Die Welt - 23.10.2019

(Rick Simeone) #1

N


eid ist überall. Sehr an-
schaulich und von allen
Seiten kann man ihn zum
Beispiel beim Fliegen er-
leben. Wie eine Studie
zum Phänomen „Air Rage“ aus dem
Jahr 2016 zeigte, sind Economy-Passa-
giere aggressiver oder neigen gar zu
Wutausbrüchen, wenn sie beim Boar-
ding durch die Erste Klasse laufen müs-
sen, um ihren Sitzplatz zu erreichen.
Klingt nachvollziehbar, denn allein die
Beinfreiheit oder die Aussicht auf eine
bevorzugte Behandlung durch die Crew
machen eben ... neidisch. Doch die Stu-
die zeigte, dass auch die First-Class-
Passagiere zu gereizteren Mitmenschen
werden, wenn der „Pöbel“ durch ihren
Gang muss. Der Grund: Die neidischen
Blicke sind ihnen unangenehm. Auch ih-
nen wird die soziale Ungleichheit vor
Augen geführt, dazu lässt sich Miss-
gunst eben schwer aushalten. In den
Körpern aller Reisender an Bord steigt
das Level an Stresshormonen, wenn das
Boarding aufgrund der Flugzeugeingän-
ge nur so funktioniert.

VON CLARA OTT

Neid ist kein schönes Gefühl. Nie-
mand mag ihn, noch weniger Menschen
können offen zugeben: „Mann, bin ich
neidisch auf dich!“ Im Gegensatz zu an-
deren Emotionen wie Freude, Wut oder
Scham können wir den Neidimpuls, der
sich wie ein Stich ins Herz oder ein flau-
es Gefühl in der Magengegend anfühlen
kann, nämlich oft nicht richtig zuord-
nen. Jemand wird im Büro befördert,
ein befreundetes Paar erwartet ein Baby
oder der beste Freund hat zehn Kilo ab-
genommen – aber freuen kann man sich
für den anderen nicht. Warum eigent-
lich nicht? Wieso können wir nicht gön-
nen oder uns gar den Satz „Toll, das hät-
te ich auch gern geschafft“ abringen?
Wahrscheinlich weil Neid nicht den
allerbesten Ruf hat. Wir kennen die Ge-
schichte von Kain und Abel. Wir wissen,
dass Tiere wie Kröten, Schlangen oder
grünäugige Monster ihn symbolisieren,
die Farbe Gelb oder das grüne Gesicht.
Neid ist die sechste Todsünde Invidia
und damit die einzige Sünde, die keine
Freude macht. Wir haben gelernt, dass
wir uns Neid „erarbeiten“ müssen, aber
selten, wie wir ihn aushalten und damit
richtig umgehen, damit er uns nicht in-
nerlich zerfrisst. Denn auch das kann
Neid: Er macht krank, belastet die Psy-
che und das Herz, zerstört Freundschaf-
ten oder die Liebe. Kurzum: Wer stän-
dig neidet, wird zu einem eher unange-
nehmen Mitmenschen.
Verena Kast ergründet das kompli-
zierte Gefühl seit Jahrzehnten. Die
Schweizer Psychologin forschte als
Professorin für Psychologie am C.-G.-
Jung-Institut in Zürich viel zum Neid,
inzwischen ist sie 76 und im Ruhe-
stand. Eines ihrer Fachbücher trägt
den Titel „Neid und Eifersucht – Die
Herausforderung durch unangenehme
Gefühle“. Der Unterschied zwischen
beiden sei leicht zu erklären, sagt sie:
„Zur Eifersucht gehören immer drei,
zum Neid zwei.“ Bei der Eifersucht
möchte man etwas, was man bereits
besitzt, nicht verlieren. Beim Neid be-
sitzt man es leider nicht.
Verena Kast bedauert Neider. „Solan-
ge ich etwas will, was meinen eigenen

