Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1
Was ist das eigentlich, die Frankfurter
Buchmesse? Etwa das schnurgerade La-
byrinth aus zahllosen Gängen unter fie-
sen Halogenröhren, das sich durch ein
halbes Dutzend Hallen zieht, die, mit
Büchern bis unter die Decke, aussehen
wie ein aufgebrezeltes Amazon-Lager?
Oder das allnächtliche Hallo an der Bar
des „Frankfurter Hofs“, wo bei Gin To-
nics für 25 Euro der New Yorker Agent
der Verlegerin aus Buenos Aires und
dem Journalisten aus Oslo erklärt, frü-
her sei aber mehr los gewesen, was die
Hotelangestellten sogleich bestätigen,
indem sie unter Entschuldigungen die
Tische wegtragen? Oder der Kritiker-
Empfang bei Suhrkamp am Mittwoch-
abend, ironischerweise der einzige Ort,
an dem nicht über Peter Handke gere-
det wird, vielleicht weil niemand Lust
hat, mit Anlauf in ein Fettnäpfchen zu
treten (er wird bei Suhrkamp verlegt)?
Oder aber die Facebook-, Twitter- und
Instagram-Diskussionen auf den stets
überall gezückten Telefonen, wo prak-
tisch ausschließlich über Peter Handke
geredet wird?

VON JAN KÜVELER

Denn Gerede kann man es ruhig nen-
nen, auch wenn stumme Buchstaben
über Bildschirme fließen; aber die sind
fffür keine Ewigkeit gemacht. Für die al-ür keine Ewigkeit gemacht. Für die al-
lermeisten der Tausenden und Aber-
tausenden Neuerscheinungen, die sich
auf der Messe stapelten, wird das aller-
dings ebenfalls gelten. Selbst der recht-
schaffenste Kritiker kommt kaum dazu,
mehr als sieben, acht pro Saison zu le-
sen. Und auch das ist nicht immer ein
VVVergnügen, wie Rainald Goetz einmalergnügen, wie Rainald Goetz einmal
in seinem Denkjournal „Abfall für alle“
fffeststellte: „Wie macht man das, alseststellte: „Wie macht man das, als
Kritiker“, schrieb er, „ohne voll zu ver-

zweifeln, alles immer ganz DURCH zu
lesen. Auch wenn es einem überhaupt
nicht taugt. Wahrscheinlich kriegt man
dadurch so eine komische Lese-Horn-
haut am Gemüt.“ Wie richtig Goetz,
immerhin ausgebildeter Arzt, mit sei-
ner Diagnose lag, kann man gegen Ende
der Woche in der „FAZ“ sehen. Ein
Feuilletonistenkollege bekennt, auf der
Messe statt Romanen und Autoren
bloß „breitgetretene Meinungsproto-
kolle oder putzige Erlebnisbildchen ir-
gendeiner stets interviewbereiten Ur-
heberschaftsattrappe“ vorgefunden zu
haben. Schon der nächste Artikel ist
aber versöhnlicher und lobt Doris Dör-
ries Autofiktionsworkshop im Frank-
fffurter Schauspiel mit 500 hoffnungs-urter Schauspiel mit 500 hoffnungs-
vollen Nachwuchsautoren, deren Bio-
grafien samt und sonders erzählens-
wert seien. Das sind zwei extreme Po-
sitionen, in denen sich ein Muster er-
kennen lässt. Die Messe zeichnet sich
dieses Jahr durch Extrempositionen
aus – oder durch Klagen darüber.
In der ehrwürdigen Suhrkamp-Ver-
legervilla in der Klettenbergstraße
liest der Schriftsteller Lutz Seiler aus
einem unveröffentlichten Text. Die
Treppe in den Garten ist so schmal,
dass auf jeder Stufe nur zwei, drei
Leute Platz haben. Dort drängt sich
der Gedanke auf, wie durchlässig die
Grenzen zwischen realer und digitaler
WWWelt geworden sind. Die treppenarti-elt geworden sind. Die treppenarti-
ge Auf- und Übereinanderschichtung
der Gespräche, in die man sich mit ei-
ner Kopfdrehung ein- und ausklinken
kann, ist wie ein einziger fleischge-
wordener Social-Media-Feed. Höchs-
tens etwas oberflächlicher, weil mit
Rheingau-Riesling angeduselt aus dem
Stegreif improvisiert, dafür gesitteter,
weil sich bei Facebook jeder anmelden
kann, bei Suhrkamp aber nicht.
Großes Thema ist die politische Kor-
rektheit. Zum Beispiel der Shitstorm,
den der Buchpreisträger Saša Stanišić
nicht etwa dadurch ausgelöst hat, dass
er die eigene Preisrede genutzt hat, um
die Vergabe des Literaturnobelpreises
an Peter Handke zu kritisieren. Sondern
durch einen Tweet aus dem Juni, den
prompt ein anonymer Ritter der mora-
lischen Gerechtigkeit ausgrub. Darin
hatte Stanišić das Foto einer Bierwer-

