Handelsblatt - 23.10.2019

(Jacob Rumans) #1

„Bekämpft mit aller Kraft den dummen


Nationalismus. Frieden ist nicht


selbstverständlich, und wir sollten stolz


darauf sein, dass Europa den Frieden erhält.“


Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionschef, hat in seiner Abschiedsrede
der Rückkehr zum Nationalismus in Europa eine klare Absage erteilt.

Worte des Tages


Rente


Friedhof für


Elefanten


D


emografisch hat die Bun-
desbank völlig recht. Die
Menschen in Deutschland

sind in der glücklichen Lage, immer


älter zu werden und dabei gesund


zu sein. Die Zentralbanker weisen


auf die Kehrseite dieses wundervol-


len Umstandes hin. Die umlage -


finanzierte Rentenversicherung


kann diesen demografischen Wan-


del nicht mehr stemmen.


Wie viele andere sind die Bundes-


banker aber nicht mutig genug zu


sagen, dass die Renten dann ge-


kürzt werden müssten. Deshalb


wird empfohlen, länger zu arbeiten.


So weit, so gut. Natürlich gibt es das


Phänomen der jungen Alten, denen


man durchaus zutrauen kann, län-


ger im Berufsleben zu bleiben. Aber


es besteht die Gefahr, dass sie in


den Unternehmen auf die gefürch-


teten Elefantenfriedhöfe verscho-


ben werden. Dort sind all die, die


aus welchen Gründen auch immer,


das Tempo nicht mehr mithalten


können oder nicht mehr wollen. Da


fällt nicht nur der Dachdecker da-


runter, der angeblich später in der


Materialausgabe arbeiten soll. Viel-


leicht hilft ja der Fortschritt mit Ro-


botik und Künstlicher Intelligenz,


dass das Arbeiten im Alter einfa-


cher wird. Sicher ist das nicht.


Viel klüger wäre es, den Renten-


eintritt zu flexibilisieren. Wer will,


darf schon mit 60 gehen. Er muss


es sich eben leisten können und die


Abschläge aus eigener Tasche zah-


len. Umgekehrt sollte man keinen


68-Jährigen daran hindern, im Be-


ruf zu stehen, wenn er das möchte.


Aber da müssen die Rahmenbedin-


gungen stimmen. Flexible Arbeits-


zeitmodelle sind genauso wichtig


wie steuerlich günstige Hinzuver-


dienstmöglichkeiten. Auch die Wei-


terbildung sollte steuerlich geför-


dert werden. Die Koalition tut das


Gegenteil. In der letzten Legislatur-


periode hat sie die Rente mit 63 ein-


geführt. Jetzt will sie die Rentenkas-


se mit der Grundrente belasten. Der


Vorschlag der Bundesbanker


kommt da wie ein Warnschuss da-


her. Unterm Strich bleiben die Bür-


ger allerdings verwirrt zurück. Die


Politik sagt ihnen, ihr könnt mit 63


in Rente gehen. Die Bundesbank


will die Leute bis knapp 70 im Ar-


beitsmarkt halten.


Die Bundesbank will die Menschen
länger arbeiten lassen. Was
demografisch richtig ist, ist
politisch ein heißes Eisen, meint
Thomas Sigmund.

Der Autor ist Ressortchef Politik.


Sie erreichen ihn unter:


[email protected]


E


in oft zitierter Spruch in Argentinien die-
ser Tage lautet: „Wenn man nach 30 Ta-
gen in dieses Land zurückkehrt, hat sich
alles verändert – doch wenn man nach
30 Jahren zurückkehrt, nichts.“ Das trifft
die Lage ziemlich gut. An diesem Wochenende dürf-
te das Oppositionsduo Alberto Fernández und Cristi-
na F. Kirchner ins Präsidentenamt gewählt werden.
Der vor vier Jahren angetretene Präsident Mauricio
Macri dürfte es noch nicht einmal in die Stichwahl
schaffen.
Der kurze Flirt Argentiniens mit der Marktwirt-
schaft ist damit genauso beendet wie die versuchte
Integration in den Weltmarkt oder die Ambitionen
des Landes, sich den Investoren weltweit als attrakti-
ver Standort zu präsentieren. Macri, der wirtschafts-
liberale Präsident ist krachend gescheitert bei sei-
nem Versuch, Argentinien umzukrempeln. Seine Bi-
lanz sieht katastrophal aus: Die Arbeitslosenquote ist
die höchste seit 14 Jahren. Die Inflation beträgt 55
Prozent. Der Peso hat seit Anfang 2018 etwa 80 Pro-
zent seines Werts verloren. Knapp sieben Prozent
wird die Wirtschaft bis Ende des Jahres geschrumpft
sein in der zweijährigen Rezession unter Macri – üb-
rigens die fünfte Schrumpfungsphase Argentiniens
in 15 Jahren.
Es ist abzusehen, wie es weitergehen wird. Die Op-
position – in der populistischen Tradition von Juan
Perón, dem Begründer der peronistischen Bewe-
gung – hat klargemacht, dass sie sich nicht für die
Krise verantwortlich fühlt, die Macri ihr hinterlassen
wird, und sich nicht an die Abmachungen halten
wird, die Argentinien unter ihm getroffen hat. Ex-
Präsidentin Kirchner, die vermutlich neue Vizepräsi-
dentin wird, kritisiert, dass Macri die Wirtschaft für
das Ausland geöffnet hat. Sie und ihr Gatte Néstor
Kirchner haben in den zwölf Jahren an der Macht
Unternehmen und Investoren gegängelt, beschimpft
oder enteignet – und so letztendlich außer Landes
getrieben. Fernández will, wenn er am 10. Dezember
antritt, als Erstes die Kaufkraft der Argentinier mit
einem Ausgabenprogramm erhöhen und dann eine
Umschuldung verhandeln.
Argentinien steuert auf einen neuerlichen Zah-
lungsstopp zu. Es wäre der neunte in seiner Wirt-
schaftsgeschichte. Gut möglich, dass es zu einer neu-
erlichen dramatischen Staatspleite kommt wie im
Dezember 2001.
Argentinische Wirtschafts- und Politikgeschichte
scheint sich im immer gleichen Zyklus zu entwi-
ckeln: Eine linkspopulistische Regierung erhöht die
Ausgaben weit über die Einnahmen. Sie plündert die
Devisenvorräte, stoppt Schuldenzahlungen und wirft

