Feuilleton
24 Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
„DerWestblickdefiniertdenOsten“
DerinKölngeboreneSchriftstellerMaxAnnasüberseinebegeistertenReisenindieEndzeit-DDR,NeonazisvondamalsundheuteundseineneueKrimireihe
M
ax Annasmuss nicht
langeüberlegen,alses
um die Wahl eines
Treffpunktes geht:Die
Kuchenwerkstatt in Kreuzberg.Er ist
dortStammgast,wenn er nicht mal
wieder durch dieWelt fliegt. Gerade
kommterausBrasilienzurück.Insei-
nem neuenRoman unternimmt er
eine Reise eigener Art.DerKrimi
„Morduntersuchungskommission“
führtihn in die DDR der 80er-Jahre
zurück.EsgehtumdieErmordungei-
nes mosambikanischenVertragsar-
beiters durchNeonazis.Ins einem
BuchlehntsichMaxAnnasaneinen
wahren Fall aus dieserZeit an. Im
Sommer 1986 wurde der 23-jährige
Manuel Diogo auf derStrecke von
BerlinnachDessauvonNeonazisaus
dem fahrendenZuggeworfen.Das
Verbrechen wurdevertuscht, Rassis-
mus durfte es in der DDR nicht ge-
ben. Für Annas Anlass,sich mit den
beruflichen und persönlichenKon-
flikten zu beschäftigen, in die sich
sein Romanheld, OberleutnantOtto
Castorp,bei der Polizeiarbeitverwi-
ckelt.DarüberhinausbietetdasBuch
einziemlichrealistischesBilddesAll-
tags in der ermüdeten DDR-Gesell-
schaft.
Herr Annas, wenn man liest, womit
Siesichallesbeschäftigthaben,kann
einem schwindlig werden.BevorSie
Krimiautor wurden, habenSieals
Journalist über afrikanischenFilm
geschrieben, überJazz, Rechtsrock,
dieNahrungsmittelproduktion,über
denPhilosophenClaudeLevi-Strauss
und den 1. FC Köln.Wasgenau ist
eigentlichIhrFachgebiet?
MaxAnnas: Ichhabe 1986 ange-
fangen fürZeitungen zu schreiben,
seit 1990 mit einer festenStelle,bis
2008.Ichhabenichtsanderesgelernt
alsSchreiben.
IchmeinteIhr eAusbildung...
Ichhabekeine.
Siesind gleich nach der Schule zur
Zeitunggegangen?
Einpaar Jahrewar ich alsSozial-
arbeitsstudent immatrikuliert, habe
dasabernichternstgenommen.Das
warnichtinteressant.
Waswarfür Sieinteressant?
Besetztes Haus,Politik, Reisen,
Lieben.IndieDDRfahren.1986war
icherst23Jahrealt.Daswarder Be-
ginnmeinerZeitinderDDR.
Washeißtdas:IhreZeitinderDDR?
Ichbin am 1.Januar 1987 zum
erstenMalind ieDDRgefahren.
DaswissenSienochsogenau?
Dazu gehörteine kleine Ge-
schichte.Bei uns imHaus landete
ein Brief an einePerson, die nie-
mandkannte.DerBriefwarausOst-
berlin und ich habe ihn dann nach
drei, vierTagen an dieAbsenderin
zurückgeschickt.Zehn Tage später
kamAntwort:„Hey,istjatoll,dassdu
das gemacht hast, hätte ichvonei-
nem Westler gar nicht erwartet so
viel Kümmern.Warst du schon mal
in der DDR?“ Nö. Also habe ich die
Einladungwahrgenommenundbin
dann immer wieder gefahren.Erst
nachOstberlin,späterüberFreunde
auchnachThüringen.
Washat Siesod aran gereizt, immer
wiederindieDDRzufahren?
DieLeute.WirhabeninderDDR
Leute getroffen, die so waren wie
wir.Diewederdeneinennochden
anderen deutschenStaat toll fan-
den.Wirwaren uns einig, dass wir
aufder Suchenacheinembesseren
Lebensind,miteinander,füreinan-
der,aber nicht notwendigerweise
ineinemeinigenDeutschland.Mit
derZeitwurdeimmermehrdaraus.
WirhabenvonKölnaus regelrecht
Reisegruppen zusammengestellt.
Zu Silvester 88/89 waren wirrund
35 Leute aus demWesten, die mit
den Saalfelder Freunden gefeiert
haben.Wirhatte sogar eine eigene
Banddabei.
Unddasgingglatt?
DieBand ist ohneInstrumente
eingereist.
EsgabanderGrenzenieFragen?
