Die Welt Kompakt - 24.10.2019

(coco) #1
Chancen des Marktes zu
nützen, ist Leonardo
seltsam fremd. Die skru-
pulöse Hinarbeit, die Er-
fahrung des Zögerns,
Bedenkens, Verschlep-
pens, Probierens, Ver-
werfens, muss ihm un-
gleich mehr bedeuten
als das nicht mehr ver-
änderbare Thema. Und
wenn man ihn in der
Ausstellung so von Auf-
trag zu Auftrag verfolgt,
dann hat man zuweilen
den Eindruck, als habe
er über der mühsamen
Produktionsgeschichte
die Lust am Projekt ver-
loren.
Und vielleicht, denkt
man, ist ja diese Kunst
des Nicht-zu-Ende-
kommen-Könnens oder
-Wollens, die Art, wie
Leonardo das Zeichnen
und Malen als wunder-
bar scheiternde Selbst-
erklärung betreibt, auch
das geistige Motiv jener
Beseeltheit, die seine Fi-
gurenbilder so einzigar-
tig macht. Wohlgemerkt
seine weiblichen Figu-
ren. Auch das fällt einem
hier noch einmal auf.
Leonardo hat ja bis auf
den „Florentiner Musi-
ker“ keine Männerpor-
träts gemalt. Das kraft-
volle Renaissance-Sub-
jekt, maskulin, musku-
lös, gebildet, kommt nicht vor.
Als wehrte sich der Maler gegen
die kraftvollen Zuschreibungen
seiner Epoche, die ein Lorenzo
Lotto, ein Tizian oder ein Tin-
toretto so prachtvoll bedient
haben. Wenn Männer, dann
sind sie wüst im Kampf, oder es
sind sinistre Schemen wie bei
der „Anbetung“, wo die Rollen-
verteilung im Gewühl der Figu-
ren völlig unklar bleibt. Oder
sie haben diesen genderfluiden
Schmelz, der einen Täufer-Jo-
hannes aussehen lässt, dass er
geradeso als Johanna durchgin-
ge. Vollends vor der Pariser
„Anna Selbdritt“, die erstmals
auf die monumentale Londoner
Zeichnung trifft, die eine the-
matische Variante ankündigt,
steht man wieder einmal vor
der eigentlichen Sensation der
Ausstellung. Was da die Frauen
und die Kinder, denen bei Leo-
nardo alles zum andächtigen
Gebrauch fehlt, miteinander
haben, das ist von einer unver-
brauchbaren Innigkeit, die wohl
nur einer malen kann, der in
der Erfahrung des Zögerns, Be-
denkens, Verschleppens, Pro-
bierens, Verwerfens immer
auch die unerfüllbare Sehn-
sucht spürt.

E


inmal sollte es
sein, 500 Jahre
nach dem Tod
des Ausnahme-
künstlers: Leonardo
komplett. Wo anders als
in Paris, im ehrwürdigen
Louvre, der sein Millio-
nenpublikum bis heute
mit dem unschätzbaren
Erbe des Renaissance-
Malers generiert. Alles
war recht. Verwaltungs-
gerichte, Oberverwal-
tungsgerichte. Diploma-
tisches Ringen auf
höchster europäischer
Regierungsebene. Sogar
die bräunlich blass ge-
wordene Zeichnung des
nach Vitruv-Regeln ver-
messenen Mann-Men-
schen musste die Acca-
demia in Venedig heraus-
rücken, und die Fotogra-
fen schießen ihre Maga-
zine leer.
Es ist also, wenn man
es etwas großzügig aus-
drückt, alles da. Zumin-
dest in der Reprodukti-
onsform originalgroßer
Infrarotaufnahmen. Und
weil man ihnen an jeder
zweiten Wand begegnet,
merkt auch bald der Leo-
nardo-Ungeübte, dass
der Werkvereinigungs-
wunsch natürlich gänz-
lich unerfüllt blieb. Die
kostbare Zeichnungsstre-
cke, die sich wohl nie
mehr in solcher Dichte
arrangieren lässt, wird
vor allem von den welt-
berühmten Gemälden
der Pariser Sammlung
rhythmisiert. Die Floren-
tiner „Verkündigung“ ist
so unausleihbar wie die
„Ginevra de’ Benci“ in
Washington, die „Dame mit
dem Hermelin“ in Krakau oder
die „Madonna mit der Nelke“ in
München.

