Sport
20 Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
DerZauberlehrling
RichieMo’ungazeigtschonbeiderRugby-WMinJapan,dassereineÄraderneuseeländischenNationalmannschaftprägenkann
VonSissi Stein-Abel, Christchurch
E
sgibt ein ganz besonderes
Bild aus derVor-Selfie-Zeit
- RichieMo’unga war
14 Jahrealt und batDan
Carter,mitihmfüreinFotozuposie-
ren. Derdamals 26Jahrealte Carter
war der überragendeSpielmacher
der Crusaders,der Super-Rugby-
Franchise in Christchurch, und der
AllBlacks,Neuseelandslegendärer
Nationalmannschaft,undMo’unga
hattedenTraum,irgendwannein-
malindieFußstapfenvon„Danthe
Man“zutreten.BeidenCrusadersist
ihmdaslängstgelungen.Mo’unga,
dessenMutterLilaausSamoaund
dessenVater Saimone aus Tonga
stammt,hatdieFranchise(Klub)in
derLigadersüdlichenHemisphäre
zudreiTitelninFolgegeführt.Und
jetzt,elfJahrenachdemSchnapp-
schuss,haterbeiderWeltmeister-
schaftinJapandieChance,imersten
Versuchdaszuschaffen,wozusein
Idol drei, eigentlich sogar vier An-
läufebrauchte,weilCarterbeim Tri-
umph der AllBlacks 2011 imFinale
gegenFrankreichmiteinemAdduk-
torenrissverletztzuschauenmusste:
denWebb-Ellis-Cup in die Höhe zu
recken.
Dazu müssen die AllBlacks im
Halbfinale amSonnabend (10Uhr
MESZ) England schlagen und dann
imFinaleeineWochespäterdenSie-
ger des Duells zwischenWales und
Südafrika.Dasistgutmöglich,nicht
zuletzt,weilsichdieDoppelspielma-
cher-Rolle mitNewcomer Mo’unga
inder zentralen RollemitderNum-
mer zehn und Beauden Barrett, der
in die Position desFullbacks (Num-
mer15) versetztwurde,immermehr
alsWunderwaffeentpuppthat.
UngewöhnlicheFähigkeiten
DasBemerkenswerteandieserKon-
stellationist,dassMo’unga,25,zwar
nicht aus demNichts kam, aber bei
seinemrasantenAufstiegzumRegis-
seur desNationalteams denWelt-
rugbyspielerderJahre2016und
vondessen Lieblingspositionver-
drängte.Völlig zurecht, denn in der
Super-Rugby-Liga überstrahlte der
junge Mann aus Christchurch die
Konkurrenz, während „BB“, der in
der neuenSaison vonden Hurrica-
nesin WellingtonzudenBluesnach
Auckland wechselt, inDrucksitua-
tionen und beimKicken (Penalties
undBonuskicks)Defiziteaufwies.
Mo’ungas Spielmacher-Qualitä-
ten erkannteJoeLeota, Trainer am
St.Andrew ’s College,sehr früh. „Er
konnte Dinge sehen, bevor sie pas-
sierten“,erzählter,„erkanneinSpiel
unglaublichgutlesen.Underh atdas
nötige Selbstvertrauen.“Dazu pas-
sen dieAussagen desZauberlehr-
lings,der erst 15 Länderspiele auf
demBuckelhat,nachdemViertelfi-
nal-Kantersieg gegenIrland: „Beim
„Footy geht es darum,Spaß zu ha-
ben. Mantrainiertdie ganz eWoche
und hängt sichrein, und amWo-
chenendewillmanzeigen,wasman
kann.“DerDauerdruck,demdieAll
Blacks als dreifacher Weltmeister
undTitelverteidigerausgesetztsind,
hemmt ihn nicht, sondernbeflügelt
ihn: „Ich liebeHerausforderungen.
Wenn man keinWettkampf-Typ ist,
sinkt dasNiveau und die Leistung
lässtnach.“
DanCarter ,der nach der WM
2015seineKarrier ebeidenAllBlacks
beendete,zuR acingPariswechselte
und nun nach einerNackenopera-
tion im Aprilnoch ein Jahr bei den
Kobelco Steelers inJapan anhängen
wird,hatdenMaßstabfürdieEinstu-
fung vonSpielmacherngesetzt. In
Neuseeland wurde dem 37Jahreal-
tenMaestrodafüreineArtDenkmal
gesetzt mit derEnde August in den
Kinos angelaufenenFilmdokumen-
tation „APerfect 10“.Dieperfekte
Nummerzehn,der Mann,derdenkt
und lenkt undSpiele entscheidet.
MitSchnelligkeit,Gewandtheit und
Präzisionskicks erzielte er in 112
Länderspielen 29 Tries und 1598
Punkte,ein Rekordfür die Ewigkeit.
