Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1

L


ächelnd betrachtet Frank
Fischer das Foto auf sei-
nem Handy. Es zeigt ihn
Arm in Arm mit einem
Mann. Im schicken Drei-
teiler. Mit bunter Flieger
Freunde, Kollegen und
Verwandte stehen Spalier mit Sonnen-
blumen in der Hand. Im Juli hat Fischer
seinen Freund geheiratet. „Das war ge-
sund“, sagt er. Es gab Zeiten, da hätte er
sich lieber die Zunge abgebissen, als so
etwas zu sagen.

Früher hielt Fischer seine Orientie-
rung auf das eigene Geschlecht für
krank. Er war Mitglied einer evangelika-
len Gemeinde, die mit großem Ernst
predigte, Homosexualität sei schwere
Sünde. Im evangelikal-pietistischen Mi-
lieu hat sich sogar eine Therapieform
etabliert, um Gläubige davon zu befrei-
en: die sogenannte Konversionsthera-
pie.Einer solchen unterzog sich auch
Fischer. Fast 20 Jahre betete er, Gott
möge ihn von seiner Neigung befreien.
Heute betet er, Gott möge den Thera-
peuten und ihren Sympathisanten „die
Augen dafür öffnen, welches Leid sie ih-
ren homosexuellen Glaubensgeschwis-
tern zugefügt haben und noch zufügen“.
Zu diesem Wunsch passt ein aktuelles
Gesetzesvorhaben von Gesundheitsmi-
nister Jens Spahn. Der CDU-Politiker
will Therapeuten das Handwerk legen,
die behaupten, Homosexuelle in Hete-
rosexuelle umwandeln zu können.
Profitieren davon dürften vor allem
die Homosexuellen unter den rund 1,
Millionen deutschen Evangelikalen. Ih-
re Kirchen legen die Bibel nicht histo-
risch-kritisch aus und sind familienpoli-
tisch meist konservativ. Konversions-
therapien werdenfast ausschließlich in
ihrem Milieu angeboten.
Spahns Verbotsankündigung hat
dort bereits etwas bewegt. Nun beteu-
ern alle evangelikalen Verbände, die
Therapien müssten strikt ergebnisof-
fffen sein, man dürfe Homosexuelleen sein, man dürfe Homosexuelle
nicht als krank bezeichnen. Deshalb
sind die homosexuellen Evangelikalen
begeistert von Spahns Vorstoß (den zu-
erst die Grünen forderten). Viele von
ihnen litten unter der Therapie wie un-
ter einer Knute – die sie gleichzeitig da-
von abhielt, sich zu befreien, sagt Fi-
scher. Der 55-Jährige ist Sprecher von
„Zwischenraum“, dem einzigen Forum
fffür homosexuelle Evangelikale. Esür homosexuelle Evangelikale. Es
zählt rund 150 Aktive, ist aber in Kon-
takt mit weit mehr Menschen. Fischer
kennt etliche Biografien, in denen sich
die Behandlung wie bei ihm selbst ver-
heerend auswirkte.
Mit 19 Jahren bekehrte Fischer sich
zu Jesus, wie das bei den Frommen
heißt. Bald darauf vertraute er Glau-
bensgeschwistern an, er empfinde ho-
mosexuell. „Du bist schwul? Das ist
schlimm. Aber Gott kann das ändern.
Jesus liebt dich so sehr, dass er dir Be-
freiung schenken kann“, so die Reaktio-
nen. Fischer vertraute dem, nahm den
Kampf gegen sich auf.
Und er ging eine heterosexuelle Ehe
ein. Die hielt elf Jahre – „nominell“, fügt
Fischer hinzu. „In all den Jahren kreiste
fast alles um die eine Frage: Wie kriegen
wir es hin, dass der Frank heterosexuell
wird?“ Fischer und seine Frau versuch-
ten sich zu trösten, Sexualität sei „ja
nicht das Wichtigste in einer Bezie-
hung“. Auch wenn sie sich für Enthalt-
samkeit etwas jung fühlten. Aber viel-
leicht würde ja irgendwann eine Thera-
pie zum Erfolg führen. Die Behandlung


  • sie war Fischers Hoffnung.


