Handelsblatt - 23.10.2019

(Jacob Rumans) #1

Gerd Braune Ottawa


F


ür Kanadas Premierminister
Justin Trudeau wird das Regie-
ren schwieriger. Bei der Wahl

am Montag verlor seine Liberale Par-


tei die absolute Mehrheit im Bundes-


parlament, kann als Partei mit den


meisten Sitzen aber die Regierung


stellen. Seine Minderheitsregierung


wird allerdings auf Unterstützung an-


derer Parteien angewiesen sein.


Strahlend betrat Trudeau am frü-


hen Dienstagmorgen den Saal eines


Hotels in seinem Wahlkreis Montreal-


Papineau, in dem er nun mit seinen


Anhängern feiern sollte. Aber der Ju-


bel der Liberalen konnte nicht ver-


bergen, dass es mehr Erleichterung


denn grenzenlose Genugtuung war.


Nach fünf Wochen eines erbittert ge-


führten, teils hässlichen Wahlkampfs


konnte Trudeau aufatmen. Er hat ei-


ne zweite Chance bekommen, wo-


nach es noch vor wenigen Wochen


nicht ausgesehen hatte. Seine Partei


geht zwar geschwächt aus der Wahl


hervor, liegt mit 157 Sitzen aber doch


klarer vor den Konservativen (121 Sit-


ze), als von den Umfragen prognosti-


ziert worden war. Trudeaus Partei


verlor gegenüber 2015, als er überra-


schend ins Premierministeramt kata-


pultiert worden war, 30 Sitze.


Das Land ist gespalten


„Die Kanadier haben uns ein klares


Mandat gegeben“, rief Trudeau den


Mitgliedern der Liberalen Partei zu.


Er werde sich bemühen, das Vertrau-


en aller Kanadier zu gewinnen. Er


nannte den Kampf gegen Klimawan-


del, die Bemühungen um ein schärfe-


res Waffengesetz und die Versöhnung


mit den Ureinwohnern des Landes


als wichtige Aufgaben der Regierung.


Aber so klar ist das Mandat nicht.


Die Liberalen sind nicht nur durch


den Verlust der Sitze geschwächt.


Nach dem Stand der Auszählung


vom Dienstagmorgen liegen die Kon-


servativen von Andrew Scheer mit


34,4 Prozent der Stimmen vor den Li-


beralen mit 33,1 Prozent. Nur das


fragwürdige kanadische Wahlrecht,


das auf dem Mehrheitsprinzip be-


ruht, half den Liberalen, die meisten


Wahlkreise und damit die meisten


Sitze im Parlament zu gewinnen. Es


gelang ihnen, in den bevölkerungs-


Wahlsieger Trudeau
und Ehefrau Sophie:
„Die Kanadier haben
uns ein klares Mandat
gegeben.“

dpa

Wahlergebnis in Kanada


Sitzverteilung im Unterhaus 2019 (Veränderung zu 2015)


338 Sitze
Gesamt

157 (-27)
Liberale


121 (+22)
Konservative


3 (+2)
Grüne

1 (+1)
Unabhängige

24 (-20)
New Demo-
cratic Party

32 (+22)
Bloq Québécois

HANDELSBLATT Quelle: Elections Canada


Kanada


Trudeau kann aufatmen


Kanadas Liberale verlieren


zwar ihre absolute Mehrheit,


können als stärkste


Fraktion aber eine


Minderheitsregierung bilden.


