P.M. History - 11.2019

(Nandana) #1

danach auch ganz ordentlich, wenn
auch ganz anders, feiern konnten.
Die geweiteten Herzen führten zu
Problemlösungen, die heute fa st kit­
schig wirken. Eine alte Dame erzähl­
te mir mal, wie das in Mari mit dem
Schächten war: In eine Einzelhaussied­
lung (ganz ähnlich der, in der ich als
Oberarzt-Kind aufwuchs) zogen Mitte
der 70er-Jahre die ersten türkischen
Steiger-Familien. So weit, so gut. Aber
dann drangen eines Tages klägliche
Tierlaute aus der türkischen Garage,
Blut floss in den öffentlichen Gully. Die
deutschen Frauen verklickerten ihren
Männern abends: Ihr geht jetzt rüber
zu den türkischen Kerlen und sagt de­
nen, dass das mit dem Schlachten ein
Ende hat, aber fix. Das Problem: Die
deutschen hatten sich mit den türki­
schen Männern gerade angefreundet,
Sprachbarrieren beiseitegeräumt, Raki
und Korn geteilt. Kurz: Die Männer hat­
ten keinen Bock auf Stress. Und saßen
die Sache aus. Woraufhin die Frauen
(die stolzesten sitzen im Ruhrpott!) zu
den Türkinnen gingen - nur um fest-


zustellen, dass diese das Schlachten
keineswegs billigten. Sie wussten nur
zu gut, dass das Ärger gibt. Die Lösung
entstand in der Frauenrunde: Ein tür­
kischer Cousin wurde gedungen, einen
gekachelten Raum zu besorgen - das
blutige Geschäft wurde fortan dort er­
ledigt. Eine der ersten Haial-Schlachte­
reien des Potts war geboren.

D

iese bedingungslose Freundlich­
keit trug und trägt die Menschen
bis heute. Und weil die Welt täg­
lich beschissener wird, hält man umso
trotziger an dieser Gutmenschigkeit
fest. Anders gesagt: Ruhrgebietlet spre­
chen das ganze Elend nach außen hin
zwar sehr direkt und schonungslos aus,
aber im Privaten sind wir gut darin,
uns die Welt schönzureden, auch mit
guten Ta ten. Schalke-Fans, und ich bin
einer, wissen, was ich meine: Nie waren
wir Meister in der Bundesliga. Wir sind
Schalker, nicht weil wir so erfolgreich
sind, sondern weil wir nicht anders
können. Anders als die Bayern planen
wir keinen Erfolg, können wir auch gar

nicht. Wir leben von der Hoffnung, aber
die ist immer groß. Gar nicht auszu­
denken, wenn wir mal wirklich Meister
würden- unser Lebensthema fiele weg.
Thema Hoffnung: Kurz bevor ich
nach Mari zog, wurde dort 1974 der
"Marler Stern" gebaut, knallmodern,
eine der ersten Shoppingmalls Europas.
Heute stehen viele der 130 Läden leer,
den Rest dominieren Schlüsseldienste
und Ein-Euro-Shops. Ich habe da als
Kind meine Nachmittage verbracht.
Heute gehe ich nicht mehr hin, nicht
mal zum Gucken. Habe aber vor Tagen
gelesen, dass ein runderneuerter Stern
eröffnet werden soll, im Herbst. 35 Mil­
lionen investiert ein Herr Schulte-Kern­
per, dem Namen nach ist der Mann aus
der Gegend. Ach, Mari, ich wünsche
mir so sehr, dass du wieder leuchtest.
Glückauf, du graue Stadt. •

Stephan Draf pflegt in der P.M.­
Redaktion mit zwei Kolleginnen
ein Ruhrgebietswörterbuch. Ein
Lieblingseintrag: "plästern". Das
1 bedeutet "regnen".
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