Berliner Zeitung - 23.10.2019

(Brent) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019 (^25) ·························································································································································································································································································
Einswerden
mitdem
Kosmos
DasMoonDuospielteund
nuschelteinderVolksbühne
VonJohannes vonWeizsäcker
V
iele mittelalte,aber auch viele
jüngereFreaks waren amMon-
tagabend in die Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz gekommen,
um zu den Klängen des US-ameri-
kanischenMoon Duogrößtenteils
sitzend mit den Köpfen zu nicken,
einige Freaks standenauch in den
Sitzreihen oder in den Seitengän-
gen.Eineinsamer,besondershoch-
gewachsenerFreak mit besonders
langenblondenSträhnenhattesich
sogardirektvoreinenderLautspre-
cher gestellt, um diesen beharrlich
versunkenundbeinahezärtlichan-
zunicken, denn nur so,Alter,wird
derKörpereinsmitdenVibrationen
des Kosmos,als deren Übermittler
dieseMusikgruppefungiert!
ImKifferwohnzimmer
Allein: Wenn dies so ist, scheint
dasUniversumeinetwaseintöni-
ger Or tzus ein, ganz anders als
die unendliche Ansammlung ex-
trem lebensfeindlicherUmfelder,
die uns etwa in diesemWeltall-
Kurzfilm, den man auf dem Rü-
cken liegend imNaturkundemu-
seum an derInvalidenstraße se-
hen kann, nahegebracht wird.
DasMoon-Duo-Universum hin-
gegen gleicht eher einem mit
MüllskulpturenvollgestelltenKif-
ferwohnzimmer,auf dessenVin-
tage-Plattenteller stets ein Sui-
cide-Albumliegt.
Fast als wollten sie diese do-
mestizierteNote besonders un-
terstreichen, hattenGitarrist Eric
„Ripley“JohnsonundKeyboarde-
rinSanaeYamadasowieihrTour-
neeschlagzeuger sich auf der
Bühne in einen Käfig ausMoski-
tonetz eingeschlossen, aufwel-
chenvielerleiEckigesundStrich-
musterartiges sowie psychedeli-
sche Kreismuster,aber auchBil-
der vonHochhäusernprojiziert
wurden.Dazu spielten sie ihren
echoartigen Tremolo-Minimal-
Drone-Rock,densiemittlerweileauf
siebenAlbenausgedehnthaben,seit
siedie Bandin SanFranciscoimJahr
2009 alsSeitenprojekt zuJohnsons
anderer Tremolo-Minimal-Drone-
Rock-Gruppe Wooden Shjips star-
teten.
Eine,wir rissen denGedanken
bereitsan,etwaseintönigeVeran-
staltung also,die der nuschelige
Gesang derGruppe auch nicht
wirklich auf eine höhereAstro-
Ebenehob .Aberdieaufmerksam-
keitsdefizitären Multitasker,die
wirjaallesind,könnensoeinhin-
sichtlich seines Veränderungs-
prozesses eher zurückhaltendes
Konzer tauch mal ganz gut ge-
brauchen, etwa, um zwischen-
durch rauszugehen, zurauchen
und dabeiInstagram zu checken,
ohneEssentielleszuverpassen.
AuchhatdieBandden Stücken
ihres aktuellen Albums„Stars are
thelight“einbessertanzbaresGe-
wand gegeben als früheremMate-
rial.Schadenur,dasseseinbestuhl-
tesKonzer twar,aberdieLeutehat-
tenjaihreHälseundKöpfe.
RipleyJohnson aus SanFrancisco, auch
Gitarrist derWooden Shijps. ROLAND OWSNITZKI


L

eicht macht es einemSean
Scullynicht.DerÖffentlich-
keitzeigtder 1945 inDublin
geborene,imLondonder
Nachkriegsjahreaufgewachsene
und derzeitin Palisades,Upstate
NewYork, undMooseurach, Ober-
bayern, lebende Künstler mitVor-
liebe seineraue Seite: Niemals wird
der voneiner Kindheit in erschüt-
ternder Armut betroffene Scully
müdezubetonen,wasfüreinharter
Bursche er in seiner frühenJugend
gewesensei.Häufigbeschreibterein
Dasein an der Schwelle zumStra-
ßengangster,bis ihn dann der
Rock’n’Roll und die Liebe zurKunst
retteten. Aber aufgepasst, Karate
kann er immer noch und einBlatt
nimmt er nievorden Mund. Aber
das ist eben die medial erfolgreiche
Persona Scully:Ein ganzer Kerl mit
soviel„StreetCredibility“,dassman-
cheRapperneidischwären.