Er betete um die vermeintliche Be-
freiung. Auf Knien, in großen Gruppen
und in kleinen. Mit seiner Frau. Mit
Freunden. Allein. Er besuchte Tagun-
gen, die Abhilfe versprachen. Und er
nahm über sechs Monate an einem Kurs
der Organisation „Wüstenstrom“ teil.
In der Gesprächstherapie und der
Selbsthilfegruppe wurden die Teilneh-
mer angeleitet, „schädliche Familien-
konstellationen zu erkennen und frühe
Entwicklungsstörungen zu analysie-
ren“, die ihre Neigung verursacht hät-
ten, wie Fischer erzählt. Eifrig wurde
für die Veränderung gebetet. Obendrein
wurden ermutigende Beispiele von Ex-
Schwulen erzählt.Eines allerdings
machte ihn stutzig: Man bekam so weni-
ge dieser „Geheilten“ zu sehen.
Doch nichts fruchtete. „Es“, dieses
„vermeintlich Kranke“ in ihm, ver-
schwand nicht. Fischer schildert diese
Jahre ruhig und eher abstrakt. Für ei-
nen Moment nur schaut er beklommen

und sagt: „Ich dachte an Selbstmord.“
Der jahrelange Kampf, das Hadern mit
Gotthabe ihn irgendwann zermürbt.
Besonders stark werden homosexuel-
le Evangelikale von ihrem frommen
Umfeld bedrängt. Davon zeugt der 2018
erschienene Sammelband „Nicht mehr
schweigen“. Betroffene schildern, wie
ihnen die Teilnahme an Jugendarbeit,
Gottesdienstgestaltung oder Chor ver-
boten wurde – weil sie sich weigerten, in
Therapie zu gehen. Herausgeber Timo
Platte berichtet, erst kürzlich habe ihm
ein junger Mann mitgeteilt, seine Ge-
meinde habe ihm eine Zwei-Wochen-
Frist gesetzt. Wenn er dann nicht den
Kampf gegen seine „Sünde“ aufnehme,
müsse er die Gemeinde verlassen.
„Dieses Entweder-oder ist schwer zu
ertragen“, sagt Platte. Zumal viele Gläu-
bige in ihre Gemeinde ja „hineingebo-
ren“ würden. Ihre Familien und sie
selbst seien dort verwurzelt mit Freun-
den, Paten und Jugendgruppen. Die Ge-

