Berliner Zeitung - 23.10.2019

(Brent) #1
Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019–Seite 23
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Feuilleton


„DerklassischeKriminalromanisteinwestlichesErzählmodell.“


DerKrimiautorMaxAnnasimGesprächmitFrankJunghänelSeite24


DieSchönheitdes Vergänglichen


PeterKurzecksRomanausdemNachlass:„DervorigeSommerundderSommerdavor“


VonJan Konnefke

I

nihrem jüngst erschienenen
Buch„I mMangoschatten.Von
der Vergänglichkeit“ erinnert
sichdieAutorinBiancaDöring
an Peter Kurzeck, dessen Lebensge-
fährtinsiewar,undseinverschmitz-
tes Lächeln,als er ihr,kurzvor sei-
nem TodimNovember 2013 versi-
chert: „Ich sterb nämlich nicht.
Nämlichnie.Wirklich. Bindoch zu-
ständigfürdieWelt,wiekannichda
sterben.“
Zuständig für die Welt und ihre
Vielfaltwarder1943imSudetenland
geborenePeterKurzeck,der1946als
Vertriebener ins hessischeStaufen-
bergkommt,woer31Jahreineiner
Flüchtlingswohnung lebt, ehe er,
1977,nachFrankfurtamMainzieht,
in allen seinen Büchern. Zuständig
für die Welt –mehr noch für ihre
Flüchtigkeit. Dabei kehrtsich in
Kurzecks Aufzählungs- und Be-
schreibungskunstdiebekannteVer-
gänglichkeit des Schönen in die
Schönheit des Vergänglichen um:
„Juni,nochfrüh.Wildundsüßriecht
amMorgenvonallenSeitendasBüf-
felgras.Morgenlicht.Gartentürchen.
BambusundSchilf.SilberneinSalz-
see.Reiter.Die Ferne. Hintereinan-
der eine ganzeGruppe vonReitern
hinterdemSalzseeamanderenUfer
entlang.VögelrufenausdemSchilf.
Vorgärten.EinHotel...“
Diese Stelle aus dem vonRudi
Deuble und Alexander Losse aus
demNachlassherausgegebenenRo-
man „Der vorige Sommer und der
Sommer davor“, der den siebten
Band des Romanprojekts vonPeter
Kurzeck,„DasalteJahrhundert“,bil-
den sollte,belegt die Besessenheit,
mitderderErzählervergangeneEr-
fahrung undverg änglicheDinge zu
retten versucht. Seine Sätz elassen
sich keineZeit, denn dieZeit geht
durchdenErzählerhindurch,selbst
wenn er im Sommerhimmel von
Saintes-Maries-de-la-Mer den „An-
fangderEwigkeit“vorAugenzuha-
ben meint.Im Staccato einesStils,
der wiederkehrend aufVerben und
Hilfsverbenverzichtet, kann er sich
nicht häufig genug darüber wun-
dern,dass„jetztjetztist“.
ÜberhauptscheintdieErzählung
demRhythmusdesPulsschlagszu
folgen.Zudemist besagtes„jetzt“
auchlängstkein„jetzt“mehr,denn

Kurzeck erinnertsich in seinem
Buch an den„vorigenSommer und
den Sommer davor“, die er mit sei-
ner Freundin Sibylle,der erst drei-,
dann vierjährigen gemeinsamen
TochterCarina sowie denFreunden
Jürgen undPascal einBarja cund
Saintes-Maries-de-la-Mer 1982 und
1983 verbrachte ,aus zeitlich weiter
Ferne.Erve rgegenwärtigtsie,indem
er in präsentischerErzählung auf-

Warzuständig für dieWelt und die Dinge:Peter Kurzeck(1943–2013) LAIF/ISOLDE OHLBAUMX

hebt,wassichdurcheinengelegent-
lichen Imperfekt (meist in derFor-
mulierung„sagteich“)alslängstver-
gangen erweist.Ohnehin stehen die
beidenSommerimZeichendesVer-
lustes.Nicht nur dasFreundespaar
hat sich zuRomanbeginn, in den
Märztagen desJahres 1984, bereits
getrennt–auchKurzeckhatkurzzu-
vordie Freundin und damit seine
kleineFamilieverloren.

