Berliner Zeitung - 26.10.2019

(Ron) #1
Sabine Rennefanz

Meinung


8 * Berliner Zeitung·Nummer 249·26./27. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


Zwischentöne


wahrnehmen


K


aumeinThemahatdieStadtunddie
KoalitionseitihremAntrittmehrin
Atem gehalten als das neue Mieten-
deckel-Gesetz,dasamDienstagimSenat
aufeinensteinigenWeggebrachtworden
ist. Denn auchwenn dieKoalitionäre
nachstundenlangenBeratungensotaten,
als ob man sich einig sei, hinter derrot-
rot-grünenFassade sieht es anders aus.
DerMietendeckeloderderBruchderKo-
alition? Nichts weniger als diese Frage
standimRaum.UnddieAntwortbrachte
SPD,Linke undGrüne wohl zum ersten
Malani hreGrenzen.
DerEntwurf,aufdenmansichgeeinigt
hat, ist ein zähneknirschenderKompro-
miss.Wolltemanesnurdanachbewerten,
welche Partei der rot-rot-grünenKoali-
tion sich durchgesetzt hat, dann müsste
man wohl sagen, dass die SPD am meis-
ten Federnlassen musste.Sie wolltevor
allem dieAbsenkungsmöglichkeitenver-
hindern,weil sie Sorgehat, dass dasGe-
setz sonst nichtvordem Verfassungsge-
richt standhält.DieSorge ist berechtigt.
Mehrer eGutachtenkommenzudemFa-
zit,dasseintemporärerMietenstoppgute
Chancehat,vorGerichtzubestehen.Die
AbsenkungvonMieten ist jedoch heikel,
sieistdasLindenblattdesMietendeckels.
Denn so könnte das gesamteGesetz auf
der Kippe stehen. Scheitertes, hätte die
Koalition, die eigentlich mal mit dem
Mietendeckel das gleicheZiel verfolgte,
eine Chanceverpasst, mit einem durch-
aus streitbarenInstrument einen echten
Systemwechsel in derWohnungspolitik
einzuleiten.


DasGesetz ist aber auch deshalb so
viel mehr,weil in denDebatten sichtbar
wird, wie heterogen das ThemaWohnen
inder Stadtbetrachtetwird.Daszeigtsich
andenleidenschaftlichgeführtenDiskus-
sionen genauso wie an dem erbitterten
Kampf, dasGesetz zu stoppen.Undjen-
seitsderExtreme –vomausbeuterischen
Spekulanten bis hin zu den vielenMie-
tern, die mehr als 40Proz ent ihrerEin-
künfte für dieMiete berappen müssen –
gibt es eben auch nochGruppen, die in
der Debatte untergehen.Ja,esg ibt die
kleinenVermieter,die sich bisher an den
Mietspiegel hielten und die jetzt inNot
geraten.Diesich kaum trauen, zuzuge-
ben, dass sieVermieter sind.Dienun
rechnen, ob sie sichSanierungsarbeiten
nochleistenkönnenunddieseimZweifel
liebererstmalaufEislegen.Neiddebatten
führen hier allerdings nichtweiter,sie
spaltenaberweiter.
DerWeg,den BerlinmitdemMietende-
ckelgeht,istmutig.Füranderemagertoll-
kühnsein.Fürwiederanderegleichterei-
nemplanwirtschaftlichenHorrorszenario.
DieBedenkenvonHandwerkern, die sich
um Auftragsverluste sorgen und die Nöte
vonkleinen Eigentümernernst zu neh-
men,passtvielleichtnichtinseigeneBild,
wennmaneinBefürworterdesMietende-
ckelsist.DieAufgabevonPolitik–undei-
gentlich auchvonjedem, der sich in die
Debatteeinschaltet–istesaber,auchdiese
Bedenken ernst zu nehmen.DerMieten-
deckelwirdnunersteinmalkommen.Das
ist auch gut so.Die eigentliche Arbeit be-
ginnt aber erst jetzt:Zu beobachten, wie
sich dasGesetz auf denWohnungsmarkt
auswirkt–sollten dieGerichte es nicht
stoppen.Unddazugehör tauch, dieZwi-
schentönewahrzunehmen.


Mietendeckel


Melanie Reinsch
befürwortet den Mietendeckel und
hörtKritiker nebenso zu.