meinde sei ihr Zuhause. „Wer dann
hört, er müsse entweder mit allen Mit-
teln gegen seine Neigung vorgehen oder
die Gemeinde verlassen, ist existenziell
bedroht. Denn das heißt: Du verlierst
deine Heimat“, erklärt Platte.
„Unter diesem Druck sind viele zer-
brochen“, erzählt auch Fischer, der
selbst allerdings stabil wirkt. Etliche
seien depressiv geworden, nicht wenige
suizidal. Viele steckten noch immer im
Kampf mit sich selbst fest. Anders als
Fischer. Ihm wiesen weitsichtige, eben-
falls evangelikale Mitchristen den Aus-
weg. Sie rieten ihm, nach 20 Jahren
Kampf solle er sich fragen, ob Gott
überhaupt wolle, dass er heterosexuell
wird. Fischer kam ein bis dahin verbote-
ner Gedanke: „Gott und schwul – das
geht zusammen. Man kann ein schwuler
Jesus-Jünger sein.“ Diese Überzeugung
reifte allmählich und wurde immer sta-
biler. Bis er den Kampf beendete. Und
sich von seiner Frau scheiden ließ.
Solch schmerzhafte Umwege, hofft
Fischer, könnten manchem Christen
künftig erspart bleiben – dank Spahns
VVVerbot. Wenn ein Pastor dann jemandenerbot. Wenn ein Pastor dann jemanden
zur Therapie dränge, werde es mehr Wi-
derstand geben. „Ein junger Christ, der
binnen Sekunden googeln kann, dass
sein Pfarrer sich gerade strafbar macht“,
werde „eher den Mut aufbringen, sich
dieser Gewalt offen zu widersetzen.“
Zumindest einen Effekt hat sogar die
Ankündigung des Gesetzes bereits aus-
gelöst: Es gibt plötzlich niemanden
mehr, der Konversionstherapien anbie-
tet. Offiziell. Der laut „Zwischenraum“
größte Anbieter dieser Therapien, eben
die Organisation „Wüstenstrom“, gab
bekannt, sie habe zu keinem Zeitpunkt
Konversionstherapien durchgeführt
und werde dies auch künftig so halten.
Es könne nur eine ergebnisoffene Be-
gleitung geben.
„„„Wüstenstrom“ hat sich nun umbe-Wüstenstrom“ hat sich nun umbe-
nannt in „Institut für dialogische und
identitätsstiftende Seelsorge und Bera-
tung“. Doch da hat Fischer Zweifel.
„Ich habe über viele Monate an einem
KKKurs bei ,Wüstenstrom‘ teilgenommen.urs bei ,Wüstenstrom‘ teilgenommen.
Daran war nichts ergebnisoffen“, erin-
nert er sich. „Alles war auf ein Ziel, auf
unsere Abwendung von der Homo-
sexualität, ausgerichtet. Ich durfte
mich zum Beispiel in den Gesprächs-
therapien und Selbsthilfegruppen mit
niemandem anfreunden, weil wir uns in
VVVersuchungersuchunghätten führen und ineinan-
der verlieben können.“
Manchen könnte erstaunen, dass Fi-
scher trotz allem seinem Milieu treu
blieb. Zwar hat der Wiesbadener seine
Gemeinde gewechselt, aber auch seine
neue Kirche ist evangelikal. Er hätte in
eine liberale evangelische Landeskirche
wechseln können, in der Homosexuelle
gleichberechtigt am Gemeindeleben
teilnehmen. Doch Fischer liebt den
evangelikalen Stil, die leicht erhöhte
Glaubens-Temperatur, die er in vielen
liberalen Kirchen vermisst. Und deshalb
blieb er bewusst in einer evangelikalen
Gemeinde, um sie von innen zu verän-
dern. Wozu man ein ziemlich robustes
Naturell braucht, wie Fischer zugibt.
So hat er bereits manchen Erfolg ge-
habt. Noch einmal zückt er sein Handy
und zeigt auf das Hochzeitsfoto: „Da
war auch eine gute Freundin dabei, eine
ganz fromme Christin“, erzählt Fischer.
Eigentlich habe sie nicht zur Hochzeit
kommen wollen, weil sie glaube, die Ehe
zweier Männer verstoße gegen Gottes
Willen. „Sie hat wirklich gerungen und
war zerrissen zwischen ihrer theologi-
schen Überzeugung und ihrer Verbun-
denheit mit mir“, erinnert sich Fischer.
„Aber dann kam sie doch.“

Hat inzwischen seinen Freund geheiratet: Frank Fischer, Opfer der Konversionstherapie

ALEX KRAUS

„Gott und


schwul – das geht


zusammen“


Frank Fischer hielt


seine Homosexualität


lange für eine


Krankheit. Seine


evangelikale


Gemeinde verlangte


von ihm, sich


behandeln zu lassen.


