber mit ihrem Abtritt noch deut-
lich schneller gehen. Wie dieFinancial
Timesunter Berufung auf mit der Angele-
genheit vertraute Personen berichtet,
könnte die Zentralregierung in Peking
Lam bereits im Frühjahr durch einen tem-
porären Regierungschef ersetzen. Lams
Nachfolger soll laut Informationen der bri-
tischen Zeitung bis März ernannt werden
und den Rest ihrer Amtszeit bis 2022 über-
nehmen. Eine endgültige Entscheidung
soll noch nicht getroffen sein.

Auch scheint man sich noch auf keinen
Nachfolger geeinigt zu haben. Im Ge-
spräch scheint aber der frühere Finanzmi-
nister Henry Tang zu sein. Er stammt aus
einer Unternehmerfamilie mit engen Bezie-
hungen nach Peking. Außerdem soll der
frühere Chef der Währungsaufsicht, Nor-
man Chan, ein möglicher Kandidat zu sein.
Lam war wie ihre Vorgänger nie beson-
ders beliebt. Seit den Protesten ist die
62-Jährige aber für viele zu einer Hassfi-
gur geworden. Ihre Zustimmungswerte
sind so schlecht wie bei keinem ihrer Vor-
gänger. Die Regierungschefin hatte selbst
in einem Gespräch erklärt, von dem später
eine Tonaufnahme an die Öffentlichkeit ge-
raten war, dass sie gerne zurücktreten wür-
de. Peking würde das aber nicht zulassen,
so Lam damals.
Viele Hongkonger machen die Regie-
rungschefin für die Eskalation der Protes-
te verantwortlich. Ausgelöst wurden diese
durch ein umstrittenes Auslieferungsab-
kommen mit Festlandchina. Lam hatte
sich trotz der andauernden Proteste im
Sommer geweigert, den Entwurf komplett
zurückzuziehen. Erst nachdem die Lage
sich immer weiter zuspitzte, gab sie nach.
Ändern konnte das nichts mehr. Ihr Rück-
tritt ist inzwischen keine zentrale Forde-

rung der Bewegung mehr. Diese protes-
tiert nun gegen die Einparteienherrschaft
in China und fordert neben einer unabhän-
gigen Untersuchung der Polizeigewalt die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts.
Aus Sicht vieler Hongkonger ist das ein
Grundrecht, das Peking der Sonderverwal-
tungszone bei der Übergabe 1997 zugesi-
chert hat.
Das macht eine mögliche vorzeitige Ab-
berufung Carrie Lams auch so brisant. Bis-
her haben die Hongkonger kaum Einfluss
auf die Wahl ihres Regierungschefs. Be-
stimmt wird dieser von einem Gremium
aus 1200 Wahlleuten, die in der Mehrzahl
als chinafreundlich gelten. Die Kandidaten
bestimmt Peking. Bereits 2014 hatte die Re-
genschirmbewegung für eine Reform des
Wahlrechts gekämpft. Sollte Peking im
Frühjahr einen Ersatz für Lam bestimmen,
dürfte das die Wut vieler Hongkonger neu
entfachen. Reagiert Peking zu früh, würde
es zudem den Eindruck erwecken, auf die
Forderungen der Bewegung einzugehen
und damit die gewaltsamen Ausschreitun-

gen zu belohnen. Eine zeitnahe Reaktion
scheint deshalb unwahrscheinlich. In der
chinesischen Staatspresse werden die Akti-
visten als Terroristen und Aufständische
diffamiert. Mitte Oktober erklärte Präsi-
dent Xi Jinping in einer Rede, dass jeder,
der versuche, eine Region von China zu
trennen, untergehen würde „mit zertrüm-
mertem Körper und zu Staub zermahlenen
Knochen.“
Ein Ende der Proteste ist indes nicht in
Sicht. Immer wieder versammeln sich Tau-
sende für Märsche und Mahnwachen in
der Stadt. Der mutmaßliche Mörder, der
seine Freundin 2018 in den Ferien auf Tai-
wan umgebracht haben soll und die Hong-
konger Behörden überhaupt dazu brachte,
das Auslieferungsabkommen auf den Weg
zu bringen, kam diese Woche aus dem Ge-
fängnis frei. Er hatte bisher in Hongkong
wegen eines anderen Delikts eingesessen.
Der 20-Jährige will nun freiwillig nach Tai-
wan reisen und sich den Behörden stellen.
Dafür fehlt ihm aber bisher die Genehmi-
gung aus Taipeh. lea deuber

