Die Welt Kompakt - 24.10.2019

(coco) #1

30 PANORAMA DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,24.OKTOBER2019


E


in verurteilter Sexual-
straftäter lebt 18 Jahre
für die Behörden unauf-
fällig in Freiheit. Bis zu
dem Tag Anfang Oktober, an dem
Frank N. aus Göttingen eine 44-
jährige Frau auf offener Straße
mit Brandbeschleuniger anzün-
det und sie niedersticht. Die ihr
zu Hilfe eilende Arbeitskollegin
attackiert Frank N. ebenfalls.
Beide Frauen sterben. Die Polizei
findet deutliche Worte: Frank N.
habe „in abscheulicher Art und
mit außergewöhnlicher Gewalt-
anwendung“ gehandelt.

VON ANNA KRÖNING

Es ist einer jener Fälle, bei de-
nen sich die Öffentlichkeit fragt,

Es ist einer jener Fälle, bei de-
nen sich die Öffentlichkeit fragt,

Es ist einer jener Fälle, bei de-

warum niemand die Gefahr er-
kannte, die von Frank N. offen-
bar weiterhin ausging. Der heute
52-Jährige saß bereits wegen Ver-
gewaltigungen in den Jahren
1985, 1987 und 1994 im Gefängnis:
zwei Jahre und neun Monate,
fünf Jahre sowie sechs Jahre. Im
dritten Vergewaltigungsprozess
hatte die Anklage neben einer
Haftstrafe auch Sicherungsver-
wahrung gefordert – doch das
Gericht war dem damals nicht
gefolgt. Und es ist einer der Fälle,
die zeigen, wie mangelhaft der
Umgang in Deutschland mit ver-
urteilten Sexualstraftätern ist.
Der Impuls, eine Sicherungs-
verwahrung für Sexualstraftäter
zu verhängen, klingt zunächst
verständlich. Juristisch wird sie
allerdings bei dieser Tätergruppe
äußerst selten angewandt, das
Strafmaß liegt bei sechs Monaten
bis 15 Jahren, bei Vergewaltigung
bei mindestens zwei Jahren.
Stattdessen gilt die Psychothera-
pie als wichtigstes Instrument
der Resozialisierung und für den
Schutz vor einem Rückfall, egal,
ob der Verurteilte unter der soge-
nannten Führungsaufsicht nach
einer Haft- oder Bewährungs-
strafe steht. Sexualstraftäter nei-
gen zur Bagatellisierung ihrer Ta-
ten, verleugnen ihre Schuld und
weigern sich, das Leid der Opfer
anzuerkennen. Ein Mangel an
Empathie sei ihnen gemeinsam,
in schweren Fällen fehle sie sogar
ganz, schreiben Mediziner im
„Deutschen Ärzteblatt“. Die The-
rapie soll das ändern, deshalb
wird sie von Gerichten oft als
Weisung mit angeordnet.
Doch bei der konkreten Um-
setzung müsste dringend nach-
justiert werden: Experten wie
Martin Rettenberger, Direktor
der Kriminologischen Zentral-
stelle in Wiesbaden, wo Sexual-
straftäter behandelt werden, be-
klagen nicht nur fehlende Thera-
pieplätze, sondern auch zu lange
Wartelisten: „Vor allem in den
Flächenländern kann man von ei-
ner Unterversorgung sprechen.“
Der Bedarf dürfte um ein Viel-
faches die Zahl der derzeitigen
Plätze übersteigen: Etwa fünf
Prozent aller Gewaltdelikte in
Deutschland gelten als Sexual-
straftaten, im Jahr 2018 waren
dies laut Polizeistatistik etwas
mehr als 9000 Fälle. Es gibt sta-
tionäre wie ambulante Angebote,
bei denen Psychologen oder So-