ImReinickendorferAtelier
Unddann ist da der andereSean
Scully.Der,der einen spontan in
seinen gigantischen Reinicken-
dorfer Atelierkomplexeinlädtund
am Küchentisch mit einer damp-
fenden Tasse EarlGrey empfängt,
ein warmherziger Familien-
mensch.Ebennochreferier terd ie
großen Themen der Kunstge-
schichte,erwähnt beiläufig seine
anstehendeAusstellung in Picas-
sos einstigemAtelier –doch wirft
er nur einenBlick zu seinem jun-
gen Sohn, zerfließt er beinahevor
Rührung.Erwähnenswertist dies,
da Sohn Oisín nicht nur Scullys
Leben vomKopf wieder auf die
Füße gestellt hat, sonderndas
ganzeLebenswerkund die auf
dem globalen Kunstmarkt hoch
gehandelte Marke„Sean Scully“
gleichmit.
DiesesWerknimmteinenunauf-
fälligenAnfang:Überwältigtvonder
Schönheit katholischerKirchenma-
lereientschließtersichimAltervon
neun Jahren, Künstler zu werden
undtrifftdamitinseinemproletari-
schen Umfeld aufwenig Begeiste-
rung.AlsolernterSchriftsetzerinei-
ner Druckerei und belegtKurse in
der Abendschule.Sein eigentliches
Kunststudium beginnt er dann im
LondonerVorort Croyd on und setzt
esimnordenglischenNewcastlefort.
DerwichtigsteEinflussaufseinefrü-
hen Arbeiten waren die deutschen
Expressionisten.
Er erinner tsich an dieseZeit so:
„1965warichamCroyd onCollegeof
Art, eine unorthodoxeKunstakade-
mie,and erzurselbenZeitauchan-
dereinteressanteStudentenwieDa-
vid Bowie und Malcom McLaren
herumhingen.Dorttrafichmit Barry
HirsteinenwunderbarenLehrer,der
mich mit der ArbeitvonKirchner
und Schmidt-Rotluff vertraut
machte.Als ich ihreArbeit sah, be-
freite mich dasvonder akademi-
schen Figuration. Ichfühlte eine
tiefe und erklärlicheVerbundenheit
mitihnen.“Jedochpassiert1966mit
„Abstract–FourRectangles“aufPa-

pier etwas,das sich 1967 mit „Red
Blue YellowGreen“ fortsetzt und
fortan zumErfolgsrezept der Marke
Scully wird:Dasfreie Spiel der Far-
ben und Formen, letzterehäufig
Rechtecke,Quadrate undStreifen,
erstereinzwischen in erster Linie in
erdigen Tönen.DieKunstkritik ist
sichnichteinig,dasweltweite Publi-
kumhingegenistbegeistertundder
Marktsagt:eineMillionund692500
US-Dollar.Sov iel erzielte„Landline
Sea“,ÖlaufAluminium,2015,am19.
Mai2017bei Sotheby ́sinNewYork.
Für solche Ergebnisse gibt es
mindestenszweiGründe,dienichts
mit Kunst zu tun haben:Da ist die
vonaußenschwernachvollziehbare
Dynamik einesMarktsegments,in
dem sich dieGewinnertypen unse-
rerTage mit „Siegerkunst“ einde-
cken.Hinzukommtjedochauchdie
Wiedererkennbarkeit. Weresals
Künstlerheutezuetwasbringenwill,
ist gut beraten, einen „Signature
Style“zuentwickeln,derseineArbeit
auch für weniger Kunstbeflissene
schnell identifizierbar macht.Und
problemlos identifizierbar,das war
SeanScullysKunst–bisneulich.

Spieleam Strand
EinesTages begann er,imk leineren
Kreis Neuigkeiten aus demAtelier
auf demDisplay seinesSmartpho-
nes vorzuzeigen, die so gar nichts
mit den schwarzenund grauen
Backsteinen zu tun hatten, die ihn
berühmt gemacht hatten.Stattdes-
sen Figuren und intensiveFarben,
mankonnteandie„Fauvisten“den-
ken. Inzwischen hat er die farbstar-
ken „EleutheraPaintings“, die alle
seinenSohnam Strandabbilden,in
derWienerAlbertinagezeigt,aktuell
sindsieimCACMalagazusehen.
„Wir haben unseren Ortjenseits
vonNewYorkCitygefundenunddas
ist die Insel Eleuthera. Als ich mei-
nen bezauberndenSohn Oisín am
Stand spielen sah, hat mich das auf
einesehrzarteArtundWeiseberührt
–einzeitloserMoment:Wieerdaim
SandBurgengebautundGräbenge-
grabenhat,sowieesalleKinderseit
tausendenvonJahren tun.Ichbe-
gann, Aufnahmen davon mit mei-
nemiPhonezumachenundinmei-
nem Kopf wuchs dieVorstellung,
diesein Malereizu verwandeln.“
Wiefolgenreich dieserTransfor-
mation in Richtung eines stärkeren
Ausdrucks und einer größeren
Leichtigkeitist,wirdklar,wennman
Scully nach dem hypothetischen
Marktwer tder Werkefragt. Mitun-
vermittelter Härte signalisierter,
dass dieseWerkgruppe nicht zum
Verkaufsteht.
Da ist er wieder,der harteBur-
sche,derseinerWegezieht –immer
dann offenbar,wenn es wirklich
wichtigist.

