Die Welt Kompakt - 24.10.2019

(coco) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,24.OKTOBER2019 SPORT 29


DAS GANZE SEHEN MITDAS GANZE SEHEN MITDAS GANZE SEHEN MIT


A


ls der Tod kam, hatte
Marieke Vervoort ein
Glas Sekt in der
Hand. Alles war ar-
rangiert. Sie wollte, dass nach
ihrem letzten Atemzug weiße
Schmetterlinge aus einer roten
Schachtel befreit werden und in
die Lüfte flattern können. Die
letzten Briefe an ihre Lieben
waren da schon geschrieben,
Labrador Zenn wachte an ih-
rem Bett. Am Dienstag schied
die 40 Jahre alte Belgierin frei-
willig aus dem Leben.
Marieke Vervoort war eine
überaus erfolgreiche Sportle-
rin. Bei den Paralympics in Lon-
don 2012 gewann sie als Hand-
bikerin Gold über 100 Meter
und Bronze über 200 Meter.
2016 in Rio de Janeiro holte sie
Silber über 400 Meter und
Bronze über 100 Meter. 2006
und 2007 wurde sie Weltmeis-
terin im Paratriathlon und ge-
wann auch den Ironman auf
Hawaii.
Marieke Vervoort war aber
auch eine schwer kranke Frau.
Sie litt an einer unheilbaren
und extrem schmerzhaften


Wirbelsäulenerkrankung, Pro-
gressive Tetraplegia und Reflex
Sympathetic Dystrophy – einer
zunehmenden Lähmung der
Gliedmaßen, die angeblich
durch eine unerklärliche Defor-
mation des fünften und sechs-
ten Halswirbels ausgelöst wur-
de und die sie mehr und mehr
lähmte. Am Ende bis zur Brust.
Am schlimmsten aber waren
die Schmerzen. Betroffene
schildern sie als pochend, bren-
nend oder stechend, oft auch
als permanente Pein.Dazu die
Schlaflosigkeit, vielleicht zehn
Minuten in der Nacht. Die
Schmerzmittel wirkten am En-
de nicht mehr.
Wenn die schlechten Tage
die guten überwiegen, hatte
Marieke Vervoort gesagt, wolle
sie ihr Leben beenden. Über die
benötigten Dokumente für die
Euthanasie verfügte sie schon
seit 2008, als sich ihr Gesund-
heitszustand dramatisch ver-
schlechtert hatte. Belgien ist
seit 2002 das zweite Land in
Europa nach Holland gewesen,
das Sterbehilfe zugelassen hat.
Marieke Vervoort hatte inter-

national für Aufsehen erregt,
als sie 2015 in der TV-Sendung
„Het Huis“ (Das Haus), erklär-
te, Euthanasie durchführen zu
lassen. Nach den Sommerspie-
len 2016 sollte das sein. „Erst
die Spiele, dann die Spritze“
wurde geschrieben. Das war
vorschnell – und überdies ohne
Empathie. Sie hörte nur auf,
Training und Sport zu betrei-
ben. Es ergebe keinen Sinn
mehr, „da ich meinen Sport
nicht mehr genießen kann. Jede
Woche bekomme ich Morphi-
um gespritzt durch einen Ka-
theter, der in der Hüfte einge-
setzt ist. Kennen Sie Sportler,
die unter solchen Umständen
Spitzensport treiben?“, hatte
sie im WELT-Interview vor drei
Jahren gesagt. Manchmal wa-
ren die Schmerzen so stark,
dass sie das Bewusstsein verlor.
Dazu kamen noch epileptische
Anfälle. 2014 hatte sie einen
beim Nudelkochen. Sie ver-
schüttete das kochende Wasser
über ihre Beine, wegen der Ver-
brennungen musste sie vier
Monate ins Krankenhaus. Alles
begann, als sie 14 war. Von ei-

nem Tag auf den anderen ent-
zündeten sich ihre Füße. An-
fangs dachten die Ärzte, das kä-
me vom vielen Sporttreiben.
Doch damit war es schnell vor-
bei, weil die Schmerzen in den
Füßen immer furchtbarer wur-
den. Ihre Knie wuchsen nach
innen zu einem X – und kein
Arzt wusste warum. Alles Mög-
liche wurde ihr gespritzt, sie
wurde operiert, nichts half. Mit
20 saß sie im Rollstuhl. Sie er-
zählte mal, dass sie große Angst

vor dem Sterben habe. Sie be-
kräftigte aber auch, dass sie ei-
ne große Verfechterin der akti-
ven Sterbehilfe sei. „Es ist so
wie hartes Training. Der Ge-
danke daran ist schmerzvoll,
aber der Erfolg ist verlockend.
Es legt mein Leben in meine ei-
genen Hände. Hätte ich diese
Sterbehilfepapiere nicht ge-
habt, hätte ich mich wohl schon
vor langer Zeit umgebracht,
hatte sie mal berichtet. Für sie,
sagte sie, sei der Tod, „als wür-
den sie einen operieren. Du
gehst schlafen und wachst nie
auf. Für mich ist es etwas Fried-
liches.“ Marieke Vervoorts
Asche wird im Meer von Lanza-
rote verstreut, wo sie seit 2008
Weihnachten gefeiert hatte.
Auch das hatte sie bei ihrem Ar-
rangement mit ihrem Tod so
verfügt.

In der Regel berichten wir nicht
über Selbsttötungen – außer die
Tat erfährt durch die Umstände
besondere Aufmerksamkeit. Soll-
ten Sie selbst das Gefühl haben,
dass Sie Hilfe benötigten, kontak-
tieren Sie bitte umgehend die Tele-
fonseelsorge (www.telefonseelsor-
ge.de). Unter der kostenlosen Ruf-
nummer 0800-1110111 oder 0800-
1110222 erhalten Sie anonym Hilfe
von Beratern, die Ihnen Auswege
aus schwierigen Situationen auf-
zeigen können.

Mit einem Glas Sekt in den Tod


Marieke Vervoort holte 2012 Gold bei den Paralympics – sie starb mittels Sterbehilfe


VVVervoort war 40 Jahre altervoort war 40 Jahre alt

GETTY

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