zuletzt die Notenpresse an – um schließlich, offen-
sichtlich gescheitert, das Amt und das Wirtschafts-
chaos an eine Reformregierung zu übergeben. Die
versucht den Balanceakt: die Ausgaben des Staates
zu reduzieren, um wieder kreditwürdig zu werden,
und gleichzeitig zu wachsen. Doch das ist nicht ein-
fach, wenn rund 15 Millionen Argentinier Beamte,
Rentner oder Sozialhilfeempfänger sind, aber nur
neun Millionen Menschen in der Privatwirtschaft ar-
beiten und Steuern zahlen. Deshalb verlieren die Ar-
gentinier meist wieder die Geduld – und wählen die
ausgabefreudigen Peronisten.
Genau in dieser Phase steckt Argentinien gerade:
Macri ist es nicht gelungen, das Haushaltsdefizit zu
verringern, zu wachsen und gleichzeitig die Refor-
men durchzusetzen, die er beherzt gestartet hat. Er
hat keine Mehrheit im Kongress und wollte den Ar-
gentiniern nicht die Sparmaßnahmen zumuten, die
nötig gewesen wären. Er setzte darauf, dass auslän-
dische Investoren einspringen und die Wirtschaft
zum Wachsen bringen würden. Kreditgeber sind
auch gekommen. Doch Unternehmen, die Kapital in
neue Fabriken, Kraft- oder Bergwerke stecken, blie-
ben rar. Als Kredite für Wackelkandidaten wie Argen-
tinien im vergangenen Jahr knapp wurden, geriet
Macris Zeitplan durcheinander. Auch der Megakredit
des Internationalen Währungsfonds konnte Argenti-
nien nicht mehr helfen.
Frederico Sturzenegger, der ehemalige Zentral-
bankchef unter Macri, hat kürzlich in Washington
weitsichtig Selbstkritik geübt. Weder Pech noch die
Altlasten der populistischen Vorgängerregierungen
seien schuld am Scheitern Macris. Die Regierung
selbst habe sich in die Krise geritten, weil sie Haus-
haltskonsolidierung wie Inflationsbekämpfung nach
den ersten Erfolgen zu locker angegangen sei. Auch
die angestrebte Autonomie der Zentralbank habe die
Regierung schnell ad acta gelegt, in der Erwartung,
dass sich mit dem „richtigen“ marktwirtschaftlichen
Kurs alles von allein fügen werde.
Mit dem Scheitern Macris ist marktwirtschaftliche
Reformpolitik von Mexiko bis Feuerland erneut dis-
kreditiert. Vorbei ist der marktwirtschaftliche Ener-
gieschub aus Buenos Aires, der etwa zum Abschluss
des Freihandelsabkommens des Staatenbundes Mer-
cosur mit der EU führte. Argentinien wird als Wachs-
tumsmotor des auf Wachstum angewiesenen Konti-
nents kaum eine Rolle spielen, sondern könnte viel-
mehr wieder einmal zum Belastungsfaktor werden.

Leitartikel


Argentinische


Abwärtsspirale


Mit der
Präsidentenwahl
steuert das Land
ganz nach alten
Mustern auf die
nächste
Staatspleite zu,
warnt Alexander
Busch.

Mit dem


Scheitern


von Präsident


Macri ist


marktwirtschaft -


liche


Reformpolitik


von Mexiko


bis Feuerland


erneut


diskreditiert.


Der Autor ist Südamerika-Korrespondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

MITTWOCH, 23. OKTOBER 2019, NR. 204


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