Diehaben natürlich mitbekom-
men, dass daregelmäßig Linke aus
Köln in die DDR fahren. Einmal
wurde auch jemand angesprochen,
der zum Rad-Freak-Treffen nach
Thüringenwollte.„Wirsinddochauf
derselbenSeite...“ SoaufdieseTour
eben. Aber diesePerson hat das öf-
fentlich gemacht.Wirhatten alles
vorher durchgespielt, wiereagieren
wir,wennwirgeködertwerden. Das
warim Juni1989. ImJulibinichdann
nicht mehrreingelassen worden in
dieDDR.
BiszumFallder Mauer?
Ichhabe es vorher noch einmal
versucht,am4.November.
Zurgroßen Demonstration auf dem
Alexanderplatz?
Ja,aberso weitsindwirgarnicht
gekommen.WirdreiFreunde aus
Köln hatten für dasWochenende in
einemhochkomplexenVorgangmit
dem sogenannten Reisebüroder
DDR einenAufenthalt inErfurtge-
bucht,indiesemHotelam Bahnhof,
wirhabendazuimmerWilly-B randt-
Hotelgesagt.
Dort,woWilly Brandt 1970 aus dem
Fenstergewinkthat.
Genau. In Gerstungen amKon-
trollpunkt haben uns dieGrenzer
aus demZuggeholt. Diewaren alle
sehr,sehr höflich, keineBeschwer-
den. Undwährend wir in so einem
Aufenthaltsraumsaßenundaufun-
sereBefragung warteten, haben wir
die Reden vonGünter Schabowski
und Stefan Heym auf dem Alexan-
derplatz über das Radio gehört.
Heyms Worteüber den wahrenSo-
zialismus:„Es ist, als habe einer die
Fenster aufgestoßen nach all den
JahrenderStagnation...“Dashatuns
totalbewegt.MitdemnächstenZug
wurden wir zurückgeschickt. Das
warunser4.November89.Übersol-
che Erfahrungen hat meineBezie-
hungzudemKonstrukt,dasdieDDR
war,eine gewisseTiefe gewonnen.
Dasist in meinem Leben eines der
wichtigstenKapitelüberhaupt.
In„Morduntersuchungskommission“
greifen Sieauf ein Ereignis zurück,
das etwasvordieser Zeit liegt. Der
LynchmordanM anuel Diogo wurde
zu DDR-Zeitenvonden Behörden
vertuscht. Inzwischen ist dieses
monströseVerbrechen jedoch genau
dokumentiert.
Ichhabeimmerdarübernachge-
dacht, dass ich zur DDR arbeiten
werde. Aber als freierJournalist war
ich am Ende des Arbeitstages so er-
schöpft und so leer,dass mir nichts
Fiktionalesgelungenist.Das,wasich
Ende der 90er-Jahreversucht habe,
warrelativnahdrananmeinereige-
nen Geschichte.Irgendwann war
klar:DasmussjetztauchGenresein.
Ichkannte dieGeschichtevonMa-
nuelDiogoschonlängerundhabein
Berlin seinenFreund Ibraimo Al-
berto kennengelernt, der ihn an je-
nem 30.Juni 86 zumZuggebracht
hat.Darüberhabensichauchandere
Kontakte zur mosambikanischen
Community ergeben. Strukturell
und ästhetisch ist dieserStoff mei-
nen anderenGeschichten durchaus
verwandt.Auchhiergehtesumdas
Othering, dasAusgrenzen desver-
meintlich Anderen, Fremden. Ich
war mir natürlich bewusst, dass ich
ein westliches Erzählmodell eins zu
einsaufdenOstenanlege.
KönnenSiedasgenauererklären?
DerklassischeKriminalromanist
einwestlichesErzählmodell,dasfür
Der Schriftsteller Max Annas in einem KreuzbergerTreppenhaus BLZ/MARKUS WÄCHTER
mich mitDashiell Hammetts „Red
Harvest“ beginnt.Zwar gab es auch
in der DDR Krimis,die „Blaulicht“-
Hefte,der „Polizeiruf“, aber das ist
nicht das,was ich unter demGenre
verstehe.Ind er DDR gab es offiziell
keine Verbrechen in derMitte der
Gesellschaft.Undsomitgabesstreng
genommen auch keine Kriminalro-
mane,diediese Verbrechenspiegeln.
Schauplatz IhresRomans ist Thü-
ringen.Gleich amAnfang führen
Sieden Leser zu einer Leiche ins
Neubaugebiet Jena-Winzerla, wo
sichAnfangder90er-JahredasTrio
des NSU kennengelernt hat. Die
Wahl dieses Tatorts zurEtablie-
rungihrerKriminalistenistnatür-
lichbeabsichtigt.
IcherzählezwareineGeschichte,
die sich in der DDR zugetragen hat,
mache aber dieTüren auf fürInter-
pretationen, die über die DDR hi-
nausreichen. Nazis in der DDR?
