Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1
töten wollte, „vorzugsweise Juden“.
„Döner nehmen wir“, kündigte der At-
tentäter im Video-Livestream zynisch
an, kurz bevor er in das Lokal stürmte.
Tekin erinnert sich, wie er von dem
AAAngriff erfuhr. „Mein Bruder hat michngriff erfuhr. „Mein Bruder hat mich
angerufen, mir erzählt, was gerade pas-
siert. Ich bin zurückgerannt.“ Zwei türki-
sche Bauarbeiter seien ihm entgegenge-
kommen, hätten ihn angeschrien, er solle
bloß umkehren. Dann sei der Attentäter
aaaus dem Imbiss gekommen. „Ich habeus dem Imbiss gekommen. „Ich habe
mich hinter ein Auto gelegt“, sagt Tekin.
„Ich dachte, der ist Soldat oder so, er hat-
te ja eine Uniform an.“ Er habe unter
dem Fahrzeug durchgeschaut und gese-
hen, wie der Attentäter von den Schüs-
sen eintreffender Polizisten niederge-
streckt worden, Sekunden später aber
wwwieder aufgestanden und mit einem Autoieder aufgestanden und mit einem Auto
geflüchtet sei. „Die Polizei kam spät“,
meint Tekin. Der Täter habe so viel Zeit

gehabt, dass er den Döner dreimal betre-
ten konnte. „Er hat den Jungen einmal
angeschossen. Dann kam er wieder rein,
hat gesehen, dass er noch lebt, und hat
ihn getötet.“
In diesem Moment, so Ismet Tekin,
sei ihm klargeworden, dass es genauso
gggut ihn hätte treffen können. Zumal erut ihn hätte treffen können. Zumal er
bei gutem Wetter oft auf einem Stuhl
vor dem Imbiss gesessen habe. Er ist an
diesem Vormittag nicht allein zum Ge-
spräch gekommen. Eine Mitarbeiterin
der „Mobilen Beratung für Opfer rech-
ter Gewalt“ begleitet ihn. Man könne
Tekin in einer solchen Situation nicht
alleinlassen, sagt die Frau, die anonym
bleiben will, weil sie fürchtet, in den Fo-
kus Rechtsextremer zu geraten.
Ziel sei es, so berichtet sie, schnell ei-
nen Trauma-Experten zu finden, der
ihm nun helfen könne. Das sei nicht ein-
fach, weil man jemanden suche, der
Türkisch spreche, damit Tekin über all
seine Gefühle reden kann. Noch sei er
in der Schockphase. Allerdings macht er
sich bereits Vorwürfe. „Es tut mir weh,
dass es den Jungen getroffen hat. Viel-
leicht hätte ich mit meinem Bruder et-
was gegen den Täter machen können.“
Neben dem Gefühl, in einem entschei-
denden Moment seines Lebens versagt
zu haben, empfindet Tekin auch Wut.

I


smet Tekin steht es im Gesicht
geschrieben, dass er eine Woche
lang kaum geschlafen hat. Sein
Blick geht ins Leere, unter den
AAAugen des 35-Jährigen, der vor elfugen des 35-Jährigen, der vor elf
Jahren aus der Osttürkei nach
Halle kam, zeichnen sich Schatten
aaab. Tekin sitzt in der Filiale einer großenb. Tekin sitzt in der Filiale einer großen
Bäckereikette nördlich der Innenstadt
und spricht über die sieben Tage, die
sein Leben verändert haben. „Ich fühle
mich momentan nicht gut, ich fühle
mich kaputt.“

VON PHILIP KUHN
AUS HALLE/SAALE

Schräg gegenüber liegt der „Kiez Dö-
ner“ – der Arbeitsplatz von Ismet Tekin
und seinem Bruder Rifat. Dort hinein
hat eine Woche zuvor der Attentäter
Stephan Balliet zunächst mehrere