Fähigkeiten nicht entspricht, solange
kann ich alles, was ich habe und kann,
nicht positiv erkennen“, sagt sie. „Ich
sehe nur, was die anderen haben, mit
einem Vergrößerungsglas. Diese Men-
schen sind gefangen im Griff von einer
Kraft in sich, die ständig sagt: Du müss-
test anders sein, besser sein, du hast
noch lange nicht genug gemacht.“ So
ein Leben sei schwer auszuhalten und
bedarf mitunter einer tiefenpsycholo-
gisch orientierten Psychotherapie. Neid
könne Menschen krank machen, bis hin
zur schweren Depression.
Frauen neigen beim Neiden zu Trau-
rigkeit oder dazu, resigniert an sich

selbst zu zweifeln. Männer empfinden
meist Wut und reagieren aggressiv.
Dass Neid nicht nur im Flugzeug mit
sozialer Ungleichheit und Hierarchien
verknüpft ist, wies auch eine Studie der
Stanford University(2017) mit Bonobos
nach. Denn die Zwergschimpansen, die
zu den engsten Verwandten des Men-
schen gehören, neigen beim Neidim-
puls dazu, auszurasten und diese Ag-
gression in der Hierarchiekette weiter
nach unten zu geben. Ärgern die Alpha-
tiere einen schwächeren Konkurrenten,
lässt der seine Wut an Weibchen oder
an Jungtieren aus. Evolutionsbiologen
sagen, dass die Tiere so mit Neid umge-
hen, um ihrem Gefühlschaos Herr zu
werden.
Blickt die Psychologin Verena Kast
auf die Neidmomente in ihrem eigenen
Leben zurück, muss sie lachen. Auch,
wenn die Situationen damals schmerz-
haft waren. „Früher wurde ich oft benei-
det, weil ich mit meinen Büchern so
fffrüh Erfolg hatte“, erzählt sie. Einmalrüh Erfolg hatte“, erzählt sie. Einmal
habe ihr ein Kollege zu einem neuen
Buch gratuliert, indem er sagte: „Das ist
schön geworden – und weniger ober-
ffflächlich als deine anderen Bücher!“lächlich als deine anderen Bücher!“
WWWar das ein vergiftetes Lob? Verenaar das ein vergiftetes Lob? Verena
Kast nennt die Reaktion lieber „ambiva-
lenten Neid“. Der Kollege habe ver-

sucht, gönnend zu sein, trotzdem krach-
te die Guillotine herunter. Kast bewahr-
te Ruhe. „Spricht man Menschen auf ih-
ren Neid an, kränkt das enorm – und
macht den Neidenden noch aggressi-
ver.“ Stattdessen bedankte sie sich und
wertschätzte die unfreiwillige Offen-
heit: „Schön, dass du versuchst, deinen
Neid in Schach zu halten.“ Ihr Gegen-
über sei perplex gewesen, dann hätten
beide gelacht. Und Humor, betont Kast,
sei ein sehr gutes Mittel gegen den
Neidstich – für beide Seiten.
Denn Neid lässt sich schwer verdrän-
gen oder ignorieren, er muss raus. Wird
er weder ausgesprochen noch reflek-
tiert, wird er zum destruktiven Neid.
„Menschen, die neiden, zerstören
einem die Freude an etwas. Und Freude
zu zerstören ist etwas ganz, ganz
Schlimmes“, sagt Kast. Diese Form des
Neids belastet eine Freundschaft oder
Beziehung zum Partner, denn er führt
zu einer unehrlichen Kommunikation
oder im äußersten Fall zum Auseinan-
derdriften. Neidet jemand, wird der Be-
neidete versuchen, künftig weniger
Neid zu wecken. Wer will schon ständi-
ge Missgunst ertragen? Also ver-
schweigt ein erfolgreicher Freund dem
jobmäßig unzufriedenen Kumpel, dass
er schon wieder vom Chef gelobt wur-