bung auf einem Sonnenschirm – „Das
fröhliche Bier“ – mit dem Kommentar
„mein Indianername“ gepostet. Das
war, so der Ratschluss der digitalen Ge-
richtsbarkeit, übelste Cultural Appro-
priation, also Aneignung von kulturel-
len Codes diskriminierter Minderhei-
ten, die nach den ehernen Regeln der
politischen Korrektheit allein den Ange-
hörigen dieser Minderheiten zustehen.
Der rauchende und trinkende Social-
Media-Feed auf der Suhrkamp-Treppe
zeigt sich verblüfft, wie Stanišićs Vor-
wurf gegen Handke als verrückte Paro-
die auf ihn zurückzuschlagen droht. In-
sofern kommt Handke, auf eine Weise
irgendwo zwischen unausgesprochen
und geflüstert, doch auch bei seinem
Hausverlag Suhrkamp vor.
Im Flur, direkt unter dem berühmten
Goethe-Warhol, ist der Literaturredak-
teur der „Financial Times“, Frederick
Stüdemann-Schulenburg, durch diese
Geschichte nicht zu erschüttern. In Sa-
chen politischer Korrektheit sei der
englische Literaturbetrieb einfach fünf
Jahre weiter. Für die letzte Rundes des

bedeutenden Man Booker Prize seien
diesmal überhaupt nur Leute infrage ge-
kommen, die mindestens einer Minder-
heit angehörten. Tatsächlich haben alle
Finalisten Migrationshintergrund, bis
auf eine Autorin. Die schreibt über den
Klimawandel. Das Cover ihres Romans
ist auf der Website abgebildet. Darauf
prangt das Lob des „Evening Standard“:
„Ellmann lesen ist wie Glasscherben im
Lutscher finden.“
Peter Haag, der Verleger von Kein &
Aber aus Zürich, erzählt, er sei kürzlich
in New York gewesen, für ein Treffen
mit Literaturagenten, die ihm poten-
zielle Übersetzungskandidaten vorstell-
ten. Nach ein paar Tagen habe er lachen
müssen, als ihm plötzlich klar geworden
sei, dass sich alle Bücher schwulen,
queeren, Trans-, feministischen, Migra-
tions- oder Klimathemen widmeten.
Nichts dagegen, aber das Missverhält-
nis, mit dem sie alle anderen dominier-
ten, sei grotesk. Das sei in der Schweiz
übrigens noch lange nicht so krass, viel-
leicht auch, mutmaßt Haag, weil die
Schweiz schon so lange aus vielfältigen
Sprach- und Kulturgemeinschaften be-
stehe, dass zum Beispiel ein eifersüchti-
ger Ethnopatriotismus gar nicht erst
habe aufkommen können.
Anfang der Woche hat Tom Müller,
verlegerischer Leiter von Tropen, sich
beim Abendessen seines Mutterverlags
Klett-Cotta ähnlich geäußert. Weil Kri-
tiker und Preisjurys zurzeit praktisch
nichts anderes auszeichneten, habe
man als Verleger Riesenprobleme, an-
dere Bücher durchzusetzen. Moment,
meint ein Journalist, wenn diese Bü-
cher die Programme dominierten, sei
doch klar, dass sie mehr Aufmerksam-
keit bekämen.
Auf dem Buchpreis-Empfang am
Montag erzählt Lina Muzur von Hanser,
sie habe sich für den Roman des ameri-
kanischen Ureinwohners Tommy Oran-
ge mehr erhofft. Sie erklärt sich die ver-
gleichsweise enttäuschende Resonanz
damit, dass zur Zeit des Erscheinens
Ocean Vuong die Feuilletons dominiert
habe, und der sei eben Migrant und
queer. Trümpfe im PC-Quartett.
Am nächsten Tag empfängt Joachim
Unseld zur traditionellen Hausparty.
Formalien und Fettnäpfchen werden