Was verbindet Bodo Ramelow, Mike
Mohring,Björn Höcke und Wladimir Il-
jitsch Lenin? Für alle vier beginnt jetzt
der Wahlkampfendspurt in Thüringen.
Wobei sich Ramelow, Mohring und Hö-
cke, die Spitzenkandidaten von Links-
partei, CDU und AfD, noch Chancen
ausrechnen, aus der Landtagswahl am
Sonntag als Sieger hervorzugehen. Im
Fall von Lenin wird daraus eher nichts,
was auch dem Umstand geschuldet ist,
dass er seit gut 95 Jahren einbalsamiert
in einem Mausoleum ruht. Gleichwohl
ist sein Gesicht derzeit an den plakatier-
ten Laternenmasten von Erfurt, Eise-
nach, Gotha oder Weimar erstaunlich
präsent. Lenin ist neben Karl Marx so
etwas wie der ewige Spitzenkandidat der
MLPD, einer Partei, die ihre Wahlkampf-
zugpferde bereits im Namen trägt.

Die Marxistisch-Leninistische Partei
hat nach eignen Angaben rund 40 000
Wahlkampfplakate in Thüringen aufge-
hängt. Bei der CDU sind es gut 13 000. Es
ist also nicht ganz falsch, wenn die
MLPD behauptet, man spiele im thürin-
gischen Wahlkampf in einer Liga mit
„den sogenannten Großen“.
An den Urnen hatte die 1982 gegrün-
dete Partei zuletzt alle Mühe, überhaupt
mit den sogenannten Kleinen mitzuhal-
ten. Bei der Europawahl 2019 erhielt sie
deutschlandweit 18 342 Stimmen, das
sind 0,0 Prozent. Das Land Thüringen,
wo im Mai gut 2000 Menschen (0,2 Pro-
zent) ihr Kreuzchen bei Marx und Lenin
machten, muss man da schon fast als
MLPD-Hochburg bezeichnen.
Die Partei perfektioniert hier ihr bun-
desweit wohl einzigartiges Kampagnen-
Recycling. Etwa 80 Prozent der Plakate,
die derzeit Thüringen schmücken, hat
sie bei den vergangenen Bundestags-

und Europawahlen schon einmal einge-
setzt. „Wir schreddern das nicht jedes
Mal so wie die anderen“, heißt es aus der
Parteizentrale. Das habe einerseits ökolo-
gische Gründe, schließlich sorgen sich in-
zwischen auch die Kommunisten um
den Thüringer Wald. Andererseits ver-
weist die MLPD auf ihr „klares und zeitlo-
ses Parteiprogramm“, sie müsse deshalb
ihre Losungen nicht jedes Mal neu erfin-
den. Und das leuchtet ja tatsächlich ein:
Lenin ist im Jahr 2019 ungefähr genauso
brandaktuell, wie er es 2017 war.
Scheinbar unvergänglich ist bei der
MLPD auch das Zentralkomitee. Ein Par-
teitag lief traditionell so ab: Erst sprach
Parteichef Stefan Engel, dann die Stell-
vertreterin Monika Gärtner-Engel (seine
Ehefrau), dann das ZK-Mitglied Gabi
Gärtner (seine Stieftochter) und schließ-
lich noch mal Engel selbst. 2016 hat sich
die Partei „personell neu aufgestellt“,
und zwar dergestalt, dass Engel den Vor-
sitz nach 35 Jahren an Gabi Fechtner
(geb. Gärtner) abgab, während er selbst
die Leitung der Theorieabteilung über-
nahm. Seine inzwischen von ihm geschie-
dene Frau kümmert sich nun um den „In-
ternationalismus“, ihre Tochter Lisa Gärt-
ner, Gabis Schwester, um die Jugend. Die
Partei der revolutionären Arbeiterschaft
wird geführt wie eine Erbdynastie.
Vielleicht geben auch daher wohlha-
bende Erben so gerne ihr vorletztes
Hemd für diese Art des Klassenkampfes.
Kaum eine Partei erhält mehr Geld von
privaten Einzelspendern. Die Kampa-
gne in Thüringen werde aber komplett
über Minispenden finanziert, versichert
die MLPD. Überhaupt sei das nur dank
des Recycling-Modells zu bezahlen.
Nächste Woche werden also wieder eh-
renamtliche Proletarier ausschwärmen,
um allerlei Lenins und Marxe säuberlich
abzuhängen und zur Wiederverwertung
aufzubewahren. Und nur jene Parolen,
die wirklich nicht mehr lesbar sind,
landen dann in der Wertstofftonne der
Geschichte. boris herrmann