de. Und die frisch verknallte Singlefrau
erzählt der unglücklich verheirateten
Freundin nicht, dass sie einen tollen
Mann kennengelernt hat. So schleicht
sich der Neid in die Freundschaft.
Aber was hilft dagegen? „Zugeben!
Sagen: Die Idee hätte ich auch gerne ge-
habt! Da bin ich neidisch!“, rät Kast ein-
dringlich. Radikale Offenheit sei befrei-
end, für den Neidzerfressenen und für
den, der ihm den Neid an der Nasen-
spitze ansieht. Ja, es ist schwer, einer
Arbeitskollegin die Beförderung zu gön-
nen, die man selbst gern hätte. „Gratu-
liere! Ich bin stolz auf dich, wie hast du
das geschafft?“ Das zu sagen, wäre aber
für alle Seiten produktiver.
Meldet sich der Neidimpuls, solle
man sich selbst fragen: „Möchte ich ei-
gentlich mehr aus meinem Leben ma-
chen? Was genau neide ich jetzt?“ Diese
Fragen weisen den Weg aus dem Tabu.
So lässt sich die zerstörerische Kraft
des Neids eindämmen. Wer versuche,
diesen Weg zu gehen, sei oft verblüfft
über das neue Lebensgefühl, das sich
einstelle. „Die Anzahl unserer Neider
bestätigt unsere Fähigkeiten“, stellte
auch schon der Dichter Oscar Wilde
fest. Neid kann nützlich sein – wenn
man ihn versteht.
Warum etwa werden wir neidisch auf
Dinge, die in der Zukunft liegen? In der
Zukunft von anderen, wohlgemerkt.
Hat der Arbeitskollege den Urlaub auf
Hawaii noch vor sich, können wir ihm
das weniger gönnen, als wenn er zurück
ist und in der Mittagspause von Maui
schwärmt. Wie Psychologen der Uni-
versität Chicago 2017 herausfanden
schmerzt ein in greifbarer Zukunft lie-
gendes Ereignis eines anderen uns
mehr, als eine Reise, die längst zum Er-
fahrungsschatz eines Menschen gehört.
„Das sollte ICH sein!“, denkt man,
wenn der andere das Flugzeug nach Ho-
nolulu besteigen will.
Der Neid legt Sehnsüchte offen,
Träume, Bedürfnisse. Ein Flug nach Ha-
waii wäre jetzt schön. Oder eine andere
Reise in die Sonne? Wohin würde man
selbst gerade gern verschwinden? Und
warum eigentlich? Neid kann konstruk-
tiv sein, wenn wir ihn zulassen und ihm
nachspüren. Und dann bringt man auch
ein „Wow, Hawaii! Du machst mich nei-
disch“ über die Lippen. Nicht ohne
Grund hieß „Nid“ im Germanischen
übrigens Antrieb oder Wetteifer.
Ausgerechnet Facebook-Chef Mark
Zuckerberg arbeitet übrigens derzeit
daran, dass die sozialen Medien nicht
ständig beim Durchscrollen der Timeli-
nes neidvollen Wetteifer provozieren.
In sechs Ländern, darunter Australien,
Italien und Japan, wird für Facebook
und Instagram aktuell eine Funktion
getestet, die Missgunst im Keim erstic-
ken soll: Die Likes werden ausgeblen-
det. Das bedeutet, dass die Anzahl der
Nutzer nicht mehr angezeigt wird, die
einen Post oder ein neues Bild gelikt ha-
ben. Waren es nur 20 oder 2000?
Lediglich die Namen der Freunde
und Follower, die ein Like vergeben ha-
ben, werden noch angezeigt. Das Unter-
nehmen teilte mit, man wolle damit den
Menschen und seine Erfahrungen wie-
der mehr in der Vordergrund stellen –
und den Drang verringern, sich anhand
von Zahlen ständig mit anderen Nut-
zern zu vergleichen. Solche Situationen
liebt der Neid nämlich.

Neidische Menschen


zerstören die Freude


Es fühlt sich an wie


ein Stich ins Herz:


Wieso fällt es so


schwer, Neid offen


zuzugeben? Über


ein ungeliebtes


Gefühl – und wie


man es nutzt


GETTY IMAGES

/JENNY DETTRICK

20


23.10.19 Mittwoch, 23. Oktober 2019DWBE-HP


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DIE WELT MITTWOCH,23.OKTOBER2019 SEITE 20