Doch die sogenannte


Konversionstherapie


machte ihn nur noch


unglücklicher


VONTILL-REIMER STOLDT

WAMS_DirWAMS_DirWAMS_Dir/WAMS/WAMS/WAMS/WAMS/WSBE-HP/WSBE-HP
20.10.1920.10.1920.10.19/1/1/1/1/Aaw2/Aaw2AARAVENA 5% 25% 50% 75% 95%

Abgezeichnet von:
Artdirector

Abgezeichnet von:
Textchef

Abgezeichnet von:
Chefredaktion

Abgezeichnet von:
Chef vom Dienst

18


20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-HP


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18 LEBEN * WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER


Dagegen


sind meine


Probleme Luxus


Vor 16 Jahren habe ich ein Praktikum
bei der Düsseldorfer Drogenhilfe ab-
solviert. Ich bin geblieben, erst als
Drogenberater, dann als Leiter des
Drogenkonsumraums und des be-
treuten Wohnens, heute als Ge-
schäftsführer. Mit dem Konsumraum
bieten wir Abhängigen die Möglich-
keit, Substanzen wie Heroin oder
Kokain unter hygienischen Bedin-
gungen zu konsumieren. Viele haben
die Vorstellung, das sei ein gemütli-
cher Raum, in dem man sogar chillen
kann. Aber das ist nicht so.
Selbstverständlich müssen die
Substanzen selbst mitgebracht wer-
den. Wir führen ein Aufnahmege-
spräch. Aufgenommen wird nicht,
wer nur gelegentlich Drogen nimmt
oder zu stark berauscht ist. Wir ge-
ben den Suchtkranken zum Beispiel
sterile Spritzen mit Kochsalzlösung
und entsprechende Nadeln. Nach ei-
ner halben Stunde muss die Person
ihren Platz säubern und wieder ver-
lassen. Wir kennen vor allen Dingen
die Konsumenten aus der Drogen-
szene und beraten sie. Es ist ein
deutlicher Erfolg, dass sich in den
letzten Jahren die Konsumform ge-
ändert hat – Opiate werden viel häu-
figer geraucht statt gespritzt. So tre-
ten viel seltener Notfälle auf, und die
Ansteckungsgefahr für übertragbare
Krankheiten ist sehr gering.
Seit Jahren steigt die Zahl der
Menschen, die zu uns kommen.
Manchmal ist unser Raum so voll,
dass wir nicht alle bedienen können


  • dies führt zu Stress und Hektik, da-
    von haben Suchtkranke schon genug.
    Diese Menschen werden in der Ge-
    sellschaft abgewertet und stigmati-
    siert. Sie gelten als schwach und
    manchmal noch als Sozialschmarot-
    zer. Eigentlich ist es ein 24-Stunden-
    Job, schwer abhängig zu sein. Ein
    Job, der so gut wie keine Ruhepausen
    gönnt, weil man sich ständig in ei-
    nem Kreislauf aus Beschaffung von
    Geld und Substanzen bewegt.
    Das Problem sind nicht die Süchti-
    gen, sondern wie die Gesellschaft
    mit ihnen umgeht. Als das größte
    Problem empfinde ich allerdings die
    Gesetzeslage, die Millionen Men-
    schen kriminalisiert, zu Perspektiv-
    losigkeit führt und Unmengen an
    Steuergeldern für die Strafverfol-
    gung kostet. Zumindest der Konsum
    sollte entkriminalisiert werden.
    Tag für Tag sind wir mit dem Leid
    von Schwerstabhängigen konfron-
    tiert. Für manche neuen Mitarbeiter
    ist das zu heftig. Wenn man fest-
    stellt, dass man das Erlebte zu sehr
    mit nach Hause nimmt, ist es ver-
    nünftig, sich lieber ein anderes Ar-
    beitsfeld zu suchen. Für mich per-
    sönlich kommt es darauf an, wie nah
    mir eine Person ist, der etwas
    Schlimmes passiert. Manchmal tref-
    fen mich Erlebnisse sehr, da muss
    man sich ein gewisses Fell zulegen.
    Natürlich ist es auch schwer zu ak-
    zeptieren, wenn jemand keine Hilfe
    annehmen will oder kann. Wenn die-
    se Menschen sterben, hält man einen
    Moment inne und fragt sich, ob seine
    Arbeit nicht doch einen zu hohen
    persönlichen Preis verlangt. Jeden