von georg mascolo
und ronen steinke

Berlin –Wann immer man in diesen Tagen
mitVertretern jüdischer Gemeinden über
ihre Ängste und Sorgen spricht, geht es
nicht nur um Halle. Es geht stets auch um
einen anderen, einen zweiten Vorfall, der
sich bereits fünf Tage zuvor ereignete, be-
vor in Halle der Rechtsextremist Stephan
B. versuchte, ein Massaker in der Synago-
ge anzurichten.
Es war der 4. Oktober, ein Freitagabend.
Vor der Neuen Synagoge in der Oranienbur-
ger Straße in Berlin, einem historischen
Bau mit goldverzierter Kuppel, stieg ein
junger Mann über die Absperrung, das ist
eine dicke Metallkette, die etwa auf Kniehö-
he hängt. Er trat auf die zwei Polizisten zu,
die dort Wache hielten. „Angesicht zu Ange-
sicht“, wie einer der Polizisten später zu
Protokoll gab. Der Mann kam so nahe, dass
man ihn wegstoßen musste. Dann griff er
ruckartig in seine Jacke, holte ein Survival-
messer heraus, 20 Zentimeter lang, mit ei-
ner komplett schwarzen Klinge, die spitz
zulief und an der Seite gezackt war. „Er hat
es hochgeworfen, umgedreht, an der Klin-
ge gehalten“, so erinnert sich einer der Poli-
zisten, und der Mann habe auch nicht re-
agiert, als sie ihn mit vorgehaltener Pistole
aufforderten, das Messer fallen zu lassen –
minutenlang. Er habe nur etwas von „Isra-
el“ gemurmelt und „Allahu Akbar“.

Der Vorfall ging glimpflich aus, der
Mann wurde mit Pfefferspray überwältigt,
niemand wurde verletzt. Aber schon kurz
danach wurde der Täter, der 23-jährige Sy-
rer Mohamad M., auch wieder freigelas-
sen. Und so fragen sich seither Juden, was
eigentlich passieren muss, damit der Staat
Härte demonstriert. Von einem missglück-
ten Terroranschlag spricht die Gemeinde,
der Vorsitzende des Zentralrats der Juden,
Josef Schuster, nennt das Verhalten der
Berliner Behörden „frappierend“. Der Fall
hat die Sorge hinterlassen, dass der Staat
in diesen Tagen wieder einmal versichert,
alles zu tun, um jüdisches Leben zu schüt-
zen – aber sich wenig bemüht.
Gegen 17.30 Uhr nahm man den Syrer
fest, gegen 5 Uhr morgens ließ man ihn
schon wieder gehen: Der Streit um diesen
Vorgang hält bis heute an, in einem unge-
wöhnlichen Schritt hat sich die Staatsan-
waltschaft öffentlich verteidigt, in Berliner
Polizeikreisen wird gern darauf verwiesen,
dass der Täter immerhin in die Psychiatrie
eingewiesen worden sei. Gefahr gebannt,
sollte dies signalisieren.
Seltsam bleibt der Fall trotzdem. Denn
es waren gar nicht die Behörden, die dafür
sorgten, dass Mohamad M. in eine Psychia-
trie kam. Wie sich herausstellt, überredete
erst sein deutscher Mitbewohner Moha-
mad M. dazu, sich in eine Klinik zu bege-
ben – freiwillig. Da war es schon Sonntag,


