Die Welt Kompakt - 24.10.2019

(coco) #1

18 ESSAY DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,24.OKTOBER


V


orweit mehr als 100
Jahren schrieb Karl
Mayeinen Bestseller
mit dem Titel „Durchs
wilde Kurdistan“, worin er die
Abenteuer eines deutschen Hel-
den namens Kara Ben Nemsi
auf seiner Reise durch Kurdis-
tan schildert. Dieses unglaub-
lich populäre Buch definierte
die Wahrnehmung Kurdistans
in Mitteleuropa: ein Ort bruta-
ler Stammeskriege, naiver Ehr-
lichkeit, ein Ort des Ehrgefühls,
aber auch des Aberglaubens, des
Verrats und permanenter grau-
samer Kriegsführung. Das nahe-
zu karikaturartige, barbarische
Andere der europäischen Zivili-
sation.
Die heutigen Kurden könn-
ten sich nicht stärker von die-
sem Klischee unterscheiden: In
der Türkei, wo mir die Situation
relativ vertraut ist, fiel mir auf,
dass die kurdische Minderheit
moderner und weltlicher orien-
tiert ist als der Rest der Gesell-
schaft, weit entfernt von jedem
religiösen Fundamentalismus,
mit einem ausgebildeten Femi-
nismus und so weiter. (So lern-
te ich beispielsweise in Istan-
bul, dass von Kurden geführte
Restaurants keine Erschei-
nungsformen des Aberglaubens
dulden.)
Das stabile Genie (so Trumps
wiederholte Selbstbezeich-
nung) rechtfertigte seinen
jüngsten Verrat an den Kurden
(ein Verrat, der in seiner Billi-
gung des türkischen Angriffs
auf die kurdische Enklave in
Nordsyrien bestand), indem er
feststellte, dass auch die Kur-
den „keine Engel“ seien – wobei
in seinen Augen die einzigen
Engel die Israelis sind (ganz be-
sonders jene in der Westbank).
Auch Saudi-Arabien (ganz be-
sonders im Jemen) zählt zu den
Engeln.
Und doch sind die Kurden auf
eine gewisse Art und Weise tat-
sächlich die einzigen Engel in
diesem Teil der Welt. Ihr
Schicksal macht sie, dank ihrer
geografischen Lage entlang vier


benachbarter Staaten (der Tür-
kei, Syrien, dem Irak und Iran)
zu einem Bilderbuchopfer geo-
politischer kolonialistischer
Spielchen.
Ihre (mehr als verdiente)
vollständige Autonomie war in
niemandes Interesse, und sie
haben den vollen Preis dafür be-
zahlt. Erinnert sich denn noch
jemand an Saddams Massen-
bombardement undseine Gas-
angriffe auf die Kurden im Nor-
den des Irak der frühen Neunzi-
gerjahre? (Der Giftgasangriff
auf die kurdische Stadt Ha-
labdscha war tatsächlich 1988; d.
Red.) In der jüngeren Vergan-
genheit spielt wiederum die
Türkei seit Jahren ein ausgefeil-
tes militärpolitisches Spiel, in-
dem sie sich offiziell gegen den
IS engagiert, aber stattdessen
die Kurden bombardiert, die
sich ernsthaft gegen den IS stel-
len. In den letzten Dekaden
wurde die Fähigkeit der Kurden,
ihr gesellschaftliches Leben zu
organisieren, auf die Probe ge-
stellt, und zwar unter fast per-
fekten Laborbedingungen: Im
selben Moment, in dem ihnen
etwas Raum zum Atmen ge-
währt wurde, sie sich also au-
ßerhalb der Konflikte der sie
umgebenden Staaten entfalten

konnten, überraschten sie die
ganze Welt.
Nach dem Sturz Saddams
entwickelte sich die kurdische
Enklave im Norden des Irak
zum einzigen sicheren Teil des
Landes. Hier gab es Zugang zu
funktionierenden Institutionen
und sogar regelmäßige Flüge
nach Europa. Auch im Norden
Syriens war die kurdische En-
klave in Rojava ein außerge-
wöhnlicher Ort im heutigen
geopolitischen Chaos.
Sobald man den Kurden eine
Atempause von den ständigen
Bedrohungen durch ihre Nach-
barn eingeräumt hatte, bauten
sie innerhalb von kürzester Zeit
etwas auf, das man eigentlich
nur als real existierende und gut
funktionierende Utopie be-
zeichnen kann. Mir selbst fiel
vor allen Dingen die blühende
intellektuelle Gemeinschaft in
Rojava auf – man lud mich wie-
derholt ein, dort Vorträge zu
halten – doch diese Pläne wur-
den von den militärischen
Spannungen in der Region
durchkreuzt.
Was mich besonders traurig
gemacht hat, war die Reaktion
einiger meiner „linken“ Kolle-
gen, die sich an der Tatsache
störten, dass die Kurden sich