DerErzähleristdurchdasTordes
Todes gegangen–umso dringlicher
wirddieWiederherstellungdesVer-
missten.Dass besagterVerlust die
TriebfederfüreinenJahrespäterauf
zwölf Bände angelegtenRomanzyk-
lus sein konnte,ein auf fast über-
menschlicher Gedächtnisleistung
beruhendesVorhaben, dürfte sich
dem Wiederholungstrauma des
Flüchtlingskindesverdanken. Nicht
umsonstwidmetKurzeckeinKapitel
des Romans allen „Unbehausten“,
„Landfahrern“, „Fremdlingen“und
„Umhergetriebenen“, allen „Hei-
matlosenund Flüchtlingen,in die-
semJahrhundertderFlüchtlinge“.
Doch auch wenn man dem Text
die Notseiner Erfahrung anmerkt,
eine Not, die vorjedem falschen
Sommeridyllbewahrt–zumalKurz-
eck zu dieser Zeit arbeitslosist und
existenzielleSorgendasGlückgrun-
dieren–,sokannersichdochimmer
wiederzujenerVerschmitztheitauf-
schwingen,dieähnlichpfiffigwiedie
eines Wilhelm Genazino,aber zu-
gleich auch kindlicherwirkt: Hals-
schmerzenvergleichtermitdemGe-
fühldesbergaufSchluckens.Oderer
bedauertdie Mäuse,die über die
Flureines„düsterenGebäudes“ren-
nen,indemdieFamiliemangelsAl-
ternativenübernachtenmuss,denn
siehättenes„auchnichtleicht“.
Undsoi st es keinWunder,dass
dieeigentlicheProtag onistindesRo-
mans dasKind Carina is t, das, wie
derErzähler bemerkt, „manchmal
vermitteln muss zwischen mir und
der Welt“. Dochvermittelt es auch
zwischen dem erwachsenenErzäh-
ler-undseinemKindheits-Ich–denn
„jeder Schlaf träumt mich heim“.In
derTochterspiegeltsichdasStaunen
über und dieZustän digkeit für die
Dinge,Tiereund Menschen, eine
Vielfalt, dievomKind erst ausbuch-
stabiertwerdenmuss.Undauchder
Erzähler-Vaterbuchstabiertzweiver-
gangeneSommeraus,alsobsienoch
bevorstünden: „Dem Sommerende
zu: matt dieZikaden. Haben sich
geirrt! DaswarnichtderSommer,für
den sie gesungen!Derkommt erst
noch!Zukunft!Andermal!“

Peter Kurzeck: Der vorigeSommerund der
Sommerdavor.Roman.Aus dem Nachlassher-
ausgege ben vonRudi Deuble undAlexander
Losse.Schöff ling &Co., Frankfurta.M.2019.
656 S.,32Euro.

NACHRICHTEN


NABU klagt gegen Baustart
des Einheitsdenkmals

DerBaubeginndesFreiheits-und
EinheitsdenkmalsinBerlinkönnte
sichweiterverzögern. DerNatur-
schutzbund(NABU)BerlinhatKlage
gegendieGenehmigungderSenats-
bauverwaltungeingereicht.Anfang
OktoberhattedieBehördegrünes
LichtfürdenBaubeginnunterstren-
genNatur-undArtenschutzauflagen
gegeben–dieaberlautNABUnicht
eingehaltenwurden.Konkretgehtes
umErsatzquartierefürselteneWas-
serfledermäuse,dieimGewölbeun-
terdemkünftigenDenkmalsockel
amBerlinerSchlossleben.Dadiese
Ersatzquartierenochnichtgefunden
seien,seiderfürdiesenWintervor-
geseheneBaubeginnder„Einheits-
wippe“nichtmöglich.DieBauver-
waltungmüssedasbereitsgeschlos-
seneFledermausquartierander
Bauste llesofortwiederöffnen.(dpa)