  1. Oktober. Und inzwischen hat Mohamad
    M. diese Klinik nach Recherchen derSüd-
    deutschen Zeitungauch schon wieder ver-


lassen, niemand hat ihn daran gehindert.
Er ist frei.
Rekonstruiert man die Ereignisse, blei-
ben Fragen. In Berlin kann die Polizei eine
Person mit richterlicher Zustimmung zur
Gefahrenabwehr bis zu vier Tage lang in
Haft behalten. Das beantragte niemand.
Nicht nur die Spezialisten des Landeskrimi-
nalamts waren mit dem Fall befasst, auch
ein hochrangiger Jurist blieb in dieser
Nacht wach, der Antiterror-Ermittler Dirk
Feuerberg ist Stellvertreter der General-
staatsanwältin. Sie stellten auch keinen An-
trag auf Untersuchungshaft. Mohamad M.
habe nicht den Tatbestand der Bedrohung
erfüllt, befanden sie. Dabei hatten sich die
Polizisten vor der Synagoge zumindest so
bedroht gefühlt, dass sie ihre Dienstwaf-
fen auf ihn gerichtet hatten. Auch hatten
sie Verstärkung gerufen, zu groß erschien
ihnen die Gefahr, dass der Mann Men-
schen gefährlich verletzen könnte.
In Haft kam Mohamad M. den Polizis-
ten ruhig vor, mit Islamismus habe er
nichts zu tun, soll er gesagt haben. Er habe
auch nichts gegen Juden. Von seiner Tat
distanzierte er sich aber mit keinem Wort,
er zeigte auch kein Bedauern. Er wisse
schlicht nicht, weshalb er das getan habe.
So zweifelhaft man solche Worte finden

kann, die Ermittler zogen vorerst den
Schluss, dass von M. keine unmittelbare
Gefahr mehr ausgehe. In seiner Wohnung
hatten sie keine Waffen oder Propaganda-
materialien gefunden; seine Handys wur-
den beschlagnahmt.
Die Ermittler diskutierten noch immer,
was der wahre Hintergrund von Mohamad
M.s Tat war, als sie ihn am Samstagmor-
gen freiließen – wenige Stunden, bevor in
den Synagogen wieder die Gläubigen zu-
sammenkommen würden, zum Morgenge-
bet. Angesichts angeblich fehlender Anzei-
chen für eine psychische Erkrankung ver-
suchten Polizei und Staatsanwaltschaft
auch gar nicht erst, M. in eine Klinik einwei-
sen zu lassen.
Inzwischen gibt es Anzeichen, dass dies
ein Irrtum war, Mohamad M. soll schon
seit Monaten psychisch auffällig gewesen
sein. Laut seinem deutschen Mitbewohner
war er als Jugendlicher in Syrien Opfer von
Scheinerschießungen, einmal hätten Si-
cherheitskräfte des Assad-Regimes ihm ei-
ne Waffe an den Kopf gehalten und abge-
drückt. Sie war nicht geladen. Ein ander-
mal sei nur knapp an seinem Kopf vorbei-
geschossen worden. Schon länger soll Mo-
hamad M. deshalb psychologische Hilfe ge-
sucht haben, bei zwei Gelegenheiten in den