auf den militärischen Schutz
durch die USA verlassen muss-
ten – was sonst hätten sie tun
sollen, so gefangen im Netz der
Spannungen zwischen der Tür-
kei, dem syrischen Bürgerkrieg,
dem Chaos im Irak und im Iran?
Hatten sie denn irgendeine an-
dere Wahl? Sollen sie sich lieber
auf dem Altar antiimperialisti-
scher Solidarität opfern?
Diese kritische Distanz der
Linken war kaum weniger wi-
derlich als die Distanz, die sie
gegenüber den Mazedoniern an
den Tag legen. Vor einigen Mo-
naten wurde darüber diskutiert,
dass man das „Namenspro-
blem“ Mazedoniens lösen kön-
ne, indem man es von nun an als
„Nordmazedonien“bezeichne-
te. Diese Lösung wurde sofort
von Radikalen beider Länder
kritisiert: Griechische Stimmen
insistierten, dass es sich bei Ma-
zedonien um einen alten grie-
chischen Namen handele, ihre
mazedonischen Gegner fühlten
sich gedemütigt, ja, reduziert –
auf den Status einer nördlichen
Provinz – obwohl sie doch die
Einzigen sind, die sich als „Ma-
zedonier“ bezeichnen.
So mangelhaft sie auch gewe-
sen sein mag, brachte diese Lö-
sung doch wenigstens einen

Hoffnungsschimmer in eine
lange und bedeutungslose De-
batte, indem sie einen sinnvol-
len Kompromiss offerierte. Und
doch fand man sich in einem
weiteren „Widerspruch“: dem
Kampf zwischen den großen
Mächten (den USA und der EU
auf der einen und Russland auf
der anderen Seite). Der Westen
übte Druck auf beide Seiten aus,
den Kompromiss anzunehmen,
damit Mazedonien sich schnell
der EU und der Nato anschlie-
ßenkönne, während Russland
aus demselben Grund dagegen
war (man befürchtete einen
Einflussverlust auf dem Balkan)
und wild gewordene konservati-
ve Nationalisten in beiden Län-
dern unterstützte.
Auf wessen Seite sollten wir
uns also schlagen? Ich denke,
wir sollten uns
entschieden auf
die Seite der
Kompromissbe-
reiten schlagen


  • aus dem ein-
    fachen Grund,
    dass es sich um die einzige rea-
    listische Lösung des Problems
    handelt, denn Russland steht
    dem Kompromiss nur aufgrund
    der eigenen geopolitischen In-
    teressen im Weg, ohne eine an-
    dere Lösung anzubieten. Eine
    Unterstützung Russlands wür-
    de bedeuten, eine sinnvolle Auf-
    lösung dieses einzigartigen
    Konflikts der mazedonisch-
    griechischen Beziehungen in-
    ternationalen geopolitischen
    Interessen zu opfern. (Im Falle
    eines französischen Vetos gegen
    die Eileingliederung Mazedo-
    niens in die EU wird Frankreich
    die Verantwortung für eine un-
    vorhersehbare Katastrophe in
    diesem Teil des Balkans tragen.)
    Haben die Kurden einen ähn-
    lichen Schlag von unseren anti-
    imperialistischen „Linken“ zu
    erwarten? Es ist unsere Pflicht,
    den Widerstand der Kurden ge-
    gen die türkische Invasion in
    vollem Umfang zu unterstüt-
    zen und die schmutzigen Spiel-
    chen, die westliche Kräfte mit
    ihnen treiben, rigoros zu verur-
    teilen. Während die unabhängi-
    gen Staaten um sie herum lang-
    sam, aber sicher in einer neuen
    Form des Barbarentums versin-
    ken, sind die Kurden der einzi-
    ge Hoffnungsschimmer in der
    Region.
    Diesen Kampf kämpfen wir
    nicht nur für die Kurden, son-
    dern auch in unserem eigenen
    Interesse, denn es geht darum,
    welche Art von globaler Ord-
    nung hier im Entstehen begrif-
    fen ist. Wenn wir die Kurden im
    Stich lassen, wird sich eine neue
    Ordnung etablieren, in der es
    keinen Platz mehr für das
    emanzipatorische Erbe Europas
    gibt. Wenn Europa sich von den
    Kurden abwendet, verrät es sich
    selbst. Ein Europa, das die Kur-
    den im Stich lässt, wird das
    wahre Europastan sein!


TSlavoj Zizek, geboren 1949 in
LLLjubljana, ist Philosoph. Dieserjubljana, ist Philosoph. Dieser
Text wurde von Sabine Kray
aus dem Englischen übersetzt.

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/ TV-YESTERDAY

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Kurdistan?


Seit Karl May erscheinen


die Kurden als das


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europäischen Kultur. Doch


wenn wir sie jetzt verraten,


dann verraten wir uns


selbst. Von Slavoj Zizek

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