Andrea Lissoni wird Leiter im
Haus derKunst in München

AndreaLissonivonderTateModern
inLondonwirdkünstlerischerLeiter
imHausder KunstinMünchenund
NachfolgerdesimMärz2019ver-
storbenenOkwuiEnwezor.Der
KunsthistorikerundKulturmanager
wirdseineArbeitam1.April2 020
aufnehmen,teilteBayernsKunstmi-
nisterBerndSiblermit.Lissoniseiin
derMuseumsweltsehrgutvernetzt,
erfahrenimManagementvon
Kunstinstitutionenundbesitzein-
haltlicheExpertiseindermodernen
undzeitgenössischenKunst.(dpa)

HenryLohmar wird Chef der
Märkischen Allgemeinen

HenryLohmarwirdChefredakteur
derMärkischenAllgemeinenZei-
tung(MAZ).Dasteiltedie Madsack-
MediengruppeamDienstagmit.Der
50-JährigehattedieChefredaktion
derin PotsdamerscheinendenZei-
tungbereitsseit1.Julikommissa-
rischgeleitet,nachdemVorgängerin
HannahSuppaalsChefredakteurin
DigitaleTransformationundInnova-
tionim RegionalenzudemMedien-
unternehmennachHannoverge-
wechseltwar.StellvertretendeChef-
redakteurinderMAZistMaike
Schultz(36).(dpa)

Beethoven


daheim


G


enauweißmangarnicht,wann
LudwigvanBeethovengeboren
wordenist.Dasseram17.Deze mber
1770 getauft wurde,steht fest, und
um diesesDatum herum soll es
schon imDeze mber losgehen mit
den Feierlichkeiten zum 250.Ge-
burtstag desKomponisten. 2020 ist
Beethoven-Jahr .Schon imKoaliti-
onsvertrag2013wurdeeszurnatio-
nalenAufgabeerklärt.DieBundesre-
publik,dasLandNordrhein-Westfa-
len, der Rhein-Sieg-Kreis und die
StadtBonnhabendieBeethovenJu-
biläums GmbH gegründet, und ei-
nesder Projektedortheißt„Beetho-
venbei uns“. Es holt den großen
Komponisten mit Hauskonzerten
vonder nationalenEbene auf die
private ,heimische.
DieKonzerte können inWohn-
zimmernstattfinden,inGeschäften,
KirchenoderClubsundmitmachen
kann jeder,oba ls Musiker,egal ob
ProfioderAmateur,alsGastgeber,als
Zuschauer.Man kann auch tanzen
oder einenVortraghalten, nur der
Beethoven-Bezug ist unerlässlich.
Undanmeldenmussmansich,spä-
testensbis1.Dezember:beethoven-
beiuns.de.
MankriegtsofortLust,wennman
sich anguckt, was derzeit schon an-
gebotenwirdinB erlin.„Einewand-
lungsfähigeDiplomatenanwärterin,
eine unerschrockene Textexpertin
undzweinervenstarkeLehrer“wer-
den am 14.Dezember irgendwo in
Moabit eineMatinee geben, die ge-
naueAdresseerhältman,wennman
sichangemeldethat.DiePlätzesind
begrenzt, aber kostenlos.Etwas zu
essenserviertdasQuartettauch.
Unser MusikkritikerPeter Ueh-
ling spielt zusammen mit Mira
LangeKlaviersonatenfürvierHände
in ihrerWunderkammer-Werkstatt
in Neuköl ln, ein Wolf-AchimSens
möchte in seinerWohnung über
sein persönliches Verhältnis zu
Beethovensprechen,Fidelio-Kon-
zertaufnahmen verg leichen.Ein
Foto seines freundlich eingerichte-
ten Wohnzimmers hat er mitge-
schickt.Nichtswi ehin!


Jubiläumsjahr


Susanne Lenz
begeistertsich für ein
Hauskonzert-Projekt.

UNTERM


Strich


Peter Uehling fragt
sich, obFrauen
dirigieren anders
als Männer
Seiten26 und 27
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