Durfte es nicht geben.Daswieder-
holtesichspätermitdemNSU,egal
obesinNürnberg,KasseloderKöln
war.Nazis? Hier? Unmöglich.Gibt’s
nicht.DasalsreineDDR-Geschichte
zu schreiben, wäremir etwas lang-
weilig vorg ekommen.Ichmöchte
schonDingeanbieten,diedasGanze
imBlickhaben.
AberderNSUwurzeltnuneinmalim
OstenDeutschlands.
DerNSU ist keinreines Ostding!
Essind Ostnazis,aberdannistesvor
allem dieWestpolizei, die den NSU
genährthat. Siehat ihn groß ge-
macht, indem sie dieErmittlungen
in die falsche Richtung geführtund
schließlichganzeingestellthat.
Sieerzählen denMord an TeoMa-
camokonsequentausderPerspektive
der Ermittler,weder dasOpfer noch
dieTäterwerdencharakterisiert.
Es hat mir beim Schreiben eine
große Sicherheit gegeben, tatsäch-
lich bei derGruppe zu bleiben, bei
dem, was die wahrnehmen. Eine
Frage,diesiesichnichtstellen,habe
ichmirauchnichtgestellt.Überdie
MosambikanerinderDDRweißich
sehr viel mehr als in demBuch vor-
kommt. Aber das zu verwenden,
kam für mich nicht inFrage.Ich
komme ja vonaußen und blicke
praktisch wie dieErmittler auf das
Verbrechen.
ImKlappentextsteht,dasseiderAuf-
taktzueinerReihe.Gehtesmitdem-
selbenPersonalweiter?
Daszweite Buch ist schon fer-
tig.EsspieltzweiJahrespäterwie-
der in derGegend umJena. Diese
Geschichte hat einen anderen
Klang und sie ist anders aufge-
baut, es gibt mehrerePerspekti-
ven. Aber die Mordermittler sind
wiederdieselben.
WorumdrehtsichderFall?
UmPunkund Verrat.
Wasreizt Siesod aran, sich immer
wieder mit derEndzeit der DDR zu
beschäftigen.
Mirist so vieles,was wir unter
dem StichwortWiedervereinigung
diskutieren, unnötig, oberflächlich,
gelogen.IchmöchteBilderanbieten,
die ein wenig schräg stehen zu den
Gewissheiten, die wir uns gebildet
haben.UnddieseGewissheitensind
starkvomWestengeprägt.DerWest-
blickdefiniertdenOsten.DerOsten
istbraun.Dasistein Westblick.
DenWestblick habenSiebiografisch
bedingtnatürlichauch.
Ja,aberdie Frage,warumsichim
Osten das und jenes zugetragen hat
wirdseltenmitdemkombiniert,was
die DDR-Geschichte hergibt. Ich
mache ein Angebot, sich das alles
noch einmal aus einem anderen
Blickwinkelanzugucken.
Siesind gerade auf Lesereise, gibt es
Unterschiede in derWahrnehmung
OstundWest?
Siewollen nur wissen, ob ich im
Osten schon aufsMaul bekommen
habe dafür?Darauf zielt dieFrage
doch?
Ichdenkenur,dassdieLeserimOsten
besondersempfindlichsind,wennes
umdieDDRgeht.
Dasist ja auchrichtig so .Bei der
Lesung inErfurtwar der Leiter der
Morduntersuchungskommission
Gera in den 80er-Jahren anwesend,
undderwarnichtzufrieden.Erstens
hätten sie jedenMord bis zu Ende
verfolgt. Undzweitens sei das mit
dem Alkohol falsch.Dass im Dienst
gesoffenwurde.Sow ashabeesnicht
gegeben.Sonstwarallesfriedlich.
DasGesprächführteFrankJunghänel
ZUR PERSON
MaxAnnaswurde 1963 in Kölngeboren. Nach der Schule arbeitete er alsJournalist und Re-
dakteur beiverschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, organisierteFilmfestivals und kura-
tierteFilmreihen. Als Sachbuchautor arbeitete er zu diversenThemen, etwa der globalen Nah-
rungsmittelproduktion und dem afrikanischen Kino. Eine Zeitlang hat Annas in Südafrikage-
lebt und an der UniversitätvonFortHare in der Provinz Ostkap zu regionalem Jazzgeforscht.
Seit seiner Rückkehr nach Deutschlandlebt Max Annas in Berlin,wo er sich 2015 mit sei-
nem Debüt „DieFarm“aufAnhieb alsAutor vonKriminalromanen etablierenkonnte.Allein drei
seiner bislang fünf Romane wurden mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Mit seinem
unlängst erschienenen Buch „Morduntersuchungskommission“ eröffnetAnnas eine Reihevon
Kriminalromanen, die sich mit Fällen aus der Endzeit der DDR beschäftigt.