Ja,esg ibtVermieter,


die sich an denMiet-


spiegelhieltenunddie


jetzt in Notgeraten.


Dienun rechnen, ob


sie sich Sanierungsar-


beiten noch leisten


können und diese erst


mal auf Eislegen.


AUSLESE


Die Revolution


befördern


M


andyTrögerwuchsinderHaupt-
stadtderDDRauf.VergangenesJahr
wurdesievonderUniversitätIllinoispro-
moviert.Heute arbeitet sie in München
an der Ludwig-Maximilian-Universität.
EsgibtkeineDarstellung,indermankla-
rererkennt, wie die bundesdeutschen
Zeitungsverleger nicht nur die alte DDR-
Pressezu Fallbrachten,sondernauchver-
hinder ten, dass eine
vonihnen unabhän-
gige,neue Presse ent-
standalsTrögersBuch.
Es schildertdie Ent-
wicklungindenMona-
ten zwischen dem
9.November 1989 und
dem3. Oktober1990.
Am 8. Mai1990 tra-
fen sichVertreter des
Bauer-Verlags,von
Springer,Gruner+Jahr
und Burdamit dem
neuen DDR-Medien-
minister.Sie beantrag-
tennichtetwaeineGe-
nehmigung für ein zu
schaffendes Pressevertriebssystem. Das
hatten sieind en vergangenenMonaten
schonaufgebaut.Sieverlangten,dassdie
DDR-Regierung diesen Gesetzes bruch
schluckte.DiesesdievierGroßverlagepri-
vilegierendeVertri ebssystemwäreauchin
derBRDillegalgewesen.
Alle zaghaftenVersuche einer neuen,
offenen Pressestruktur,die am Ende der
DDRgestartetwurden,wurdenschonda-
malsvondengroßenWestko nzernentor-
pediert.Später löste dann dieTreuhand
nicht etwa die lokalen undregionalen
Pressemonopole auf.Sievergab sie viel-
mehranwestlicheUnternehmen.Fürdie
war das vieleJahrelang ein gutesGe-
schäft.BisdieZeitungskrisekamundkei-
ner –schon gar nicht die ganzGroßen –
einRezeptda gegenh atte.
Vomdamaligen G+J-Vorstandsvorsit-
zenden Gerd Schulte-Hillen gibt esvom
März1990einemit„KeineÜberschwem-
mung durch West-Presse“ überschrie-
bene Erklärung, in der es heißt:„Revolu-
tionäreZeiten erfordernungewöhnliche
Vorgehensweisen, will man dasZiel der
Revolutionbefördern.“Damalskämpften
die Westkonzerne um Aufteilun gder
BeuteDDR-P resse.ImJuni1991 verk aufte
Lothar Biskydem britischenZeitungs-
magnatenRobert Maxwellu nd G+J den
Berliner Verlag.ArnoWidmann

ThüringerWurst-Problematik BERLINER ZEITUNG/HEIKO SAKURAI

Kenia in


Potsdam


D


ie neue Landesregierung in
Brandenburgsteht:Esisteinin-
teressantesExperiment,dennes
isteinesogenannteKenia-Koali-
tion aus der seit 30Jahren regierenden SPD
sowie den beiden bisherigenOppositions-
parteienCDUundGrünen.Einesolchevon
SozialdemokratengeführteKoalitiongibtes
bislang nicht.DasDreier-Bündnis war not-
wendiggeworden,weildieAfDbeiderLand-
tagswahl am 1.September so starkzugelegt
hatte,dassgegendieRechtsnationalenkeine
Zweier-Koalitionregierenkann.
DerAufstiegderAfDverändertdiepoliti-
schen Landschaftradikal. Dasbietet immer
auchdieGelegenheit,ausgewohntenDenk-
musternauszubrechen undNeues zu wa-
gen.InBrandenburggabSPD-Ministerpräsi-
dentDietmarWoidkeseinesolide,aberauch
recht glanzlos agierenderot-rote Regierung
auf. Dereher konservativeSozialdemokrat
folgte dann aber nicht–wie vonvielen er-
wartet –dem Berliner Modell einesrot-rot-
grünen Bündnisses.Das war richtig, denn
eineMehrheit vongerademaleinerStimme
imLandtagwäreeinfachzuknappgewesen.
VorallemaberhätteRot-Rot-Gründiepo-
litische Landschaftweiter verändert:Denn
gegen eine solche„linkeRegierung“ stünde
im Parlament eine starke konservativeOp-
positionausCDUundAfD.Wenndiesebei-
den dann gegen dieRegierung opponiert
und polemisierthätten, wären dierechten
Kräfte in der CDUweiter gestärkt worden
undhättenwohldieNähederAfDgesucht.
Nunregiertquasi die inhaltlich größt-
möglichegroßeKoalition.Siehatsichselbst
dasMottoauferlegt:„Zusammenhalt,Nach-
haltigkeit,Sicherheit–ein neuesKapitel für
Brandenburg“.IndieserRegierungkannsich
dieSPDnunalssozialeParteiprofilieren,un-