zialarbeiter mit den Tätern arbei-
ten. In den forensischen Psychia-
trien kommt ärztliche Unterstüt-
zung hinzu. Laut Rettenberger
sind jedoch viele niedergelassene
Therapeuten nur selten für die
Behandlung von Sexualstraftä-
tern qualifiziert, auch fürchten
viele um das Wohl ihrer anderen
Patienten. In fast allen Bundes-
ländern sind deshalb inzwischen
forensisch-therapeutische Am-
bulanzen zuständig.
Eine WELT-Recherche bei den
Justizministerien ergab zudem,
dass die wenigsten Bundesländer
Daten erheben und überprüfen,
wie viele Straftäter überhaupt ei-
ne ambulante Therapie absolvie-
ren, obwohl sie vom Gericht an-
geordnet wurde. Gleiches gilt für
eine Kontrolle. Lediglich die Hö-
he der Kosten, welche die Justiz-
ministerien jährlich ausgeben,
lässt Rückschlüsse zu. Berlin gibt
etwa eine halbe Million Euro
jährlich für die Behandlung von
Sexualstraftätern aus, Schleswig-
Holstein sogar rund 680.000 Eu-
ro – die Projektgelder müssen al-
lerdings jährlich neu beantragt
werden. Ähnlich hoch ist die

lerdings jährlich neu beantragt
werden. Ähnlich hoch ist die

lerdings jährlich neu beantragt

Summe in Niedersachsen. Im
Saarland müssen die Straftäter
die Therapiekosten selbst tragen;
nur wenn sie dies nicht können,
springt das Land ein, bringt dafür
jährlich maximal 12.000 Euro auf.
Eine forensische Ambulanz wird
dort gerade erst aufgebaut. Die
höchste pauschale Summe gibt
Bayern für die Nachsorge mit 6,6
Millionen Euro pro Jahr aus. In
der Regel sind die Kosten für die
Therapie gedeckelt. Eine Ausnah-
me stellen die Länder Baden-

Württemberg und Rheinland-
Pfalz dar. Beide übernehmen seit
2017 die Kosten für die Therapie
von entlassenen Straftätern un-
begrenzt. Und zwar sowohl für
jene unter Führungsaufsicht als
auch für Bewährungsfälle. Baden-
Württemberg bringt jährlich
36.000 Euro auf, die pro Klient
pauschal bezahlt werden.
Hinzu kommt, dass bislang
niemand weiß, welche Therapie-
form einen Rückfall wirklich ver-
hindern kann. Dazu fehlen syste-
matische Untersuchungen. Der
Bonner Sozial- und Rechtspsy-
chologe Rainer Banse hält dies
für einen „Anlass zu Befürchtun-
gen“. „Im Grunde ist unser Sys-
tem ein Blindflug. Eine vernünf-
tige Therapie eines Sexualstraf-
täters ist grundsätzlich sinnvoll,
doch wir müssen mehr darüber
wissen“, sagt Banse. Zwar sei die
Rückfallwahrscheinlichkeit bei
Sexualstraftätern im Vergleich zu
anderen Gruppen von Kriminel-
len gering. Doch wenn etwas pas-
siert, sind die Folgen gravierend.
Kaum eine Tätergruppe schä-
dige Opfer so nachhaltig wie je-
ne, die sexuelle Gewalt ausübt,
sagt auch Klaus Michael Böhm,
Richter am Oberlandesgericht
Karlsruhe und Vorsitzender der
Behandlungsinitiative Opfer-
schutz (Bios-BW). Er hat dazu ei-
ne klare Meinung: „Bei hochge-
fährlichen Menschen sollte man
eigentlich lebenslang Therapie
machen. Die Störung, die dieser
Mensch hat, wie beispielsweise
eine dissoziale oder pädophile,
die bleibt. Es geht dann darum,
einen Umgang damit zu finden.“
Doch die therapeutische Beglei-
tung von Straftätern ist häufig
zeitlich begrenzt. In der Regel
verhängen Gerichte für höchs-
tens fünf Jahre eine Führungs-
aufsicht, damit enden dann oft
auch die Therapien. Alarmierend
ist eine Untersuchung der foren-
sischen Ambulanz der Berliner
Charité aus dem Jahr 2014. Da-
nach sinkt das Risiko, dass ein
Sexualstraftäter während der
Therapie rückfällig wird, um 85
Prozent im Vergleich zu einem
Täter, der nicht nachbehandelt
wird. Doch am Ende der Behand-