Sean Scully: EleutheraCAC


  1. 10.2019 –19. 1. 2020, Centro de arte
    Contemporáeno de Málaga,www.cacmalaga.eu


SeanScullysVertretung in Berlin
Galerie Kewenig,www.k ewenig.com

VonGunnar Lützow

Neue


Lebendigkeit


EinBesuchimReinickendorferAtelierdes


Weltmarkt-KünstlersSeanScully,derderzeit


mitAbsichtUnverkäuflichesmalt


Der Künstler Sean Scully. COURTESY CAC MÁLAGA

Sean Scully: Eleuthera, 2019, Öl auf Aluminium, 216x190 cm
©SEAN SCULLY, COURTESY CAC MÁLAGA

ÄrztinohneGrenzen


HöchstunterhaltsamesComedy-Solo:„AlleKassen,auchprivat“mitHeikeFeist


VonIrene Bazinger

E


slassensichvieleDingevorstel-
len,dieschönersindalseinArzt-
besuch –nicht nur ,weil man dann
gesundheitlich angeschlagen wäre,
sondernüberdies ,weil die langen
Wartezeiten erst recht krank ma-
chen.EsistaberauchfürÄrztekeine
angenehmeSituation,wenndie Uhr
tickt, die Patienten stressen, die
KrankenkassenimmerneueForma-
litäten aushecken und diePharma-
vertreteranderTürrütteln.
Ausder Perspektiveeiner enga-
gierten Allgemeinmedizinerin er-
zählt die SchauspielerinHeike Feist
als Dr.Annegret Kernvonall diesen
vorwiegenddeprimierendenDingen
auf kurzweilige,komische und ab-
surde Weisein„AlleKassen,auchpri-
vat“.ZusammenmitRalfKrämerhat
sie die „Solo-Theater-Comedy mit
Nebenwirkungen“ entwickelt und

spieltdieseinderRegie
vonMarcLippuner im
GlashausderArena.
AufdieBühneistein
typisches Wartezim-
mermiteinpaarStüh-
len, einem Wasser-
spender undIllustrier-
ten gebaut. Als erstes
freilich wirdesv on ei-
ner Figur betreten, die
mandanichterwarten
würde –der Schutzen-
gel Raffaela nämlich,
mit demAuftrag, die
Ärztin zu beschützen,
weil die wegen ihresruinösen Ar-
beitspensums selbst einmal zu ei-
nem umfassendenMedizin-Check
und in einenReha-Aufenthalt ge-
hörte .Denn manchmal absolviert
FrauDr.KernerstzwölfStundenim
Notdienst und danach mindestens
achtinihrerPraxis.

terNatia,diemitderÄrztindenLa-
denschmeißt.
DasPublikum wirdals dicht ge-
drängteScharvonPatientenimWar-
tezimmer angesprochen und darf
sich im Lauf des Abends auch
manchmal äußern.Heike Feist eilt
mal mitwehendem Arztkittel, mal
im weinroten Schwesternkostüm
oder mitriesigen weißen Engelsflü-
geln durch alle drei Rollen und
macht Gesundheit wieGebrechen,
Helfersyndrom wie Selbstausbeu-
tung,seligeEuphoriewielähmende
Erschöpfungsdepression mit Witz
undCharmeplausibel.
DersehrunterhaltsameAbendist
rezeptfreiundmitseinenmelancho-
lischen wie frustrierenden, politi-
schen wie spaßigen Ingredienzien
heilsamheiter.