  1. Juli gedenken wir den verstorbe-
    nen Drogenkonsumenten. Das ist
    der einzige Tag im Jahr, an dem ich
    in die Kirche gehe. Denn es ist tat-
    sächlich ein schöner Moment des
    Abschiednehmens.
    Durch meine Arbeit habe ich ge-
    lernt, Alltagsprobleme viel gelasse-
    ner einzuschätzen. Wenn mir selbst
    etwas passiert, habe ich mittlerwei-
    le einen viel weniger dramatischen
    Blick darauf und kann mich darauf
    besinnen, dass andere Menschen
    viel schlimmere Probleme haben.
    Dagegen sind meine Probleme tat-
    sächlich nur Luxus.
    NOTIERT VON FREDERIK SCHINDLER


WIE ES IST

MICHAEL HARBAUM LEITET DIE DROGENHILFE
IN DÜSSELDORF. DER 44-JÄHRIGE
SOZIALPÄDAGOGE IST ÜBERZEUGT,
DASS ES ZEIT FÜR EINEN ANDEREN
UMGANG MIT SÜCHTIGEN IST

D


ie Nächte sollen hier
schwärzer sein als an-
derswo. Der National-
park Drents Friese Wold
liegt etwa 20 Kilometer
nordöstlich von Ruinerwold, einem
Dorf mit weniger als 4000 Einwoh-
nern, entfernt und wirbt damit, dass er
zur „dunkelsten Region des niederlän-
dischen Festlands“ gehört. In wolken-
losen Nächten sind Hunderte von Ster-
nen zu sehen, weitaus mehr als in licht-
verschmutzten Metropolen.

VON KRISTIAN FRIGELJ
AUS RUINERWOLD

Ein Ehepaar vermietet in der Nähe ein
Chalet an Urlauber und wirbt im Inter-
net mit dem Satz „Hier is het’s nachts
nog echt donker“ – „Hier ist es nachts
noch wirklich dunkel“. Touristen
schwärmen in Online-Bewertungen von
einer „optimalen Privatsphäre“ und ei-
ner „schönen Aussicht“. Die Provinz

Drenthe an der Grenze zu Niedersach-
sen ist ein dünn besiedeltes Gebiet mit
aaausgedehnten Moor- und Heideland-usgedehnten Moor- und Heideland-
schaften zwischen den Städten Gronin-
gen und Zwolle. Ein idealer Unter-
schlupf für jemanden, der totale Ein-
samkeit sucht.
In Ruinerwold ist diese Ruhe vorbei,
seitdem Ermittler Hinweisen nachge-
hen, dass dort auf einem Hof sechs Per-
sonen über Jahre festgehalten worden
sein sollen. Zwei Männer wurden wegen
des Verdachts der Freiheitsberaubung in
Untersuchungshaft genommen. Es han-
delt sich um den 58-jährigen Mieter des
Hofes, den Österreicher Josef B., und

elt sich um den 58-jährigen Mieter des
ofes, den Österreicher Josef B., und

elt sich um den 58-jährigen Mieter des

Gert-Jan van D., den 67-jährigen angeb-
lichen Vater der dort lebenden jungen
Personen zwischen 18 und 25 Jahren. Es
könnte Verbindungen zu einer Sekte ge-
ben. Aber noch ist vieles unklar für die
3 0-köpfige Ermittlungskommission von
Polizei und Staatsanwaltschaft. Erste
Schlagzeilen, wonach die Personen in ei-
nem Keller gefangenen gewesen seien,