WISSEN


D


ie größte Unsicherheit bei
Prognosen für das Weltkli-
ma geht von den Wolken
aus. Wolken können das Licht der
Sonne direkt ins All zurückschicken.
Dieses reflektierte Licht trägt dann
nicht mehr zur Erwärmung der Erde
bei. Die Frage ist nur: Werden wir in
Zukunft eher mehr oder weniger
Wolken haben? Und kann eine grö-
ßere Wolkenbedeckung den Trend
der globalen Erwärmung bremsen?
Wolken entstehen aus kleinsten
Wassertröpfchen, die sich in der At-
mosphäre an winzigen Partikeln bil-
den – den sogenannten Aerosolen.
Viele dieser Aerosole sind men-
schengemacht und gelangen aus In-
dustrieschornsteinen in die Atmo-
sphäre. Klimaforscher schätzen,
dass der bisherige Temperaturan-
stieg noch größer ausgefallen wäre,
wenn nicht Aerosole die Wolkenbil-
dung stimulieren und damit letzt-
lich die Erde kühlen würden.
Nun haben Wissenschaftler aus
Frankreich, Japan und Österreich
einen bislang unbekannten Effekt
entdeckt, der die Bildung von Wol-
ken sehr stark fördert. Im Fachjour-
nal „PNAS“ berichten sie, dass soge-
nannte Pyridinium-Ionen die Ent-
stehung von Wassertropfen an Aero-
solpartikeln stark beschleunigen.
Damit kommt diesen Ionen eine
große Bedeutung im Verständnis des
Klimawandels zu. Pyridin ist ein
ringförmiges Molekül aus Kohlen-
stoffatomen, wobei ein Kohlenstof-
fatom durch ein Stickstoffatom er-
setzt ist. Beim Pyridinium-Ion ist
eine positive elektrische Ladung an
diesem Stickstoffatom lokalisiert.
Dem Wachstum eines Wasser-
tröpfchens wirkt ein Effekt entge-
gen: An der Oberfläche des Tropfens
verdampfen immer wieder auch
Wassermoleküle, sodass der Tropfen
dadurch an Masse verliert. Bei Expe-
rimenten in einem Labor der Uni-
versität Lyon stellten die Forscher
fest, dass die Anwesenheit von Pyri-
dinium-Ionen das Verdampfen von
Wasser am Tropfenrand behindert.
Dies bedeutet, dass Pyridin das
Wachstum von Wasseraggregaten in
der Atmosphäre und damit die Ent-
stehung von Wolken fördert.
Die Wissenschaftler zeigten sich
von ihrem Forschungsergebnis sel-
ber überrascht. Dass Pyridinium-Io-
nen bislang nicht in Wassertropfen
der Atmosphäre nachgewiesen wur-
den, hängt nach Einschätzung der
Forscher möglicherweise damit zu-
sammen, dass dieses Molekül nicht
in den Tropfen verbleibt, sondern
diese wieder verlässt.
„Pyridin ist in den allerersten
Phasen der Bildung von Nanotrop-
fen beteiligt. Wenn der Wassertrop-
fen wächst, wird das Pyridin eventu-
ell wieder freigesetzt“, erklärt Co-
Autor Professor Tilmann Märk von
der Universität Innsbruck, „dann
kann das Molekül erneut eingreifen,
um einen nächsten Tropen zu bil-
den.“ Das Pyridin wirkt also wie ein
Katalysator, der etwas stimuliert,
dabei aber selber nicht verbraucht
oder verändert wird. Pyridin ent-
steht bei der Verbrennung von Bio-
masse, also beispielsweise beim Ab-
brennen von Regenwald. Weitere
Pyridin-Quellen sind Autoabgase
und auch Tabakrauch. Die Lebens-
dauer von Pyridin-Molekülen in der
Atmosphäre schätzen die Forscher
auf rund eineinhalb Monate.
Die neuen Erkenntnisse zeigen,
wie kompliziert die Vorgänge bei der
Entstehung von Wolken sind. Ande-
re Forschungsarbeiten hatten be-
reits einen Einfluss der kosmischen
Strahlung auf die Bildung von Wol-
ken gezeigt. Noch ist es zu früh, aus
dem Pyridin-Effekt Schlussfolgerun-
gen für die Entwicklung des Klimas
zu ziehen. Klar ist allerdings, dass
man auch diese bislang unbekannte
Wechselwirkung in den Klimamo-
dellen wird berücksichtigen müssen.

EINE MINUTE PHYSIK


NORBERT LOSSAU


MMMolekül bremstolekül bremst


KKKlimawandellimawandel


D


er Lebensmitteldiscounter Lidl
will seine Kunden dazu bewe-
gen, künftig weniger Zucker zu
konsumieren. Die Methode klingt indes
fragwürdig: Mit einem speziellen Löffel,
der in der Mitte eine Erhebung hat, soll
der Konsument seinen Zuckerver-
brauch um bis zu 20 Prozent senken.

VON MAI SAITO

Doch nimmt derjenige, der bisher
drei Löffel Zucker in den Kaffee gerührt
hat, künftig nicht vier Löffel für das ge-
wohnte Geschmackserlebnis? Ob sich
mit dem ab 24. Oktober erhältlichen
„Lidl-Löffel“ der innere zuckersüchtige
Schweinehund überlisten lässt, erklärt
Ernährungspsychologe Christoph Klot-
ter von der Hochschule Fulda.