Termine:25. 10,17. 11.,12.+13. 12., Glashaus
Arena, Eichenstr. 4,Tel.:0180670 00

Heike Feist hat sich
gründlich mit derMa-
terie beschäftigt und
genaue Beobachtun-
gen angestellt. Nun
jongliertsie amüsant
mit Fakten und Kli-
schees,mitZahlenund
Gags,mit Statistiken
undungeliebtenWahr-
heiten. Ob Kranken-
hauskeime oderGene-
rika, ob bedenkliche
Zusatzstoffe in Medi-
kamenten oder über-
flüssige Operationen
(„SondermüllGebärmutter“),alldas
wirdbeiihrzueinemeinerseitstur-
bulent verg nüglichen, andererseits
ziemlich brenzligenStreifzug durch
das aktuelle Gesundheitssystem.
„SindwireinePraxisodereinWaren-
haus?“,fragtirgendwannempörtdie
patente polnische Krankenschwes-

HeikeFeist als
Dr.AnnegretKern

SABINE GUDATH

TOP 10


Montag,21. Oktober

1DieToten vom Bod. ZDF 6,3 20 %
2Tagesschau ARD 5,2 17 %
3Bauer sucht Frau RTL 4,8 16 %
4heute journal ZDF 4,4 16 %
5heute ZDF 3,8 16 %
6RTL aktuell RTL 3,2 14 %
7SOKOPotsdam ARD 3,2 16 %
8Wer weiß denn ...? ARD 3,1 17 %
9Jack Reacher ZDF 3,0 18 %
10 GZSZ RTL 3,0 10 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %

Deutsch


undschwarz


dazu


ZumTodvon
TheodorMichael

VonSusanne Lenz

T


heodor Michael lernte ich 2014
kennen,dahatteergeradeseine
Biografie veröffentlicht, „Deutsch
sein und schwarzdazu“. Er war da-
mals 89Jahrealt und breitete sein
Jahrhundertleben aus.ImG espräch
lachteerviel,schienwederverbittert
nochverhärmt,dabeihatteersoviel
Grunddazu.AmselbenAbendstellte
er das Buch im JüdischenMuseum
vor, es ging ihm mit der Veranstal-
tung und der Biografie darum, sei-
nenPlatzimLeben,inderdeutschen
Gesellschaft zu behaupten.„Jeder
MenschhatseinenPlatz,manmuss
ihnsichnurmanchmalerkämpfen“,
sagteerdamals.
TheodorWonja Michael wurde
1925 in Berlin als viertes Kind einer
weißen Deutschenaus Ostpreußen
undeinesKamerunersgeboren,der
aus der Aristokratie seines Landes
stammte.Kamerun stand damals
unter deutscherKolonialherrschaft.
DieMutter starb früh, der Vater
musste die Kinder durchbringen
undtratmitTheodorundseinenGe-
schwisterninVölkerschauenauf,sie
trugenBaströcke.„DieLeutefassten
unsereHautan,fuhrenunsmitden
FingerndurchdieHaare.“1934starb
auch noch der Vater,Theodor Mi-
chaelkamineinePflegefamilie.
Während der
Nazi-Zeit wurde
er des Kant-
Gymnasiums in
Karlshorst ver-
wiesen, für staa-
tenlos erklärt, er
bekam Magen-
geschwüre, da
war er 14. Er
schlug sich als
Komparse
durch, war der „Mohr“ in „Münch-
hausen“, später kam er in ein
Zwangsarbeitslager und fürchtete,
zwangssterilisiertzuwerden so wie
vieleAfro-DeutscheindieserZeit.
Nach dem Krieg arbeiteteTheo-
dor Michael als Zivilist bei den US-
Besatzungstruppen. Er erzählte,
dass die USA den Afro-Deutschen
damalsalsgelobtesLanderschienen
seien,undwieschockierterw ar,als
errassistischeEinstellungenbeiwei-
ßen Amerikanernspürte .Theodor
MichaelholtedanndasAbiturnach,
er studierte Politikwissenschaften,
wurdeChefredakteurdesAfrika-Bul-
letins,erb erietdieSPD,arbeiteteim-
mer wieder als Schauspieler und
wurde schließlich Beamter beim
Bundesnachrichtendienst.Dererste
schwarze Bundesbeamte im höhe-
renDienst,wieerinseinerBiografie
stolzschrieb.
SeineKinderundEnkelhätten
ihngedrängt,seinLebenzuerzäh-
len.Siehättenwissenwollen,wie
manesschafft,großzuwerdenohne
Wunden,ohneVerletzungen.„Doch
ohnesiekommtineinervonWeißen
bestimmten Welt bis heute kein
schwarzerMenschdurchsLeben.“
Am 19. Oktober ist TheodorMi-
chael mit 94Jahren in Köln gestor-
ben.

Theodor Michael
(1925–2019)

IMAGO IMAGES
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