Die Welt Kompakt - 24.10.2019

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seien ein Fall für das Strafrecht.
Doch da endete der Konsens
schon. Das hatte auch damit zu
tun, dass auf der linken und der
rechten Seite des Hauses eine
Art Überbietungswettbewerb
stattfand, wer nun öfter zu Un-
recht dafür angegriffen werde,
die Meinungsfreiheit zu gefähr-
den. Die AfD-Abgeordneten
suchten die Schuld für einen an-
geblichen Niedergang der Mei-
nungsfreiheit bei Linker, Grü-
nen und SPD. Der Abgeordnete
Martin Reichardt (AfD) sprach
von den „Meinungstotalitaris-
ten“. Vertreter der drei genann-
ten Fraktionen, vor allem der
Linken und der SPD, attackier-
ten dagegen die AfD und beklag-
ten „Geschrei und wüstes Gepö-
bel von Rechtsaußen“ (Fried-
rich Straetmanns, Linke) als Ur-
sache für eine Art Sittenverfall
im Meinungsaustausch. Dabei
blieb eines während der gesam-
ten Debatte völlig diffus. Was
eigentlich Meinungsfreiheit ist.
Eigentlich erinnerte nur die
SPD-Abgeordnete Saskia Esken

daran, dass „die Meinungsfrei-
heit“, so wie sie das Grundge-
setz versteht, etwas über das
VVVerhältnis von Bürger und Staaterhältnis von Bürger und Staat
aussagt und nichts über das von
Bürgern zu anderen Bürgern.
„Die Meinungsfreiheit wird ge-
genüber dem Staat gewährt.
Vieles, was wir erleben müssen,
ist durch die Meinungsfreiheit
gedeckt, wir halten es aus, wir
sind eine starke demokratische
Gesellschaft“, sagte Esken in ei-
ner in der Debatte seltenen Ge-
lassenheit.
WWWenn die Präsidentin einerenn die Präsidentin einer
Hochschule Christian Lindner
nicht in ihren Räumlichkeiten
sprechen lasse, dann übe sie ein-
fffach ihr Hausrecht aus, sagte dieach ihr Hausrecht aus, sagte die
SPD-Politikerin. Der Staat habe
sich hier nicht einzumischen.
„Der Staat ist nicht dafür zu-
ständig, Ihnen, Herr Lindner,
ein Podium zu geben“, sagte sie
in Richtung des Abwesenden.
Nachfolgende Redner fühlten
sich bemüßigt, immerhin anzu-
erkennen, dass die Meinungs-
fffreiheit im klassischen Sinn jareiheit im klassischen Sinn ja

durchaus so zu verstehen sei,
wie Esken sie einführte. Sie füg-
ten jedoch danach immer ein
„Aber!“ an. Die Abgeordneten
sind eben auch nur Bürger, die
bei der Begriffsdefinition eben-
so ein Fragezeichen, wenn nicht
mehr Fragezeichen setzen wür-
den. Nicht wenige offenbarten,
dass sie den Widerspruch zur ei-
genen Meinung schon als eine
VVVerletzung der Meinungsfrei-erletzung der Meinungsfrei-
heit empfinden. Und das galt
mitnichten nur für die Vertreter
der AfD. Längst hat sich auch im
Bundestag ein sehr weitreichen-
des Verständnis des Begriffes
durchgesetzt. Er ist inzwischen
so unbestimmt und wird längst
nicht nur im Verhältnis zum
Staat definiert, wodurch unzäh-
lige Missverständnisse pro-
grammiert sind.
Der Bundestag hat also ei-
gentlich gar nicht über die Mei-
nungsfreiheit gesprochen.
Nicht über Verschärfungen des
Netzwerkdurchsetzungsgeset-
zes, nicht über Upload-Filter,
nicht über Maßnahmen zur Zen-
sur von Medien, Kultur oder po-
litischer Debatte. Er hat eigent-
lich darüber gesprochen, dass
die Bürger – und eigentlich auch
sie selbst – verlernt haben, sach-
lich und unter Hinnahme der
Meinung anderer miteinander
zu diskutieren. Elisabeth Win-
kelmeier-Becker (CDU) brachte
es als Einzige richtig auf den
Punkt: „Die Mehrheit der Men-
schen hält sich bei Tabuthemen
im vorauseilenden Gehorsam
zurück.“ Sie schlussfolgerte also
richtigerweise: „Wir müssen die
Meinungsfreiheit zwischen den
Bürgern neu austarieren.“