vergangenen Wochen war er von Berliner
Kliniken abgewiesen worden.
Zuletzt soll er, so glauben die Ermittler
mittlerweile, Drogen genommen haben,
erst Cannabis, dann allerlei anderes. Er zog
zu seinen Eltern nach Berlin-Schönewei-
de. Um ihn von Drogen fernzuhalten,
schrieben sie ihm vor, dass er das Haus nur
einmal am Tag verlassen dürfe: für einen
Spaziergang von 30 Minuten. Von diesem
Spaziergang kehrte er am 4. Oktober nicht
zurück. Stattdessen tauchte er vor der Syn-
agoge auf, mit dem Messer.
Woher hatte er das Messer? Das bleibt
rätselhaft, weder M.s Eltern noch sein deut-
scher Mitbewohner wollen das Messer je
gesehen haben, womöglich hat er es in ei-
nem Camping-Geschäft gekauft, das in
der Nähe seiner Wohnung liegt. Oder gibt
es womöglich noch einen unbekannten Tä-
ter im Hintergrund, jemanden, der sich
den labilen Zustand von Mohamad M. zu-
nutze machte und ihn zur Synagoge schick-
te? Die Sorge vor einem solchen Szenario
ist seit Langem groß, die Staatsanwalt-
schaft Berlin ermittelt deshalb auch in die-
se Richtung.
Von Mohamad M. selbst gibt es dazu kei-
ne Aussagen, sein Anwalt Klemens Fritsch
rät ihm zu schweigen.

Berlin –Der Verband der Privaten Kran-
kenversicherung (PKV) fordert eine Re-
form der Pflegeversicherung, bei der sich
jüngere Frauen und Männer künftig stär-
ker privat absichern sollen als bisher.
Mit Zusatzpolicen sollen Kassenpatienten
„ihre persönliche Pflegelücke schließen“,
sagte Verbandschef Florian Reuther am
Mittwoch in Berlin. Auf diese Weise könn-
ten langfristig die Beiträge zur Pflegeversi-
cherung für alle Kassenpatienten stabil
bleiben, statt aufgrund des demografi-
schen Wandels anzusteigen. Reuther for-
derte die Bundesregierung auf, Pflege-Zu-
satzversicherungen durch Steuerentlas-
tungen für Arbeitnehmer und auch Arbeit-
geber zu fördern. Ziel sei „ein Paket, das
Jüngere veranlasst, Eigenvorsorge zu be-
treiben“.
Wer heute bereits älter ist, soll dem Mo-
dell des Verbands zufolge weiterhin mehr
Unterstützung erhalten. Die heute über
80-Jährigen bekämen die meiste Hilfe; die
nachfolgenden Jahrgänge erhielten schritt-
weise etwas weniger Pflegeleistungen. So-
bald die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1965,
die sogenannten „Babyboomer“, im Ruhe-
stand seien, könne die Solidarleistung aus-
laufen. Denn die nachkommenden Versi-
cherten wären durch eine zusätzliche priva-
te Vorsorge abgesichert, erklärte der Ver-
bandschef.
Mit diesem Modell bringen die privaten
Krankenversicherungen einen Gegenvor-
schlag zu einer Pflege-Bürgerversiche-
rung, wie sie derzeit SPD und Grüne for-
dern. Zuletzt hatte der Gesundheitsöko-
nom Heinz Rothgang im Auftrag der ge-
werkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung
untersucht, wie sich ein solcher Umstieg
von einer Teilabsicherung auf eine Pflege-
vollversicherung auswirken würde. Sein
Ergebnis: Für die große Mehrheit der Versi-
cherten und der Arbeitgeber seien die zu-
sätzlichen Kosten überschaubar, wenn die
Pflegeversicherung künftig als Bürgerver-
sicherung ausgestaltet würde – also ganz
ohne Privatversicherte. Rund 72 Millionen
Menschen in Deutschland sind heute ge-
setzlich pflegeversichert, knapp neun Milli-
onen privat.


Die pflegepolitische Sprecherin der Grü-
nen, Kordula Schulz-Asche, kritisierte das
Modell der Privatversicherungen. Deren
Vorschläge seien „nicht neu, sondern ein
Abklatsch des bereits gescheiterten Pflege-
Bahr“; der nach dem ehemaligen Gesund-
heitsminister Daniel Bahr (FDP) benann-
ten, staatlich geförderten Zusatzversiche-
rung. Die Umsetzung der Vorschläge wür-
den die bestehenden Probleme nur ver-
schärfen. Laut PKV wurden bis heute ledig-
lich etwa 900 000 der Bahr-Policen abge-
schlossen.kristiana ludwig  Seite 4