Er ve rteilte denBall blitzschnell mit
Hand undFuß, überrumpelte geg-
nerische Abwehrreihen, war trotz
fehlender Kleiderschrank-Statur
(1,78 m/96 kg) unerschrocken beim
Tackling. Mo’unga, 1,78Meter groß
und88 Kiloschwer,einwitzigerTyp
mit verschmitztem Lächeln, leich-
temWatschelgangunddickenOber-
schenkeln,hatdieselbenQualitäten.
Beiden Crusaders wie bei den All
BlackshaterdieindirekteNachfolge
desWeltrugbyspielersderJahre2005,
2012 und 2015 angetreten.Aber es
dauertebiszum23.Juni2018,eheer
in Frankreich sein elfminütigesDe-
büt bei den AllBlacks feierndurfte.
InseinemerstenEinsatzvonAnfang
anerzielteeram8.September
gegenArgentinien16Punkte.
UnvergleichlichesFinale
DenneuenDirigenten,derinseiner
Freizeit Klavier spielt und gerne −
abernacheigenenWortenschlecht−
tanzt, musste der 28-jährige Barrett
(82 Länderspiele)erst akzeptieren.
„Fullback ist nicht meine Lieblings-
position“,gibt der große,schlanke
Supersprinter (1,87 m/92 kg) zu,
„aber wenn es für die All Blacks das
Besteist,habeichkeinProblemda-
mit.RugbyisteinMannschaftssport,
es geht nicht um mein Ego, und ich
sehedieVorteilederAufgabenvertei-
lung.“MitjedemSpielwachsenHar-
monie und Verständnis,nachdem
sichMo’ungaandiehöherenAnfor-
derungen im Vergleich mit Super
Rugbygewöhnthat.„Manmussum-
denken,denn man hat weniger Zeit
und Raum für alles,was man tut“,
sagt er.„Es liegt in meinemBlut zu
rennenundanzugreifen,aberwenn
manaufdiesestürmendenAbwehr-
reihen trifft, die einen unglaublich
unter Druck setzen, muss man ein-
fachandersagierenunddieMitspie-
leranderseinsetzen.“
DasInteressante ist, dass Beau-
den Barrett auch bei der Weltmeis-
terschaftvorvierJahrennuralsFull-
backzumEinsatzkam,denndamals
gabDanCarterdenTonanundver-
abschiedetesich nach schier endlo-
sen Tiefschlägenin seiner Karriere
miteinemunvergleichlichenFinale,
wohl wissend,dass dies seine letzte
Chance war,Weltmeisterzu werden
unddabeiselbstRegiezuführen.Er
erzielte beim 34:17-Triumph über
Australien 19 Punkte,darunter ein
Dropgoal, und zur Krönungseiner
Karriereverwandelteer den Bonus-
kick nach dem letzten Try, den der
damals eingewechselte Beauden
Barrett erzielt hatte,mit dem „fal-
schen“ Fuß, dem rechten. DanCar-
ter machte nämlich alles mit Links,
Richie Mo’unga ist Rechtsfüßler.
UndWeltmeister muss er erst noch
Beauden Barrett muss akzeptieren, wieder die Nummer zwei zu sein. GETTY/PETERS werden.
Richie Mo’unga ist vielseitig begabt. Das Kicken gehörtzuseinen Stärken. AFP/BEHROUZ MEHRI
KampfgegeneineSperre
DieWelt-Antidoping-Agenturentscheidet,wieRusslandimFalleinermutmaßlichmanipuliertenDatenbankzuverfahrenist.DerKremlscheintVorwürfenzweigleisigzubegegnen
VonStefan Scholl, Moskau
J
uriGanusredetund redet,seit Wo-
chen, er redet mit russischen
Sportblättern,westlichenRadiosen-
dern, derStaatsagenturInterfax: Je-
mandhabetausendeAngabeninder
Datenbank desMoskauer Antido-
ping-Laborsverändert,systematisch
und organisiert.Diese Datenbank
aber sei unterKontrolle desrussi-
schen Ermittlungskomitees gewe-
sen,einerderhöchstenKriminalins-
tanzendesLandes.Ganus,Chefder
russischenAntidoping-Agentur(Ru-
sada), wiederholt: „Für diejenigen,
die die Datenbank manipuliertha-
ben, stellte dasErmittlungskomitee
keineBarrier edar.“ Underf ährtfort:
„LassenSieuns darüber nachden-
ken,werdasgewesenseinkann?“
In Russland tobt ein Krieg der
Worte: DopingchefjägerJuri Ganus
gegen denRest der vaterländischen
Sportwelt.Heute will dieWada be-
stimmen, wie groß derBetrug dies-
mal gewesen ist.Undwie har tman
ihn bestrafen soll.DieKommission
sollentscheiden,obdieihrimJanuar
vonden russischenBehörden über-
gebenen Computerdaten wirklich
gefälscht sind.Undwelche Konse-
quenzendasfürRusslandsSporthat.