MITTELMEER


Toter und Vermisste


nach Unwetter


Rund ums Mittelmeer haben
Unwetter vielerorts Überflu-
tungen, Schäden und Behin-
derungen im Flugverkehr ver-
ursacht. Besonders betroffen
war neben Spanien auch der
Süden Frankreichs. Die Ita-
liener konnten hingegen kurz-
zeitig durchschnaufen, nach-
dem am Wochenanfang im
Piemont nach heftigem Regen
mindestens zwei Menschen
ums Leben gekommen waren.
Auch in Spanien, wo speziell in
der Region Katalonien und auf
Mallorca sintflutartige Regen-
fälle niedergingen, gab es ein
Todesopfer zu beklagen. Ein
seit Dienstag in Arenys de Munt
vermisster Mann sei an einem
nahe gelegenen Strand gefun-
den worden. Der 70-Jährige war
offenbar von Wassermassen
mitgerissen worden und er-
trunken. In der Provinz Tarra-
gona suchten Einsatzkräfte
noch nach einer Mutter und
ihrem Kind.


PORTUGAL


Baby kommt ohne


Gesicht auf die Welt


In Portugal herrscht Entsetzen
nach der Geburt eines Babys
ohne Gesicht. Der Gynäkologe,
der die Mutter während der
Schwangerschaft betreut und
die Fehlbildungen übersehen
hatte, wurde wegen Fahrlässig-
keit für ein halbes Jahr von
seiner Tätigkeit suspendiert,
wie es hieß. Der Ärzteverband
und die Justiz leiteten Unter-
suchungen ein. Der kleine Ro-
drigo war am 7. Oktober ohne
Nase und Augen im Kranken-
haus von Setúbal südlich von


Lissabon auf die Welt gekom-
men. Dem Baby fehlte zudem
ein Teil des Schädels. Die Eltern
entdeckten die Fehlbildung erst
nach der Geburt. Sie stellten
daraufhin eine Anzeige gegen
den Gynäkologen. Das Neu-
geborene liegt noch im Kran-
kenhaus. Der Gynäkologe hatte
die Schwangere in einer Privat-
klinik in Setúbal betreut und
bei den drei vorgeschriebenen
Ultraschalluntersuchungen
keinerlei Probleme festgestellt.
Als er bei einer umfassenderen
Ultraschalluntersuchung auf
Wunsch der Eltern im sechsten
Schwangerschaftsmonat eine
mögliche Anomalie feststellte,
gab er dennoch Entwarnung.

WURSTHERSTELLER WILKE

Restbestände
werden entsorgt

300 Tonnen Lebensmittel des
nach Keimfunden geschlosse-
nen Wurstherstellers Wilke
werden vernichtet. „Mit der
Entsorgung der in der Firma
Wilke noch vorhandenen Rest-
bestände ist am heutigen Vor-
mittag begonnen worden“,
sagte eine Sprecherin des Land-
kreises Waldeck-Frankenberg.
Der Kreis in Nordhessen ist die
zuständige Überwachungs-
behörde und wird die Kosten
zunächst übernehmen. Waren
des inzwischen insolventen
Fleischproduzenten werden mit
drei Todesfällen und 37 Krank-
heitsfällen in Verbindung ge-
bracht.

KOMPAKT


LOTTO
Die Zahlen
Lotto: 1 - 7 - 16 - 19 - 26 - 31
Superzahl: 5
Spiel 77: 9013559
Super 6: 307402
(Alle Angaben ohne Gewähr)

