Handelsblatt - 23.10.2019

(Jacob Rumans) #1

Barbara Gillmann Berlin


I


n Heidelberg machten einige
Erstsemester im Medizinstu-
dium Anfang Oktober einen
neuartigen Test: Sie wurden
mit einem Diabetes-Patienten
konfrontiert, der sich ausgesprochen
störrisch zeigte, Diät zu halten und
Sport zu treiben. Die Studenten soll-
ten versuchen, ihn davon zu über-
zeugen, dass beides dringend nötig
und zu seinem eigenen Wohl sei.
Der Patient war ein Schauspieler,
das Gespräch wurde gefilmt und spä-
ter von Experten analysiert. „Multi-
ple Mini-Interviews“ sind Teil der
Forschung an der ältesten Uni
Deutschlands. Ab 2021 wird ein sol-
cher Test der „sozialen und kommu-
nikativen Kompetenzen“ künftiger
Mediziner womöglich Teil der Zulas-
sung – neben der Abi-Note und dem
schon weit verbreiteten Mediziner-
test TMS. Der Sozial-Test soll dann et-
wa denen eine Zusatzchance geben,
„die die anderen Kriterien knapp ver-
fehlt haben“, erklärt Studiendekanin
Sabine Herpertz.
Das Heidelberger Projekt ist zu-
gleich ein kleiner Baustein der lan-
desweiten neuen Strategie „Eignung
und Auswahl“. Baden-Württembergs
grüne Wissenschaftsministerin The-
resia Bauer startet einen flächen -
deckenden Kampf gegen die teilwei-
se viel zu hohen Abbrecherquoten an
den Hochschulen – vor allem in
MINT-Fächern und im Lehramt. Mit
diversen Auswahlgesprächen, Tests
und Beratung sollen Universitäten
und Fachhochschulen den Schwund
an Studenten bekämpfen – sie also
entweder wegen mangelnder Eig-
nung oder Motivation gar nicht erst
aufnehmen oder sie so begleiten,
dass sie einen Abschluss schaffen.
Das Ziel ist hochgesteckt: „Zehn bis
20 Prozent Schwund sind tragbar –
knapp unter zehn Prozent ist gut –
insgesamt sollten wir die 15-Prozent-
Marke anpeilen“, kündigte Bauer im
Gespräch mit dem Handelsblatt an.
Das gelte „auf jeden Fall für stark
strukturierte Studiengänge wie bei
den Ingenieur- und den Naturwissen-
schaften, wo auch der Fachkräfte-
mangel besonders groß ist“.
Bauer unterstützt daher die Hoch-
schulen des Landes mit insgesamt
zehn Millionen Euro beim Aufbau
neuer oder verfeinerter Auswahlver-
fahren. Die Teilnahme ist freiwillig,
denn „wir kriegen das nur gut hin,
wenn sie es aus innerer Überzeugung
engagiert umsetzen. Daher habe ich
mich gegen eine Pflicht entschieden,
denn dann kommt nur Murks raus“,
so Bauer. Alle neun Universitäten des
Landes und die Hälfte der 45 Hoch-
schulen für angewandte Wissenschaf-
ten beteiligen sich.

Studium muss passen
Von den Erstsemestern der Jahre
2012/13 gingen im Bachelor 19 Pro-
zent verloren – brachen also ab oder
studierten anderswo weiter (das
kann die Statistik nicht trennen).
Bundesweit steht das Ländle damit
noch gut da: In den anderen Flä-
chenländern Bayern, Hessen, Nieder-
sachsen, NRW und Sachsen waren es
nach einer Studie des Zentrums für
Hochschul- und Wissenschaftsfor-
schung im Schnitt 27 Prozent.
Innerhalb Baden-Württembergs
haben die Universitäten mit 28 Pro-
zent Schwund das weit größere Pro-

blem – in Mathematik und Naturwis-
senschaften, aber auch in Geisteswis-
senschaften sind die Ausfälle noch
viel größer. Bei den Fachhochschu-
len beträgt der Drop-out über alle Fä-
cher im Schnitt nur 13 Prozent.
Theresia Bauer, seit 2011 Wissen-
schaftsministerin bei Ministerpräsi-
dent Winfried Kretschmann, betont,
dass sie nicht in erster Linie abschre-
cken will: „Unser Ziel ist, den Studi-
enabbruch zu verringern und den
Studienerfolg zu erhöhen, indem wir
dafür sorgen, dass das Studium zum
Studierenden passt. Indem wir frü-
her Alternativen aufzeigen und die
Studierenden selbst testen lassen, wo
ihre Stärken und Schwächen liegen.“
Die Alternative könne dann ein ande-
res Fach sein – oder auch eine duale
Ausbildung, für die es heute schon
Berater der Industrie- und Handels-
kammern an den Hochschulen gibt.
Am Ende brauche es einen „guten
Mix aus einer härteren Auslese zu Be-
ginn und mehr Unterstützung für
die, die man aufnimmt“. Manchen
Bewerber müsse man auch vor sich

