WELTWUNDER Monks Mound ("Mönchshügel'') ist das Herzstück von Cahokia- die Stufenpyramide kann
als sinnbildlich gelten für die strikte gesellschaftliche Hierarchie der untergegangenen Zivilisation
geschliffenen Schalen formten die Um
risse eines Falken, ein Ve rweis auf den
"Vogelmann", eine Figur in den Mythen
vieler Native Americans. Wer der Be
stattete war, ist in Ve rgessenheit gera
ten. Aber kein Zweifel: Hier ruhte ein
mächtiger Anführer, der beanspruchte,
mit den Göttern im Bunde zu sein.
S
o zeigt sich auch in der Art, wie
die Bewohner Cahokias ihre To
ten begruben, eine soziale Hie
rarchie. "Die da oben" führten nicht
nur ein besseres Leben - etwa, indem
sie ausweislich archäologischer Funde
mehr Fleisch aßen. Sie hatten auch den
besseren To d. Ungleichheit, Brutalität
und Großstadttrubel: All das wider
spricht dem weitverbreiteten Bild der
Native Americans als Menschen, die im
Einklang mit Natur und Stammesbrü
dern lebten. Zugleich aber verrät ihr
Verhalten, woraus diese Zivilisation ihr
Wissen und ihre Rituale schöpfte: die
Stufenpyramiden, die Herrschaft gott
gleicher Männer, die monumentalen
Kriegsspiele und der massenhafte Op
fertod- all das ähnelt den Hochkultu
ren Mexikos in jener Epoche.
Doch welche von ihnen beeinflusste
Cahokia? Waren es die Maya, Olmeken,
Zapoteken oder To lteken? Die Antwort
liegt im Dunkeln. Womöglich kamen
die Neuankömmlinge als Händler -
und blieben, dank ihres überlegenen
Wissens, als Herrscher. Dabei könnten
sie die Einheimischen auch strategisch
schlau davon überzeugt haben, dass die
Supernova am Himmel den Beginn ei
ner Ära ankündigte: ihrer Ära.
Und die Menschenopfer? In vielen
Pflanzerkulturen jener Zeit galt der
herbeigeführte Tod als notwendig, um
die Welt am Laufen zu halten. Auch die
Mitglieder der Mississippi-Kultur sa
hen, wie die Sonne unter- und wieder
aufging, wie der Mond ab- und wieder
zunahm und die Maispflanzen starben,
um zu neuem Leben zu erwachen. Und
so, sagten ihnen wohl ihre Priester,
müssten auch Menschen sterben, damit
die Gesellschaft weiterleben konnte.
Aus ihrer Sicht tränkte das Blut der To
ten die Erde wie Wasser ihre Äcker. Ob
die Rituale wirklich purer Spiritualität
oder auch praktischen Erwägungen ge
schuldet waren, bleibt unklar. DieMen
schenopfer hatten jedenfalls nützliche
Nebeneffekte: Machthaber konnten
sich so rivalisierender Familien entle
digen. Damit keine neue Generation de
ren Tod rächen konnte, töteten sie auch
die gebärfähigen Frauen eines Clans.
Trotz aller Gräuel gedieh Cahokia
etwa 150 Jahre lang. Die meisten Ein
wohner profitierten von Frieden, Sta
bilität und genügend Nahrung. Bis
zum Atlantik im Osten und dem Golf
von Mexiko im Süden reichten ihre