Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1
Dreißig Jahre nach dem Herbst, der die ge-
samte Nachkriegsordnung veränderte,
empfängt Michail Sergejewitsch Gorba-
tschow in seiner Stiftung in Moskau. Hin-
ter dem schweren Schreibtisch aus massi-
vem Holz hängt ein Gemälde seiner ver-
storbenen Ehefrau Raissa. Neben dem
Tisch hat er seinen Rollator geparkt, den er
nach dem Kosenamen seiner Mutter „Ma-
rusja“ getauft hat. Der letzte Regierungs-
chef der Sowjetunion ist heute stolz darauf,
den Kalten Krieg mit beendet zu haben.
Jetzt hat der 88-Jährige ein neues Buch ge-
schrieben. Denn er macht sich Sorgen.

VON STEFAN AUST

WELT AM SONNTAG:Herr Präsident
Gorbatschow, am 9. November 1989
fiel die Mauer, das ist jetzt 30 Jahre
her. Waren Sie überrascht, als Sie da-
mals die Nachricht hörten, dass der
diensthabende DDR-Offizier, sein Na-
me war Oberst Harald Jäger, in der

Bornholmer Straße den Schlagbaum
hatte öffnen lassen – gegen den aus-
drücklichen Befehl?
MICHAIL GORBATSCHOW:Nein, nicht
wirklich. Eigentlich habe ich darauf ge-
wartet, dass so etwas geschieht. Schon
vorher, am Vorabend dieser Ereignisse,
hatte ich die sowjetischen Truppen vor
einem Eingreifen gewarnt: „Keinen
Schritt. Sie bleiben, wo Sie sind.“ Das
sollten die Deutschen selbst entschei-
den. Und sie haben es getan.

Damit war die Mauer Geschichte –
auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt
offiziell noch geschlossen war.
Alle wollten es, die Deutschen sowieso.
Das war geschichtlich unvermeidlich,
auch wenn nicht alle dieser Auffassung
waren. François Mitterrand und Ma-
dame Thatcher etwa. Bei all meiner Ach-
tung vor diesen beiden großen Politi-
kern, mit denen mich eine gute Freund-
schaft verband, habe ich ihre Einstel-
lung nicht unterstützt. Sie wollten mich
zu ihrem Werkzeug machen, um die
deutsche Wiedervereinigung zu verzö-
gern.

Dabei waren eine Menge Mut und
Entschlossenheit nötig, um diesen
Weg zu gehen.
Es war nicht leicht, den Prozess in
Deutschland in Gang zu bringen. Und
das ging ja hauptsächlich von den
Deutschen selbst aus. Was war es, das

die Deutschen zur Wiedervereinigung
getrieben hat? Mich hat in dem Zusam-
menhang Christa Wolfs Buch „Der ge-
teilte Himmel“ sehr stark beeindruckt.
Sie war wirklich eine engagierte Kämp-
ffferin für die Einheit. Sie hat im Grundeerin für die Einheit. Sie hat im Grunde
die These vertreten: Es kann nicht so
bleiben. Und dann haben die Deut-
schen gezeigt, dass sie aus dem Krieg
ihre Lehren gezogen hatten.

Wann hatten Sie als Präsident erst-
mals den Gedanken, dass der Zeit-
punkt gekommen war, an dem sich die
Politik der Sowjetunion grundlegend
ändern müsste?
Das ist keine Sache eines Augenblicks.
Bis Ende 1989 waren bereits vier Jahre
seit dem Beginn unserer Perestroika
vergangen. Auf dem Weg zu tief greifen-
den Reformen innerhalb des Landes ha-
ben wir unser Bestes getan, um unseren
Planeten von der Bedrohung durch ei-
nen nuklearen Massenmord zu befreien.
Unsere wirklichen Schritte in Richtung
Abrüstung, eine offene Veränderung von
tiefer Feindschaft zu guter Nachbar-
schaft erregten zuerst Überraschung,
brachten dann die gegenseitigen Schrit-
te unserer Partner im internationalen
Bereich. Allmählich setzte sich zum ers-
ten Mal seit vielen Jahren Vertrauen in
den zwischenstaatlichen Beziehungen
durch. Es bestand die Hoffnung, dass die
Menschen ohne Krieg in gegenseitigem
Respekt zusammenleben könnten.