Berlin– An diesem Donnerstag berät der
Bundestag über die Einführung einer Kin-
dergrundsicherung. Auf der Tagesord-
nung steht ein Gesetzentwurf der Grünen-
Fraktion – weshalb absehbar ist, dass er an
der Regierungsmehrheit scheitern wird. Ei-
gentlich aber treibt die Frage, wie Familien-
leistungen gebündelt werden könnten,
auch andere um. Die FDP etwa fordert ein
„Kinderchancengeld“, und auch die SPD
will Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinder-
zuschlag, Bildungs- und Teilhabepaket
und Hartz IV für Kinder zusammenfassen.
So steht es in ihrem Sozialstaatspapier von
Anfang des Jahres. Ein fertiges SPD-Kon-
zept aber gibt es nicht, abgesehen vom Vor-
stoß der niedersächsischen Sozialministe-
rin Carola Reimann (SPD), die der Sozialmi-
nisterkonferenz im November einen Be-
richt zu ihrem Konzept vorlegen will.
Der Entwurf der Grünen sieht einen Ga-
rantiebetrag für jedes Kind vor. Aktuell
läge er bei 280 Euro, was der maximalen
steuerlichen Entlastung durch den Kinder-
freibetrag entspricht. Laut Entwurf soll so
das „ungerechte Nebeneinander von Kin-
dergeld und Kinderfreibetrag“ beendet
werden; derzeit profitieren Gutverdiener
durch den Freibetrag stärker als Eltern, die
Kindergeld bekommen. Ärmere Familien
sollen zusätzlich einen „Garantie Plus Be-
trag“ erhalten, der mit steigendem Ein-
kommen sinkt. Je nach Alter des Kindes lä-
gen beide Leistungen zusammen bei 364
bis 503 Euro. Abgedeckt wären damit Leis-
tungen wie Kinderzuschlag, Bildungs-
und Teilhabepaket oder Wohn- und Heiz-
kostenpauschalen in der Grundsicherung.
Das Schulstarterpaket von 150 Euro dage-
gen käme noch dazu. Grundsätzlich soll
die Kindergrundsicherung nicht auf Sozial-
leistungen der Eltern angerechnet werden.
Die Regelsätze für Kinder in Hartz-IV-Fa-
milien wiederum wollen die Grünen neu
berechnen, sodass sie höher ausfallen.
„Das derzeitige System der Familien-
förderung ist lückenhaft und schlichtweg
ungerecht“, sagte Grünen-Chefin Annale-
na Baerbock der SZ. Mit „Antragsdschun-
gel und Anrechnungswirrwarr“ müsse
Schluss sein. „Wenn man Kinderarmut be-
kämpfen will, helfen keine Schmalspurlö-
sungen, wir brauchen endlich einen Sys-
temwechsel.“ henrike roßbach


Sie darf gehen


Hongkongs Regierungschefin steht vor der Abberufung. Die Proteste gehen weiter Wahlkampf aus dem Mausoleum


Das einzigartige Kampagnen-Recycling der MLPD in Thüringen


Ist jüdisches Leben in Deutschland ausreichend geschützt? Ein Vorfall vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Stra-
ße in Berlin lässt daran Zweifel aufkommen. FOTO: CHRISTOPH SÖDER/DPA

Unterschätzte Messerattacke


Wenige Tage vor dem Terror von Halle überwältigen Polizisten an der Neuen Synagoge in Berlin einen Bewaffneten.
Doch der ist bald wieder auf freiem Fuß – die Behörden halten ihn nicht für gefährlich. Ein Irrtum, wie sich jetzt zeigt

Kordula Schulz-
Asche, 62, Pflegeex-
pertin der Grünen,
kritisiert den Vor-
schlag, Kassenpatien-
ten sollten für die
Pflege privat vorsor-
gen. Die bestehenden
Probleme würden so
verschärft.FOTO: OH

Bundestag berät über


Kindergrundsicherung


Magdeburg/Berlin –Zwei Wochen nach
dem rechtsterroristischen Anschlag von
Halle, bei dem ein schwer bewaffneter
Mann zwei Menschen erschossen und zwei
weitere schwer verletzt hat, hat der sach-
sen-anhaltinische Ministerpräsident Rei-
ner Haseloff (CDU) am Mittwoch im Land-
tag eine Regierungserklärung abgegeben.
Unter dem Titel „Freiheit. Sicherheit. Ver-
antwortung. Solidarität mit der Jüdischen
Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt“ rief Ha-
seloff zur entschlossenen Bekämpfung
des Rechtsextremismus in ganz Deutsch-
land auf. „Der Terroranschlag von Halle,
ein versuchter Massenmord an den jüdi-
schen Mitbürgern, war ein Angriff auf uns
alle“, sagte der Christdemokrat im Magde-
burger Landtag. Es habe sich um einen An-
schlag auf die Menschenwürde und die frei-
heitliche Demokratie gehandelt.