fan Frommann Wissen: Dr. Pia Heinemann Kultur:
Andreas Rosenfelder Bücher:Dr. Mara Delius Pano-
rama: Claudia Kade Alle: c/o Axel Springer SE,
10888 Berlin, Axel Springer Straße 65.
Hamburg: Claudia Sewig, Axel-Springer-Platz 1,
20355 Hamburg Anzeigen: Kai-G. Ehrenschneider-
Brinkmann, Axel Springer SE, 10888 Berlin
Axel Springer SEvvvertreten durch den Vorstand Dr.ertreten durch den Vorstand Dr.
Mathias Döpfner (Vorsitzender), Jan Bayer, Dr. Stepha-
nie Caspar, Dr. Julian Deutz, Dr. Andreas WieleGe-
schäftsführer Print:Christian Nienhaus Verlags-
leiter Print:Petra Kalb, Stv. Heiko RudatAnzeigen:
Kai-G. Ehrenschneider-Brinkmann Redaktion Son-
derthemen: Matthias Leonhard
Verlag und Druck: Axel Springer SE, Vertrieb:Sales
Impact GmbH & Co. KG, alle 10888 Berlin, Axel-
Springer-Straße 65. Tel.: 030/25910.
Es gilt die WELT-Preisliste Nr. 97a, gültig ab 1. Janu-
ar 2019. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte für die
Nutzung von Artikeln für elektronische Pressespie-
gel erhalten Sie über die PMG Presse-Monitor
GmbH, http://www.presse-monitor.de. E-Mail: info@pres-
se-monitor.de. Der Preis für das Abonnement be-
trägt monatlich 18,90 € und kann zum Monatsende
beendet werden. Abbestellungen müssen dem Ver-
lag schriftlich sieben Tage vor Monatsende vorlie-
gen. Rechtshinweis: Alle Inhalte (Text- und Bild-
material) werden Internetnutzern ausschließlich
zum privaten, eigenen Gebrauch zur Verfügung ge-
stellt, jede darüberhinausgehende Nutzung ist un-
zulässig. Für die Inhalte fremder, verlinkter Inter-
netangebote wird keine Verantwortung übernom-
men.
Digitale Angebote erreichen Sie unter:
Tel. +800 / 95 15 00 0 E-Mail: [email protected]
Informationen zum Datenschutz finden Sie unter
http://www.welt.de/datenschutz. Sie können diese auch
schriftlich unter Axel Springer SE, Datenschutz,
Axel Springer Straße 65, 10969 Berlin anfordern.

IMPRESSUMVerleger Axel Springer (1985 †)
Herausgeber: Stefan Aust
Chefredakteur: Dr. Ulf Poschardt
Stellvertreter des Chefredakteurs:
Oliver Michalsky, Arne Teetz
Chefredakteure in der Welt-Gruppe:
Johannes Boie, Dagmar Rosenfeld
Stellvertretender Chefredakteur: Robin Alexander
Geschäftsführender Redakteur:Thomas Exner
Leitung Editionsteam:Christian Gaertner,
Stellv.: Philip Jürgens, Lars Winckler
Redaktionsleiter Digital: Stefan Frommann
Politik: Marcus Heithecker, Claudia Kade, Lars
Schroeder, Dr. Jacques Schuster Investigation/Re-
portage:Wolfgang Büscher, Stv. Manuel Bewarder
Außenpolitik:Clemens Wergin, Stv. Klaus Geiger,
Silke Mülherr Wirtschaft: Jan Dams, Olaf Gerse-
mann Kultur: Dr. Jan Küveler, Andreas Rosenfelder,
Stv. Hannah Lühmann Sport: Stefan Frommann
Wissen: Dr. Pia Heinemann, Stv. Wiebke Hollersen
Regionalred. Hamburg:Jörn Lauterbach WELT
Editorial Studio: Matthias LeonhardLayout/Pro-
duktion:Ronny Wahliß, Philippe Krueger, Gesa Voll-
born Foto: Stefan A. Runne Grafik: Karin Sturm
Nachrichten/Unterhaltung:Falk Schneider WELT-
plus:Sebastian Lange Community/Social: Thore
Barfuss und Wolfgang Scheida Video: Martin Heller


WELT kooperiert mit „El País“ (Spanien),
„La Repubblica“ (Italien), „Le Figaro“ (Frankreich),
„Le Soir“ (Belgien), „Tages-Anzeiger“,
„Tribune de Genève“ (beide Schweiz) und
„Gazeta Wyborcza“ (Polen)


Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes:Seite
1:Anne Heidrich Deutschland: Claudia Kade Aus-
land: Clemens Wergin Forum: Rainer Haubrich
Wirtschaft/Finanzen:Olaf Gersemann Sport: Ste-


Tausende


Sexualstraftäter


gibt es in


Deutschland.


Wer kontrolliert,


ob sie nach der


Haft eine Gefahr


darstellen?

Free download pdf