Die Naivität der schönen Träume?
Im Gegenteil, es war die einzig wahre
Perspektive, der einzige Ausweg.
Schließlich kann die moderne Kriegs-
führung letztendlich zum Auslöschen
der gesamten Menschheit führen.

Und in diesem globalen Zusammen-
hang haben Sie dann die deutsche
Frage gesehen?
Dies war der Kontext, in dem ich die
Probleme im Zusammenhang mit der
möglichen Wiedervereinigung Deutsch-
lands überlegt habe. Denn der Zustand,
den Christa Wolf treffend als „geteilten
Himmel“ definierte, wurde unerträglich.
Ich glaubte, dass die so viele Jahre an-
haltende Trennung, die nach dem Krieg
vorgenommen wurde, eine große Nation
demütigt. Ich sah meine Aufgabe darin,
dass der äußerst emotionale Prozess der
Annäherung und die Wiedervereinigung
ohne „Explosionen“ mit unvorhersehba-
ren Folgen ablaufen sollte – wie die
Deutschen sagen, „in Frieden“.

Haben Sie es für möglich gehalten,
dass es so kommt? Mit welchen Ge-
fühlen blicken Sie zurück?
Es ist so gekommen, wie ich es mir ge-
wünscht habe, und ich glaube, darauf
darf ich stolz sein. Vielleicht denken Sie,
dass ich Ihre Frage etwas zu allgemein
oder sogar zu schlicht beantwortet habe.
Aber das sind genau die Gefühle und Ge-
danken, die ich vor 30 Jahren hatte.

Seine Politik hat den Fall der Mauer


mit möglich gemacht. Heute blickt


Michail Gorbatschow mit Sorge auf


die deutsch-russischen Beziehungen.


Ein sehr persönliches Gespräch über


seine Jugend, das Leben im Kalten


Krieg und die Gefahren eines


neuen Wettrüstens


D


„Haben Sie


etwa Sehnsucht


nach dem


Kalten Krieg?“


PICTURE ALLIANCE / ZB/DPA PICTURE-ALLIANCE / DPA/ZB-ARCHIV; STEFAN AUST/WELT

WWWelt-Herausgeber Stefanelt-Herausgeber Stefan
Aust (l.) und Michail
Gorbatschow beim Inter-
viewtermin in Moskau

WAMS_DirWAMS_DirWAMS_Dir/WAMS/WAMS/WAMS/WAMS/WSBE-HP/WSBE-HP
20.10.1920.10.1920.10.19/1/1/1/1/Thema1/Thema1AARAVENA 5% 25% 50% 75% 95%

Abgezeichnet von:
Artdirector

Abgezeichnet von:
Textchef

Abgezeichnet von:
Chefredaktion

Abgezeichnet von:
Chef vom Dienst

13


20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-HP


  • :----ZEIT:BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -ZEIT:-BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -ZEIT:-BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ---ZEIT:---BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: :BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: ZEIT:BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE: -BELICHTERFREIGABE:
    BELICHTER: BELICHTER: FARBE:BELICHTER:


WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019 SEITE 13

THEMA


Bei einem Berlin-
Besuch am 16. April
111 986 besichtigt die986 besichtigt die
sowjetische Delegation
die Staatsgrenze am
Brandenburger Tor.
Neben Gorbatschow
stehen der Ost-Berli-
ner Stadtkommandant
KKKarl-Heinz Drewsarl-Heinz Drews
(2.v.r.) und SED-
Politbüro-Mitglied
Günter Mittag (l.)

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung WELT am SONNTAG-2019-10-20-ab-24 2898cb0280bb024e054657108500450c

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws

Free download pdf