WELT:Die große Frage, die im Raum
steht: Funktioniert der „Lidl-Löffel“
oder ist es nur ein Marketinggag?
CHRISTOPH KLOTTER:Nein, der Löffel
kann die Psyche niemals austricksen. Es

sei denn, der Löffel wird von jemandem
eingesetzt, der Zucker reduzieren will,
also bewusst etwas ändern will.

Aber hat der Löffel nicht auch für an-
dere Konsumenten einen positiven
Einfluss auf die Gesundheit?
Nein, der direkte Einfluss des Löffels
auf die Gesundheit ist nicht erwiesen.
Außerdem hat die Deutsche Gesell-
schaft für Ernährung e. V. (DGE) bereits
im Jahr 2011 festgestellt: Es gibt keine
wissenschaftliche Evidenz, dass Zucker
an sich ungesund ist.

Zucker zu verteufeln ist derzeit neben
Fleischverzicht ein großer gesell-
schaftlicher Trend. Vor einigen Mona-
ten warb Lidl mit einem fleischlosen
Hamburger. Will der Discounter also
auf den Zug der gesunden Ernährung
aufspringen?
Ja, schließlich sind auch das Gesund-
heitsministerium oder die Industrie auf
diesen Zug aufgesprungen. Dem Image
von Lidl tut diese Kampagne gut, weil

sie den Konsumenten vermittelt:
„Wir stehen auf eurer Seite und
möchten mit euch gegen den
Zucker kämpfen.“ Aber nichts
aus der Wissenschaft bestä-
tigt, dass der Löffel gesund-
heitlich wirksam ist. Es wäre
wünschenswert, wenn Lidl
dazu empirische Studien
durchführen würde.

Worauf ist der potenzielle Er-
folg der Kampagne psycholo-
gisch zurückzuführen?
Es gibt die sogenannte Intention-Ver-
haltens-Lücke. Sie beschreibt das
Phänomen, dass das, was wir wollen,
und das, was wir tun, nichts mitein-
ander zu tun haben müssen. Und das
trifft auch für diesen Fall zu: Wir wol-
len den Zucker reduzieren, aber das
hat nichts direkt mit der Gesundheit
zu tun. Dennoch fühlen wir uns gut.

Soll der Zuckerkonsument also
mit diesem Löffel nur sein eigenes

Gewissen besänftigen?
Ja, der Verbraucher beru-
higt damit eher sein Ge-
wissen, als dass er ge-
sünder is(s)t.

Kann der Löffel im
Gegenteil vielleicht
sogar Schaden anrich-
ten?
Nein, der Löffel ist si-
cherlich nicht schädlich –
der Löffel versucht ja nicht,
den Konsumenten zum Un-
gesunden hin zu manipulieren.
Schließlich gilt immer noch:
Die Dosis macht’s. Und es stellt
sich auch immer die Frage, wer
solch einen Löffel benutzt.
Wenn ein Mensch zehn Ku-
chen am Tag isst, ist das
schließlich auch nicht gesund.

Würden die Verbraucher den Unter-
schied überhaupt schmecken, wenn
sie tatsächlich 20 Prozent weniger
Zucker verwendeten?
Der Markt bietet ja mittlerweile viele
zuckerreduzierte Produkte: Von Scho-
kolade bis Ketchup ist alles mit dabei.
Die Erfahrung sagt, dass man keinen
Unterschied schmeckt.

Welche Alternativen gibt es, die der
Gesundheit tatsächlich guttun?
Das Allheilmittel gibt es nicht, zumal
80 Prozent unseres Essverhaltens un-
bewusst und emotional gesteuert sind.

Nehmen wir durch etwas wie den Löf-
fel die Ernährung bewusster wahr?
Ja, auch bei diesem Löffel stellen wir
uns die Frage nach einer gesünderen Er-
nährung. Und das ist gut: Schließlich ge-
hen wir bewusster mit unseren Lebens-
mitteln um und bewirken indirekt
etwas Gutes.

Das Interview wurde telefonisch geführt.


Ein Löffel gegen die Zuckersucht


Ernährungspsychologe Christoph Klotter erklärt, welche Wirkungen die Verwendung eines neuen Speziallöffels von Lidl haben kann


Dieser Zuckerlöffel kann ein
neues Bewusstsein schaffen

LIDL

/747 STUDIOS

WISSENSCHAFTSREDAKTION: TELEFON: 030 – 2591 719 50|E-MAIL: [email protected]|INTERNET: WELT.DE/WISSENSCHAFT


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