NeueKoalition


Jens Blankennagel
wundertsich, dass die neue Regierung mit
solch massiven Schulden startet.

gestörtvonder KonkurrenzderLinken.Das
giltvorallembeimUmbauderLausitzvom
Kohlerevier zum geplantenWissenschafts-
und Zukunftsstandort.DieCDU stellt den
Innenminister und gibt nun den Law-and-
Order-Partgegen die AfD.Und die Grünen
bedienen dieWünschevoneinem beachtli-
chen Teil der Bevölkerung nach mehrUm-
welt-,Natur-undKlimaschutz.
DieseRegierungkann,wennsichdiedrei
nicht schnell wieder zerstreiten, ein zu-
kunftsfähigesModell sein,weil es nicht auf
links undrechts ankommt oder ein Über-
maß an Gemeinsamkeiten, sonderndarauf,
dass viele Aspekte der gesellschaftlichen
Realitätbedientwerden.DochtrotzallerZu-
kunftsgewissheitderKenianerlegtdieneue

Regierung auch einen bedenklichen 180-
Grad-RichtungswechselbeimGeldausgeben
hin. Oft heißt es:DieRoten –also SPD und
Linke –geben dasSteuergeld gernmit bei-
denHändenaus,umi hrKlientelmitSozial-
geschenkenzubedienen.
Daswarin Brandenburganders:Rot-Rot
setzteaufdiemühevollenundwenigglanz-
vollenTugendenderHaushaltsdisziplinund
desSparens .SowurdenÜberschüsseerwirt-
schaftet, es wurden die Rücklagen auf zwei
Milliarden Euro erhöht und auch noch 850
Millionen Euro Altsch ulden getilgt.Dasist
durchaus eine beachtliche Leistung.Trotz-
dem musste sichRot-Rot jahrelangvonder
Opposition–also vonCDU undGrünen –
anhören, dass bitte möglichst schnell eine
Schuldenbremse einführtwerden soll, um
nichtaufKostender Enkelzuleben.
Nunaber steigen CDU undGrüneindie
Regierung ein, und dieZeiten desSparens
sindschlagartigvorbei:Keniawill600Millio-
nenEuromehrausgeben,alsesindermittel-
fristigenFinanzplanungvorg esehenwar.Zu-
sätz lichsolleneineMilliardeSchuldenfürei-
nenZukunftsfondsaufgenommenwerden–
kurzgesagt: Kenia ruft ein Jahrzehnt des
GeldausgebensundderInvestitionenaus.
Dasirritier twegendereinstsehrlautvor-
getragenenSparforderungen.Aber es muss
nicht falsch sein.Denn der Zeitpunkt ist
günstiginZeitenvonNegativzinsenundbil-
ligemGeld.Außerdemwäreesa uchfahrläs-
sig,die Infrastrukturzerfallenzulassen.
TrotzdemwirktdasGanzeüberhastet–so
als wär edavor falschregiertworden. Denn
die neueRegierung muss sich mit dem
Schuldenmachenbeeilen:Am1.Januar
tritt die Schuldenbremse in Kraft, und es
dürfennurinNotfällenzusätzlicheSchulden
aufgenommenwerden.