haben die Behörden dementiert. Es gibt
keinen Keller auf dem Hof.
Die Anwohner am Buitenhuizerweg
sahen Mieter B. regelmäßig, haben aber
nicht gewusst, dass sich dort noch ande-
re Personen aufhielten. Das lässt sich in
diesem Fall mit dem üblichen Erklä-
rungsmuster von zwischenmenschlicher
Ignoranz kaum deuten. In Ruinerwold
kann es leicht passieren, dass man von-
einander wenig sieht. Die Nachbarn le-
ben teilweise mehrere Hundert Meter
voneinander entfernt. Die Häuser stehen
aaauf großflächigen Grundstücken unduf großflächigen Grundstücken und
werden von Bäumen umringt, um Regen-
stürmen und eisigen Winden zu trotzen.
Die Distanz erschwert engen Kontakt.
Der Hof von B. ist tagsüber aus der
Ferne so gerade eben zu erkennen. Die
Polizei hat das Grundstück abgesperrt.
Nur mit Kamera-Drohnen kommt man
näher heran. Die Aufnahmen der fliegen-
den Augen zeigen, dass mehrere Gebäu-
de eng beieinanderstehen und sich an
Bäume und Hecken drängen, ein größe-

res Gemüsebeet ist zu erkennen, rings-
um endlose flache Landschaft.
„„„Wir mischen uns hier nicht in dieWir mischen uns hier nicht in die
Angelegenheiten von anderen“, sagt ei-
ne Wirtin in der Ortsmitte von Ruiner-
wold. Sie kennt die Bewohner des ver-
dächtigen Hofes nicht. Auf der Haupt-
straße Dijkhuizen weicht die Einsamkeit
der Region ein wenig zurück. Kleinere
Geschäfte, eine Eisdiele, eine öffentli-
che Bibliothek, Friseurläden, Cafés und
Kneipen sind dort zu finden. An den
gusseisernen Laternen brennen abends
grüne Leuchten in Birnenform. Sie erin-
nern an die mehr als tausend Birnbäu-
me auf der Parallelstraße Dokter La-
rijweg, wo alljährlich bei einem großen
Bürgerfest im Oktober, dem „Stoofpe-
renfeest“, die Früchte gepflückt wer-
den. Vor dem Café „de Kastelein“ hängt
ebenfalls eine Neonbirne. Hier kam al-
les ins Rollen, als der 25-jährige Jan van
D. vor einer Woche auftauchte, ein jun-
ger, schmaler Mann mit fusseligem Bart
und langen, ungepflegten Haaren. Er

trank Bier und erzählte dem Kellner
Chris Westerbeek, dass er weggelaufen
sei und nicht mehr nach Hause könne,
weil er sonst bestraft werde.
WWWesterbeek steht am Mittwochabendesterbeek steht am Mittwochabend
wieder hinter dem Tresen und versorgt
im Schankraum die Gäste einer Party.
Der blonde, sportliche Barkeeper ist
wortkarg geworden, nachdem Journalis-
ten hier reihenweise aufgekreuzt sind
und einige ungefragt Fotos in der Bar ge-
macht haben. „Ich habe ihn hier noch nie
gesehen“, sagt Westerbeek über den selt-
samen Gast. Er habe um Hilfe gebeten,
und dann hätten sie gemeinsam die Poli-
zei angerufen. Die Ermittler wissen noch
nicht, wie diese Darstellung einer Gefan-
genschaft damit zusammenpasst, dass
Jan van D. bei Facebook und Instagram
regelmäßig Beiträge und Selfies postete.
Sie sind noch nicht einmal sicher, ob der
Mann und die sechs anderen Personen
tatsächlich miteinander verwandt sind.
Es fehlt noch viel Licht in einer der dun-
kelsten Regionen der Niederlande.

Das Rätsel von Ruinerwold


In einem Dorf in Holland sollen sechs Personen jahrelang festgehalten worden sein. Doch die Geschichte wirft zunehmend Fragen auf


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