minister Thomas de Maizière
(CDU) in Göttingen daran ge-
hindert, aus seinem Buch „Re-
gieren“ vorzulesen. Die Revol-
tierenden werden der linken
Szene zugerechnet. Dabei ist de
Maizière nun kein rechter
Scharfmacher und sein Buch
wahrlich kein streitbares Werk,
es ist eher hübsch fade politi-
sche Prosa. Das macht den Fall
umso bemerkenswerter. Die
AAAusschreitungen, die mit demusschreitungen, die mit dem
VVVersuch des AfD-Mitbegründersersuch des AfD-Mitbegründers
Bernd Lucke in Hamburg ein-
hergehen, wieder als Ökonomie-
professor zu arbeiten, bestim-
men schließlich seit einer Wo-
che die Schlagzeilen. Auch am
Mittwoch ist die Vorlesung er-
neut gestört und abgebrochen
worden. Das sind nur die aktu-
ellsten Ereignisse. Vor allem
auch AfD-Politiker erleben es
immer wieder, dass ihre Büros
Ziel von Angriffen werden.
Allein darin waren sich alle
Redner im Bundestag einig: Sol-
che Attacken haben mit Mei-
nungsfreiheit nichts zu tun. Sie

A


ls PR-Aktion war die
von der FDP beantrag-
te Aktuelle Stunde zur
„Meinungsfreiheit in
Deutschland“ ein Misserfolg.
Denn deren Chef Christian
Lindner, dem noch am Vortag
die Universität Hamburg unter-
sagte, in ihren Räumlichkeiten
zu sprechen, war gar nicht an-
wesend. Das monierten denn
auch einige Redner anderer
Fraktionen. Lindner aber gab
mit seiner Abwesenheit einen
seltsamen und doch irgendwie
passenden Kommentar zu der
ganzen Debatte ab. Er könnte
lauten: Wenn es einen persön-
lich betrifft, dann regt man sich
über eine vermeintliche Miss-
achtung der eigenen Meinungs-
fffreiheit massiv auf. Wenn esreiheit massiv auf. Wenn es
dann aber darum geht, die Mei-
nungsfreiheit als Prinzip, das
fffür alle gelten muss, zu verteidi-ür alle gelten muss, zu verteidi-
gen, dann schweigt man – oder
geht nicht hin.

VON THOMAS VITZTHUM

Die Debatte im Bundestag
war aus Sicht der Abgeordneten
angebracht. Reiht sich der Fall
Lindner doch ein in eine ganze
Serie von Vorkommnissen, bei
denen Politiker auf diese oder
jene Weise daran gehindert wur-
den, ihre Meinung zu sagen,
oder für ihre Meinung „be-
straft“ wurden. So traf es etwa
am Dienstag den CDU-Politiker
Jan-Marco Luczak aus Berlin,
dem die Scheiben seines Büros
eingeworfen wurden; offenbar
weil Luczak den neuen Berliner
Mietendeckel ablehnt. Am Mon-
tag wurde der ehemalige Innen-

D


er Ton im Land wird rau-
er und der Raum für ei-
nen offenen Meinungs-
austausch offenbar selbst an
Hochschulen immer kleiner. Es ist
erst eine Woche her, dass an der
Universität in Hamburg der AfD-
Mitbegründer und Wirtschafts-
wissenschaftler Bernd Lucke sei-
ne erste Vorlesung nach seiner
RRRückkehr an die Uni wegen hefti-ückkehr an die Uni wegen hefti-
ger Protestenicht halten konnte.