selbst schützen: „Wenn jemand nicht
genug weiß über die Anforderungen
und meint, ‚ich probier’s einfach
mal‘, ist das keine gute Idee“, so Bau-
er. Den anderen müsse man klare
Rückmeldungen geben, was sie etwa
in Mathe in den ersten zwei Semes-
tern nachholen müssen – „das kann
man dann auch zur Auflage ma-
chen“. Auf keinen Fall wolle sie „die
Abbrecherquote dadurch reduzieren,
dass wir die Ansprüche senken“.
In den MINT-Fächern tun sich die
Unis Stuttgart und Ulm sowie das
Karlsruhe Institut für Technologie
(KIT) zusammen: Sie erproben vor al-
lem persönliche Auswahlgespräche
„inklusive eines persönlichen Feed-
backs – auch zu individuellen Lü-
cken“, sagt der Stuttgarter Prorektor
für die Lehre, Hansgeorg Binz. Stutt-
gart und Ulm entwickeln zudem ei-
nen kombinierten Test für die MINT-
Fächer, der nicht nur fachlich-mathe-
matisches Wissen prüft, sondern
zusätzlich kognitive Fähigkeiten, also
das Denkvermögen. „Das könnten
wir dann eventuell bundesweit an

den führenden deutschen Techni-
schen Hochschulen, den TU9, ausrol-
len“, erzählt Binz.
Besonders hoch ist der Studenten-
schwund auch im Lehramt. Aktuell
herrscht dort ein enormer Andrang,
der NC für Grundschullehrer etwa
liegt in Baden-Württemberg bei 1,8.
„Trotzdem haben wir dann während
des Studiums 30 Prozent Schwund,
und später wollen viele nur wenige
Stunden arbeiten“, schildert Bauer
die unerfreuliche Lage. „Also macht
es doch Sinn, lieber mehr Zweierkan-
didaten aufzunehmen, die für den
Beruf brennen, und dann auch tat-
sächlich in den Schulen ankommen.“

Lehrerberuf unterschätzt


Das KIT und die Pädagogische Hoch-
schule Karlsruhe haben ein Pro-
gramm aus Beratung und Bewertung
entwickelt, dass die künftigen Lehrer
durchs ganze Bachelorstudium be-
gleitet – damit sie spätestens zu Be-
ginn des Masterstudiums sicher sind,
dass sie Lehrer werden wollen.
„Studierende kennen den Lehrer-
beruf nur aus Schülersicht und
möchten mit Kindern arbeiten. Sie
haben oft keine Vorstellung davon,
dass man daneben mit Eltern, Kolle-
gen und Vorgesetzten arbeiten
muss“, sagt Silke Traub, Leiterin des
Lehr-Lern-Zentrums der PH. Auch
sei nicht klar, „dass man als Lehrer
im Prinzip ständig auf dem Präsen-
tierteller steht – und kaum Möglich-
keit zum Rückzug hat“. Für viele sei
das Zeitmanagement ein Problem –
besonders Engagierte tendierten da-
zu, sich zu überfordern.
Schließlich komme „ein kleiner
Teil mit der irrigen Vorstellung, dass
es sich um ein leichtes Studium und
einen sicheren De-facto-Halbtagsjob
handelt“. Die neuen Checks könnten
somit sicher einem Drittel helfen, das
Studium besser zu bewältigen und
besser vorbereitet in die Schulen zu
gehen. „Bei fünf bis zehn Prozent
könnte es sein, dass sie erkennen,
dass es für sie nicht das Richtige ist“,
schätzt Traub. Der Rektor der Uni
Heidelberg, Bernhard Eitel, der auch
die Landesrektorenkonferenz führt,
ist angetan von den zusätzlichen
Möglichkeiten, dort, wo es zu wenig
Studienplätze gibt, Studenten nicht
nur nach der Abi-Note auszuwählen.
„Es ist ein sehr hoher Aufwand, aber
er lohnt sich, weil wir so die Ab-
bruchquoten senken können.“ Die
Erfahrung zeige, dass ein Drittel der
Bewerber zu Auswahlgesprächen gar
nicht erscheine, weil ihre erste Wahl
eine andere Hochschule ist. „Die, die
kommen, lernen schon vor Semes-
terstart die Uni kennen, die Dozen-
ten, die anderen Studenten – das er-
höht die Bindekraft enorm.“ Auch
Professoren profitieren, meint Eitel:
„Sie werden sich eher bewusst, wel-
che Verantwortung sie gegenüber
den Erstsemestern haben, wenn sie
sie aktiv mit auswählen.“
Wichtig sei aber, „dass wir die Ver-
fahren je nach Fach gestalten können


  • und dass wir sie unbürokratisch än-
    dern können“. Der Stuttgarter Pro-
    rektor Binz verweist auf die Grenzen
    des Projekts: „Egal mit welchem Ver-
    fahren: Ungeeignete Bewerber kön-
    nen wir nur ablehnen, wenn es ins-
    gesamt zu wenig Plätze gibt. Gibt es
    genug Plätze, müssen wir sowohl
    nach den Gesetzen des Landes als
    auch nach dem Grundgesetz jeden
    nehmen.“


Baden-Württemberg


Offensive gegen


Studienabbruch


Wissenschaftsministerin Theresia Bauer will mit


Auswahlgesprächen und Tests die Abbrecherquote der


Studierenden auf 15 Prozent senken.


Entwicklung der
„künstlichen
Beine“ am KIT:
Studenten sollen
künftig sorgfälti-
ger ausgewählt
werden.

Tim Wegner / Laif

Fabian Albrecht/dpa

Ein guter Mix


aus härterer


Auslese und


mehr Hilfe


für die, die wir


aufnehmen.


Theresia Bauer
Wissenschaftsministerin
Baden-Württemberg

Wirtschaft & Bildung
MITTWOCH, 23. OKTOBER 2019, NR. 204

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