dort wie immer nachsichtiger behan-
delt. Auch die Witze sind oldschool.
Nur das Buffet ist vegan. Dicke Regen-
tropfen prasseln auf das Zeltdach über
der Terrasse, wo vor zwei Jahren noch
Michel Houellebecq mit Laura Karasek
ffflirtete, Tochter von Hellmuth. In derlirtete, Tochter von Hellmuth. In der
Zwischenzeit hat sie Karriere zwischen
Schriftstellerei und blendend gelaun-
ter Fernsehplauderei gemacht. Sie hat
sich nicht verändert, sodass bei ihrem
Anblick selbst gestandene „taz“-Re-
dakteurinnen nicht umhin können, be-
geistert „sieht die GUT aus!“ zu rufen.
Neben ihr steht der Immobilieninves-
tor Ardi Goldman, von dem niemand
sagen kann, ob er gleich wieder zurück
ins Gefängnis muss oder nicht, und
lässt sich von Laura Karaseks Mann die
VVVorzüge der Blockchain erklären. Zweiorzüge der Blockchain erklären. Zwei
Meter weiter tauschen sich Manesse-
Chef Horst Lauinger und der Kritiker
IIIjoma Mangold über Dachfenster undjoma Mangold über Dachfenster und
Kastanien aus (beide mit Vorsicht zu
genießen).
Mara Delius, Leiterin der „Literari-
schen Welt“, bricht zeitig auf, am Frei-
tagmorgen bekommt sie den Julius-
Campe-Preis, mit dem sich der Verlag
Hoffmann und Campe bei der Literatur-
kritik revanchiert. Dotiert ist er mit 99
Flaschen Wein. Man sollte darüber
nachdenken, ihn am Anfang der Messe
zu verleihen, denn Wein kann allmäh-
lich niemand mehr sehen. In seiner Lau-
datio assoziiert sich Peter Sloterdijk
von Atlas und Herkules über Foucaults
Antrittsrede bis zu einer Helmut-Kohl-
Parodie. Die Zuhörer lernen außerdem,
dass es sich beim „literarischen Feld“
um ein Fünfeck handelt. Die deutsche
Gegenwartsliteratur charakterisiert
Sloterdijk mit der Einschätzung, im
Prinzip schrieben alle Autoren dasselbe
Buch, in dem sie in eine kleine Stadt
reisten, um in einer Truhe die Liebes-
briefe ihrer Großmutter zu finden.
Das klingt tatsächlich nicht zuletzt
nach Handke. Auch diesen Name kann
man allmählich nicht mehr hören.
Man braucht dringend eine Pause von
WWWein und Handke. Schnell in die Eb-ein und Handke. Schnell in die Eb-
belwoi-Wirtschaft „Zum Gemalten
Haus“. „Was hätten Sie denn gern?“
„Einen Apfelwein, bitte. Und dazu ei-
nen Handkäs.“

Unter


Korrektheits-


Strebern


Die einen regen sich


noch über Handke


auf. Die andern sind


schon weiter und


hassen seinen


schärfsten Kritiker


wegen eines


Indianerwitzes.


Ein Report von der


Frankfurter


Buchmesse


MARLENE GAWRISCH / WELT (4)

W


Das Boot, mit dem Ludwig Wittgenstein in
norwegischen Fjorden ruderte

Der Nobelpreisträger, dessen Ansichten
noch gruseliger waren als die von Handke

Es wird auch gelesen
auf der Buchmesse: im
norwegischen Pavillon

WAMS_DirWAMS_DirWAMS_Dir/WAMS/WAMS/WAMS/WAMS/WSBE-VP1/WSBE-VP1
20.10.1920.10.1920.10.19/1/1/1/1/Kul1/Kul1CPASSLAC 5% 25% 50% 75% 95%

Abgezeichnet von:
Artdirector

Abgezeichnet von:
Textchef

Abgezeichnet von:
Chefredaktion

Abgezeichnet von:
Chef vom Dienst

55


20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-VP1


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WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019 SEITE 55