VON HEIKE VOWINKEL

Am Dienstag beklagte nun die
Präsidentin der Berliner Hum-
boldt-Universität (HU), Sabine
KKKunst, in der Sitzung des Akade-unst, in der Sitzung des Akade-
mischen Senats einen „Trend, sich
von einem offenen, respektvollen
Meinungsaustausch zu verab-
schieden und den Raum stattdes-
sen mit Polemik, Beleidigungen
und Diffamierungen zu füllen“.
Offensichtlich hielt Kunst es für
unumgänglich, derart deutliche
WWWorte zu wählen – angesichts ei-orte zu wählen – angesichts ei-
ner Auseinandersetzung zwischen
Studierenden des ReferentInnen-
rates (eine Art Regierung der stu-
dentischen Selbstverwaltung,
heißt an anderen Hochschulen
AStA) und einem Professor, die
sich zuletzt immer weiter zuge-
spitzt hatte.

KKKunst sprach von „Entgleisun-unst sprach von „Entgleisun-
gen“, die „ein schlechtes Licht auf
die Universität“ werfen. Zwar
nannte die Präsidentin keine Na-
men, doch allen Beteiligten war
klar, um welchen Professor es sich
handelte: den Osteuropa-Histori-
ker Jörg Baberowski.
WWWeil dieser sich in politischeneil dieser sich in politischen
Beiträgen etwa gegen Merkels

Flüchtlingspolitik ausgesprochen
hatte, werfen Vertreter des Refe-
rentInnenrates (RefRat) ihm seit
Längerem Hetze gegen „Flücht-
linge“ und rechtes Gedankengut
vor. Bei seinen Vorlesungen ver-
teilten sie Flugblätter mit Warn-
hinweisen. Ein von Baberowski
geplantes Zentrum für verglei-
chende Diktaturforschung an der

HU kam nicht zustande, nachdem
Studierende vertraulich behandel-
te Gutachten von Professoren
zum Zentrum öffentlich gemacht
hatten – mit dem Ziel, dieses zu
verhindern. Seitdem ist der Streit
eskaliert.
Die beiden RefRat-Vertreterin-
nen Bafta Sarbo und Juliane Zieg-
ler kritisierten im August in ei-

nem Interview mit dem Deutsch-
landfunk das Zentrum sowie die
Positionen Baberowskis, worauf-
hin der Historiker diese in einem
Facebook-Post als „linksextremis-
tische Fanatiker“ und „unfassbar
dumm“ bezeichnete. Den Post hat
er inzwischen gelöscht. Im Sep-
tember machte Baberowski dann
die Universitätsleitung auf einen
Kommentar der Studentin Sarbo
auf Twitter aufmerksam. Sie hatte
den Tweet eines Twitter-Account-
Inhabers mit Namen @realsozia-
list geteilt und als „sehr guten
Tweet“ bezeichnet. Dieser laute-
te: „Wir sagen, natürlich, die
Springer-Journalisten sind
Schweine, wir sagen, der Typ an
der Tastatur ist ein Schwein, das
ist kein Mensch, und so haben wir
uns mit ihm auseinanderzuset-
zen. Das heißt, wir haben nicht
mit ihm zu reden, ... und natürlich
kann geschossen werden.“
Es handelte sich dabei um ein
aaabgewandeltes Zitat von Ulrikebgewandeltes Zitat von Ulrike
Meinhof aus dem Jahr 1970, das
sich ursprünglich auf Polizisten
bezog. Der Gewaltaufruf war nach
der Befreiung Andreas Baaders
aus der Haft in West-Berlin er-
schienen. Es war der Beginn der
Rote-Armee-Fraktion (RAF), de-
ren terroristische Aktionen bis zu
ihrer Selbstauflösung Ende der

Meinungsfreiheit


Was ist das?


Der Bundestag diskutiert über die Meinungsfreiheit.


Dabei wird klar, dass jeder sich längst seine eigene


Meinung über das Grundrecht bildet


„Polemik, Beleidigungen und


Diffamierungen“ statt Austausch


Die Präsidentin der Berliner Humboldt-Universität kritisiert
„Entgleisungen“ im Streit zwischen einem Historiker und Studierenden

Ort des Streits um Beleidigungen: Berliner Humboldt-Universität

DPA

/MAURIZIO GAMBARINI
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