Jugendliche


wollenkeine


Gleichberechtigung


M


eineTochterspieltamliebstenmitih-
rerBabypuppe.SieschiebtsieimWa-
gen herum, trägt sie auf dem Arm, streicht
ihrüberdenRücken,singtihreinSchlaflied.
Undesi st rührend sie dabei anzuschauen.
Ichweiß, dass sie ein kleines Mädchen ist
unddassdiePräferenzkleinerMädchenfür
Puppen keineAussage über ihreberufliche
Zukunfttrifft.Trotzdembeschleichtmichein
Gedanke,ichschämemicheinbisschenda-
für,aberichkannihnnichtverdrängen:Was
ist,wennsiespäternurHausfrauundMutter
sein will? Daswärewahrscheinlich die
größteRebelliongegenmich,ihreMutter,die
aus demWochenbett wiederTexte schrieb.
Ichwürdeesakzeptieren,abereswärehart.
Einpaar Tage später,nachdem ich dar-
über nachgedacht hatte,fiel mir die neue
Shell-Jugendstudie in die Hände.Seit 1953
werden alle vierJahreüber eintausendJu-
gendlichezwischen12und25zuihrenWer-
ten, Träumen, Hoffnungen undEinstellun-
gen befragt.In diesem Jahr wurde erstmals
auchdieFragegestellt,wiesichdieJugendli-
chenihr eArbeitszeitmitdemPartnerauftei-
lenwürden,wennsie30Jahrealtwärenund
einzweiJahrealtesKindhätten.
54 Proz ent derJugendlichen sprachen
sich für ein „männlichesVersorgermodell“
aus,indemder Vater mit dreißig bis vierzig
Stunden Wochenarbeitszeit den Löwenan-
teilzumHaushaltseinkommenbeiträgtund
die Mutter nur mit maximal zwanzigWo-
chenstundenetwasdazuverdient.Dassehen
Jungs und Mädchen so,Mädchen ist es of-

KOLUMNE


fenbarsogarnochwichtiger,dassder Partner
schuftet.DasIdeal des männlichen Allein-
versorgers ,bei dem dieMutter zu Hause
bleibt,unterstützennurzehnProz entder Ju-
gendlichen.AbergleichberechtigteModelle,
beidenenbeideVollzeitarbeitenoderbeide
reduziertarbeiten, findet nur ein Drittel
ideal.Ichlasdiese Ergebnisseundwardepri-
miert. Ausgerechnet diese jungenFrauen,
die doch so selbstbewusst, starkund aufge-

klärtwirken, träumenvomLeben alsTeil-
zeit-Mutti?Istdasdas ErgebnisvondenDe-
batten über Lohnlücken, #MeToo,väterli-
cher Beteiligung?„Es ist sehr überraschend
fürunsundaucheineerstaunlicheEntwick-
lung, dass so viele junge Leute sich auf den
Wegeiner Re-Traditionalisierung machen“,
sagte dieFamilienministerinFranziska Gif-
fey bei derVorstellung derStudie.Vielleicht
orientieren sich dieJugendlichen auch nur
daran,wassiejedenTagsehen:zuHause,auf
derStraßeundindensozialenMedien.Papa
arbeitetVollzeit, Mamaverdientwasdazu,ist
aberunbezahlteFamilienmanagerin.Dasist
vorallemindenbevölkerungsreichenwest-
deutschenBundesländernso,imOstenläuft
esabertraditionellerweiseetwasanders.Im
Osten können sich laut derStudie mehr als
dieHälftederMädchenundjungenFrauen
auch mit Kleinkind eine Arbeitswochevon
30Stundenundmehrvorstellen,imWesten
hingegennur26Proz ent.FürdieOst-Jugend
istGleichberechtigungoffensichtlichwichti-
ger als für diewestdeutschenJugendlichen.
DaswichtigsteVorbildfürdieVorstellungen
sinddieeigenenEltern,denZusamm enhang
stellendieForscherheraus.
Am Abend beobachtete ich meineToch-
termitihrer Puppi.SielegtesieindenPup-
penwagen, setzte sich an denTischmit ei-
nemStiftundeinemBlock:„IchArbeit“.

SabineRenne fanzliest aus neuen Kolumnen am 22.1.20,
20 UhrPfefferbergTheater.Mehr Infos: literatur-live-ber-
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8 * Berliner Zeitung·Nummer 249·26./27. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


MandyTröger:
Pressefrühlingund
Profit–Wiewest-
deutscheVerlage
1989/1990 den
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Herbertvon Halem
Verlag,356 Seiten,
25 Euro.
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