VON HANS-JOACHIM MÜLLER

Und doch: Wer sich noch ein-
mal auf die Geheimnisse dieses
unvergleichlichen Werks einlas-
sen möchte, dem ist eine fantas-
tische Entdeckungsreise ver-
sprochen. Sie führt durch den
Kosmos eines Künstler-Intellek-
tuellen, der von Jugend an am
Prozess, an der Erkundung, am
nachdenklichen Experiment viel
mehr interessiert war als an der
fristgerechten Auslieferung sei-
ner malerischen Markenware.
Wie jeder Meister seiner Zeit
hatte auch Leonardo seine
Werkstatt. Aber niemand dort
war ihm auch nur annähernd
ebenbürtig. Gehilfenbilder wie
die „Leda mit Schwan“, süßli-
che Madonnen oder der „Salva-
tor mundi“ der als schielende
Version in die Ausstellung ge-
kommen ist, sind schlimm.
Dem Atelierchef scheint es egal.
Das, was den zeitgenössischen
Künstler ausmacht, das gute
Gespür dafür, bei aller Verses-
senheit ins eigene Werk die

KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,24.OKTOBER2019 SEITE 20


Leonardos „Anna Selbdritt“,
in der Großmutter Anna,
Mutter Maria und der
JJJesusknabe vereint sind.esusknabe vereint sind.
UUUnten: eine Handstudie ausnten: eine Handstudie aus
der Royal Collection

RENÉ-GABRIEL OJÉDA/ RMN-GP

AUSZEICHNUNG

Thomas-Mann-Preis
für Claudio Magris

Der italienische Romancier,
Essayist und Übersetzer
Claudio Magris erhält den
Thomas-Mann-Preis 2019.
Der mit 25.000 Euro dotierte
Preis wird seit 2010 gemein-
sam von der Hansestadt Lü-
beck und der Bayerischen
Akademie der Schönen Küns-
te verliehen. Der Präsident
der Akademie, Winfried Ner-
dinger, und Lübecks Bürger-
meister Jan Lindenau werden
den Preis am 12. Dezember in
München überreichen.

GENDER

Weibliche Jury bei
ARD-Hörspieltagen

Zum ersten Mal bestimmt
eine rein weiblich besetzte
Jury unter Vorsitz der Publi-
zistin Jenni Zylka über die
Gewinnerin oder den Gewin-
ner des Deutschen Hörspiel-
preises der ARD. Zwölf Hör-
spiele von ARD, Deutschland-
radio, ORF und SRF konkur-
rieren vor Publikum um die
renommierte Auszeichnung.

KOMPAKT


E


in Drittel seines Lebens
verschläft der Mensch,
ein weiteres Drittel ver-
bringt er mit Essen, Verdau-
ung, Urlaub, Reha, Warten auf
die Bedienung, Einrichtung
elektronischer Geräte und
fortpflanzungsähnlichen Betä-
tigungen, den Rest der Zeit ist
er im Internet. Viel Zeit zum
Arbeiten bleibt ihm nicht, und
da ist es nur folgerichtig, dass
die Bundesbank die Rente ab
69 fordert, denn irgendwann
muss ja auch noch Geld in die
Rentenkasse eingezahlt wer-
den. Bei einer Lebenserwar-
tung von 100 Jahren und mehr
kann der Mensch eigentlich
gar nicht lange genug arbei-
ten, und man kann nur hoffen,
dass uns die künstlichen Intel-
ligenzen nicht die ganze Ar-
beit vor der Nase wegschnap-
pen. Natürlich ist die 69 keine
realistische Zahl, die Bundes-
bank kennt sich da aus und
weiß, dass 70 im Moment
noch eine psychologische
Schwelle darstellt. Hört der
Bürger, dass er bis 73 schuften
soll, holt er gleich die Gelb-
weste aus dem Schrank. Die
SPD hat hier wie immer die
Chance, einen historischen
Kompromiss auszuhandeln:
Die Rente beginnt mit 68, aber
gearbeitet wird bis 88.

Zippert


zappt


ROYAL COLLECTION TRUST/ HER MAJESTY QUEEN ELIZABETH II 2019

Wunderbar


scheiternde


Selbsterklärung


Im Pariser Louvre eröffnet eine große


Leonardo-Retrospektive. Fast alle


Werke des Künstlers sind versammelt.


Aber was lernen wir über seinen


Schaffensprozess?

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