KULTUR


Kann man sich Leo Tolstoi vorstel-
len, der eine entschuldigende Rede
auf der Beerdigung von Napoleon
hält? Die Frage stellt sich in einer
Woche, in der in den sozialen Me-
dien extrem viele Tolstoi-Witze ge-
rissen wurden. Der Anlass war eine
Tirade, die der frisch gekürte Nobel-
preisträger Peter Handke Journalis-
ten entgegenschleuderte, die ihn auf
seine Verharmlosung serbischer
Kriegsverbrechen im Jugoslawien-
krieg und seine Quasi-Heiligspre-
chung des Präsidenten Milošević an-
sprachen.
Den Journalisten antwortete
Handke: „Ich bin ein Schriftsteller,
ich komme von Tolstoi, ich komme
von Homer, ich komme von Cervan-
tes. Lasst mich in Frieden und stellt
mir nicht solche Fragen.“ Dann
brach er das Interview ab.
Inwieweit Handke tatsächlich von
Tolstoi kommt, lässt sich am besten
mit „Krieg und Frieden“ beantwor-
ten, dem Epochenroman, mit dem
der Russe das Gleiche anstrebte, was
der Österreicher mit seinen literari-
schen Einlassungen zum Jugosla-
wienkrieg wollte: Moral, Wahrheit
und Menschlichkeit vermessen,
wenn sie den extremen Belastungs-
proben eines militärischen Weltun-
tergangs ausgesetzt sind.
Der gravierendste Unterschied
zwischen Handke und Tolstoi zeigt
sich in der Betrachtung der Despo-
ten, die diese Apokalypsen ausgelöst
haben. Tolstoi schildert zwar auch
den Franzosenkaiser Napoleon Bo-
naparte als Wesen, das das, was es
angerichtet hat, auch kaum besser
durchschaut als der einfache Soldat.
Er spricht ihn aber nicht von persön-
licher Verantwortung frei.
Dagegen ist alles, was Handke zu
Slobodan Milošević geschrieben hat,
eine Legende vom unschuldigen Mär-
tyrer, den der moralisch inkompeten-
te Westen zu Unrecht gerichtet hat.
Zu guter Letzt hielt er 2006 eine Rede
beim Begräbnis des Serben, in der er
einen scharfen Trennstrich zwischen
sich und „die sogenannte Welt“ zog,
die glaubt „die Wahrheit“ über Mi-
lošević zu kennen. Er selbst kenne sie
nicht: „Deswegen bin ich heute anwe-
send, nah an Jugoslawien, nah an Ser-
bien, nah an Slobodan Milošević.“

Dagegen schreibt Tolstoi über Na-
poleons Ägypten-Feldzug: „Jenes
Ideal von Ruhm und Größe, das da-
rin besteht, dass man keine der eige-
nen Taten für sittlich schlecht hält,
sondern auf jedes Verbrechen, das
man begangen hat, stolz ist, indem
man ihm eine übernatürliche Bedeu-
tung beilegt, dieses Ideal gelangt in
Afrika zu schrankenloser Ausbil-
dung.“ Tolstoi kannte vielleicht auch
nicht die Wahrheit schlechthin, aber
für ihn war „Ich weiß, dass ich nichts
weiß“ keine Ausrede für ethische In-
kompetenz.
In einem ähneln sich die beiden
Autoren allerdings doch: So wie
Handke sich einen romantisch ver-
klärten Privatbalkan zusammenima-
giniert, den er als Folie für seine Ver-
achtung des Westens braucht, so
dichtete Tolstoi sich ein russisches
Idealvolk, das seinen Bedürfnissen
entsprach. Am Ende sah er sogar aus
wie ein Muschik.

„Krieg und


Frieden“ von Leo


Tolstoi


DER AKTUELLE KLASSIKER

AUCH TOLSTOI


ERFAND SICH SEIN


RUSSLAND, SO WIE


HANDKE SEINEN


PRIVATBALKAN


ERFAND


VONMATTHIAS HEINE

„Terminator 6“:Linda Hamilton und Arnold Schwarzenegger retten uns wieder S. 58


Thoamas
Gottschalk liebt
Bücher so sehr,
dass er selbst
wieder eins
geschrieben hat

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