und sitzreichen Kernprovinzen Onta-
rio und Quebec ihre Bastionen zu
halten. Zudem konnten die Liberalen
ihre dominierende Position in den
vier Atlantikprovinzen behaupten.
Dies genügte, um die stärkste Frakti-
on zu stellen.
Aber Trudeau wird es schwer ha-
ben. Das Land ist gespalten. Die Libe-
rale Partei ist die Partei Ost-Kanadas.
Sie hat in der Ölprovinz Alberta und
in Saskatchewan keinen einzigen Ab-
geordneten und in Manitoba nur vier
von möglichen 14 Mandaten gewon-
nen. In British Columbia büßte sie ih-
re Position als stärkste Partei ein. Ka-
nada ist zerrissen, wie es schon lange
nicht mehr war. Trudeau richtete
sich gezielt an die Menschen in Alber-
ta und Saskatchewan: „Ihr seid ein
wichtiger Teil unserer Nation“, und
er wolle für alle Kanadier regieren.
Aber die Aversionen gegen Trudeau
und die Liberale Partei sitzen vor al-
lem in Alberta sehr tief. Insbesondere
seine Klimapolitik stößt in der Pro-
vinz auf Widerstand. Ein Rezept, wie
er diese Spaltung überwinden kann,
hat Trudeau bislang nicht vorgelegt.
Andrew Scheer, der seinen ersten
Wahlkampf als Parteichef der Konser-
vativen bestritt, stand kurz vor dem
großen Erfolg. Nach Einschätzung
politischer Beobachter aber hat er
mit seinem permanenten Kampf ge-
gen Trudeaus Klimapolitik vor allem
bei jungen Menschen und in den Bal-
lungsgebieten Kredit verspielt. Dies
kam in Zeiten, in denen Tausende
selbst in Alberta auf die Straße ge-
hen, um mit Greta Thunberg für eine
rigorosere Klimapolitik zu streiten,
schlecht an.
Vor vier Jahren habe es ausgese-
hen, als könne Trudeau nicht ge-
stoppt werden. Kanada schien vor ei-
ner langen Trudeau-Ära zu stehen.
„Seine Führungsrolle ist beschädigt“,
sagte Scheer, seine Regierung werde
bald am Ende sein, und dann stün-
den die Konservativen bereit. „Dies
ist der erste Schritt. Wir sind die Re-
gierung im Wartezustand.“
Kanada wird nun voraussichtlich
von einer liberalen Minderheitsregie-
rung geführt, denn Koalitionen ha-
ben in diesem Land keine Tradition.
Er könnte rein rechnerisch mit der
sozialdemokratisch orientierten New
Democratic Party (NDP) von Jagmeet
Singh eine Koalition eingehen, dies
wird in Ottawa aber nicht erwartet.
Trudeau wird sich stattdessen bemü-
hen, die NDP für sein Regierungspro-
gramm zu gewinnen, eventuell auch
die drei Grünen-Abgeordneten, die
den Einzug ins Parlament geschafft

haben. Auch der Bloc Québécois, der
nur in Quebec angetreten ist und ge-
stärkt aus der Wahl hervorgegangen
ist, könnte in der Sozial- und Umwelt-
politik eine Regierung Trudeau un-
terstützen.
Trudeau hat in den Augen vieler
Kanadier den Vertrauensvorschuss,
den er vor vier Jahren bekommen
hatte, durch eigene Ungeschicklich-
keiten verspielt. Seine Bilanz sah
nicht schlecht aus. Die Wirtschaft
läuft gut, er hat die Aussöhnung mit
den Ureinwohnern vorangetrieben,
er hat Steuern gesenkt und das Kin-
dergeld erhöht, dazu wichtige Geset-
ze wie die Legalisierung von Mari-
huana und die ärztliche Sterbehilfe
durchs Parlament gebracht, dazu die
schwierigen Beziehungen zu den USA
unter Donald Trump recht gut gema-
nagt. Aber seine Bilanz wurde auch
von Affären wie der SNC-Lavalin-Affä-
re, dem Rücktritt zweier prominen-
ter Ministerinnen, gebrochenen
Wahlversprechen und zuletzt dem

Foto, das Trudeau mit dunkel gefärb-
tem Gesicht bei einem Schulball 2001
zeigt, überschattet. Es wird für Tru-
deau nun darauf ankommen, mög-
lichst schnell ein Regierungspro-
gramm vorzulegen, das im Parlament
mehrheitsfähig ist, und ein überzeu-
gendes Kabinett zusammenzustellen.
Er wird hart arbeiten müssen, um
Vertrauen zurückzugewinnen.

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Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 23. OKTOBER 2019, NR. 204


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