Ganus befürchtet das Schlimmste.
„WirhabenkeineChance,anO lym-
piateilzunehmen“,sagteerderZei-
tung MoskowskiKomsomoljez. Er
meintdieSpiele2020inTokio.
Im September war bekanntge-
worden, dassWada-Experten auf
der umstrittenenDatenbankSpu-
renmassiver Manipulationen ge-
funden hatten.DieWada zweifelt
ander EchtheitvonDopingtestda-
tendes MoskauerLaborsvon
bis2015.Ganus auch.Derfrühere
Topmanager,seit 2017 Chef der
Rusada, macht Front gegen
höchsterussischeSport- undSi-
cherheitsorgane.Einer Zeitung
antwortete er auf dieFrage nach
den Schuldigen: „Fragen SieKo-
lobkow.“Pawel KolobkowistRuss-
landsMinisterfürSport.
Ganus sprichtvonRussland als
„Gewohnheitstäter“, er scheint sich
um Kopf und Kragenreden zu wol-
len. DieBehörden würden seine E-
Mails lesen, hörten seineTelefonate
ab und überwachten sein Haus,
klagteerderNewYorkTimes.„Esist
wirklich gefährlich für mich.“Man
schische Leichtathleten haben ihn
wegen Verleumdung verklagt. Er
hatte ihnen in einemInterview mit
der französischenZeitung L’Équipe
Blutdopingvorg eworfen.„Ganushat
schon so viel daher geredet“,
schimpft dieFachzeitungSportex-
press ,„dasswirunsalleeinenStrick
nehmen sollten,vorSchmach und
mag ihm glauben, imJanuar 2016
floh seinVorgänger GrigoriRodt-
schenkowind ie USA, kurzdarauf
starben zweiweiterefrühereRu-
sada-Topfunktionäreunerwartete
Herztode,einervonihnenplanteein
BuchüberDopinginRussland.
Auch Ganus hat jetzt keinen
leichtenStand. Mehrer etschuwa-
Schande.“UndAltstarfußballtrainer
WaleriGassajewwirftGanus„unpro-
fessionelles,unethischesundunpat-
riotischesVerhalten“vor.
Aber die Sportobrigkeitreagiert
eher phlegmatisch.Minister Kolob-
kowantworteteaufGanus‘Vorwürfe
ungerührt, für solch schwerwie-
gende Vorwürfe bedürfe es seriöser
Bewe ise.Putin-SprecherDmitriPes-
kowerklärte ,esg äbe erst etwas zu
kommentieren,wenn die Wada ihre
Entscheidunggefällthabe.
AllesTaktik?
Russland hat sich an extrem peinli-
che Dopingskandale gewöhnt.Und
daran, dass es vergleichsweise
glimpflich davonkommt. Beiden
verg angenenWinterspielen in Süd-
korea etwa durften 169 russische
Sportler antreten,wenn auch nicht
untereigenerFlagge.
Diesmal scheint es,als wolle der
Kreml dem Datenbank-Skandal
zweigleisigbegegnen:Sportministe-
riumundNOKdementierenwieüb-
lich,Rusada-ChefGanusaberprofi-
liertsich als einsam aufrechter Do-
pingbekämpfer.Erk ommt dabei
auchinstaatlichenMedienwiedem
Auslands-SenderRussia Today zu
Wort.Und das Fachportal sports.ru
glaubt, Ganus rede auf Anweisung
des Kremls: „Ersoll der Wada klar-
machen:DieSchuldigen der neuen
Affäresitzen aufBeamtenstühlen,
die Rusada selbst aber ist ein Licht-
strahlimReichder Dunkelheit.“Auf
diese Weise wolle manverhindern,
dassdie WadagemäßderAutomatis-
menihrerRegelndieRusadasperrt.
InderHoffnung,dassauchdasInter-
nationaleOlympischeKomitee und
die internationalen Verbände da-
nachdenKopfindenSandstecken.
Aberim April2018verschärftedie
Wada die Standards zurEinhaltung
ihres Antidopingkodexes.Das
könnte auch fürRussland härtere
Sanktionenbedeuten.Entscheidend
wirdwohldieschriftlicheRechtferti-
gungsein,dendierussischenSport-
behördenderWadainzwischenvor-
gelegt haben.Aber der Brite Jona-
than Taylor,der Leiter derWada-
Kommission, sagte schon im
September,die Russen müssten
wohl einKaninchen aus demHut
ziehen, um die Anormalitäten auf
der Datenbank glaubwürdig zu er-
klären.
Begehrter Interviewpartner:Juri Ganus, Chef der Rusada. IMAGO IMAGES