„Deutschland hat ein Antisemitismus-
und Rechtsextremismus-Problem“, sagte
Haseloff. In der Gesellschaft gebe es einen
Nährboden für antisemitische Ressenti-
ments. „Wir haben es mit einer Verfesti-
gung und Radikalisierung gewaltbereiter
Milieus zu tun“, betonte der CDU-Politiker.
„Auch eine Enthemmung der Äußerungen
in Wort und Tat ist zu beobachten.“ Das al-
les seien keine Randerscheinungen, die Zei-
chen seien überdeutlich. Haseloff hob die
Bedeutung von Aufklärung und Bildung
hervor: „Wir alle müssen wachsam und
sensibel sein gegenüber offenen und laten-
ten rechtsextremen und antisemitischen
Äußerungen und Haltungen in Familie,
Schulklassen, Arbeitsteams und der Nach-
barschaft. Wir müssen genau hinsehen,
uns einmischen, nicht schweigen, sondern
entschlossen handeln und energisch wider-
sprechen.“
Das Bundeskabinett soll am kommen-
den Mittwoch ein Konzept zum Kampf ge-
gen den Rechtsextremismus beschließen.
Das kündigte Innenminister Horst Seeho-
fer (CSU) am Mittwoch im Bundestag noch
vor Haseloffs Magdeburger Rede an. Das
Kabinett will sich damit laut Seehofer hin-
ter die Beschlüsse der Länder-Innenminis-
ter vom vergangenen Freitag stellen. Die
Minister hatten bei einem Sondertreffen
nach dem antisemitisch motivierten Ter-
roranschlag von Halle ein Zehn-Punkte-Pa-
pier verabschiedet.
Das Papier sieht einen besseren Schutz
jüdischer Einrichtungen, Verschärfungen
beim Waffenrecht und mehr Prävention
vor. Zudem soll es eine engere Zusammen-
arbeit zwischen den Sicherheitsbehörden
von Bund und Ländern sowie eine Melde-
pflicht bei strafbaren Inhalten für Anbieter
im Internet geben. Bei Mitarbeitern im öf-
fentlichen Dienst, die extremistisch auffäl-
lig werden, soll künftig genauer hinge-
schaut werden. Der Staat müsse „wirklich
alle Bereiche ausleuchten, wo wir präven-
tiv und repressiv tätig werden können“,
sagte Seehofer nach dem Sondertreffen in
Berlin. Zu den Beschlüssen zählt auch das
Bekenntnis, einschlägige rechtsextreme
Veranstaltungen wie Konzerte unterbin-
den zu wollen. epd, dpa, kna

6 HMG (^) POLITIK Donnerstag, 24.Oktober 2019, Nr. 246 DEFGH
Die Marxistisch-Leninistische
Parteiwird geführt wie
eine Erbdynastie
Von der mäßig beliebten Regierungschefin zur Hassfigur: Viele Hongkonger machen
CarrieLamfür die Eskalation der Proteste verantwortlich. FOTO: PHILIP FONG / AFP
Es gibt Anzeichen, dass der
Angreifer schon seit Monaten
psychisch auffällig war
Die Bundesregierung will
in Kürze ein Konzept beschließen
Sie würde gern zurücktreten,
hatte sie gesagt, aber Peking
würde das nicht zulassen
Privat
oder Staat
Politik und Verbände uneins über
Zukunft der Pflegeversicherung
Einmischen,
nicht schweigen
Reiner Haseloff ruft zum Kampf
gegen Antisemitismus auf

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