Sprengsätze geschleudert, ist dann in
den Laden gestürmt und erschoss dort
einen 20-jährigen Kunden, der hinter ei-
nem Kühlschrank kauernd um sein Le-
ben flehte. Zuvor hatte der Rechtsextre-
mist vergeblich versucht, in die nahe ge-
legene Synagoge einzudringen, um Ju-
den zu erschießen. Anschließend tötete
er eine 40-jährige Passantin.
Rifat und Ismet Tekin bedienten an
diesem Tag im Döner. Rifat stand hinter
der Salattheke, als der Attentäter auf-
tauchte. Ihm gelang die Flucht. Sein
Bruder war kurz zuvor einkaufen ge-
gangen. Beide sind traumatisiert, Rifat
möchte schweigen, Tekin spricht. „Ich
habe über Monate hinweg 15 bis 16
Stunden täglich gearbeitet, aber war
nicht so kaputt wie jetzt“, sagt er. Ver-
gangene Nacht habe er maximal drei
Stunden geschlafen, sei aufgestanden,
habe sich immer wieder Gesicht und
Hände gewaschen. Seinem Bruder gehe
es noch schlechter. Der 31-Jährige ver-
lasse die gemeinsame Wohnung gar
nicht mehr. Er mache sich Sorgen, ihn
allein zu lassen, sagt Ismet Tekin.
Dass sich Balliet auch den Imbiss als
Ziel ausgesucht hatte, war kein Zufall.
Der Laden lag auf seinem Fluchtweg
und passte zum Plan des 27-Jährigen,
der so viele „Nicht-Weiße“ wie möglich

Auf den Täter und inzwischen auch auf
die Politiker, die am Tag nach der Tat
vor dem Imbiss Blumen abgelegt haben.
Sie hätten ihn als Betroffenen bei ih-
rem Besuch schlicht nicht beachtet.
„Steinmeier kam zum Döner, legte seine
Blumen vor der Tür ab, fragte aber nicht
nach, wo wir sind oder wie es uns geht“,
erzählt Tekin über den Besuch des Bun-
despräsidenten. „Ich hatte gerade ein
Fernsehinterview, der Journalist sagte:
,Der kommt jetzt gleich zu ihnen.‘ Ich ha-
be das erwartet“, so Tekin. Stattdessen
sei Frank-Walter Steinmeier nach zwei
Minuten wieder davongefahren. „Es wa-
ren wenige Meter zwischen uns beiden.“
Der Besuch von Innenminister Horst
Seehofer (CSU) kurz danach sei nach
dem gleichen Muster verlaufen. Seeho-
fer habe vor dem Imbiss die Hände ge-
faltet, innegehalten und den versiegel-
ten Tatort nach etwa drei Minuten wie-
der verlassen. Dabei sei der Minister zu-
vor lautstark über die Anwesenheit Te-
kins informiert worden. „Redet ihr
nicht mit Betroffenen?“, habe ein Pas-
sant gefragt. Der Innenminister und sei-
ne Entourage hätten auf diese Rufe „pi-
kiert“ reagiert, seien rasch weggefah-
ren, berichtet auch ein Anwohner, der
dieser Zeitung namentlich bekannt ist.
Auf Nachfrage dieser Zeitung teilte das
Ministerium mit, dass sich „Herr Tekin
gegenüber Herrn Minister Seehofer lei-
der nicht zu erkennen gegeben“ habe.
Der Besuch des Ministers habe aber al-
len Opfern des rechtsterroristischen
Anschlages gegolten, Herrn Tekin ein-
geschlossen.
Auch das Präsidialamt fühlt sich zu
Unrecht angegriffen. „Für den Bundes-
präsidenten und seine Mitarbeiter war
nicht ersichtlich, dass während des Ge-
denkens Mitarbeiter des Döner-Imbis-
ses anwesend waren“, sagte eine Spre-
cherin Steinmeiers. „Hätten sie sich zu
erkennen gegeben, wäre der Bundesprä-
sident natürlich auf sie zugegangen.“
Nachdem sich der Inhaber des Dö-
ner-Imbisses, Izzet Cagac, per Instag-
ram und Facebook über die Nichtbeach-
tung beklagt hatte, telefonierte Stein-
meier mit ihm. „In dem Telefonat am
Montag hat der Bundespräsident dem
Besitzer sein Mitgefühl versichert. Er
sei mit seinen Gedanken auch bei allen
Mitarbeitern des Imbisses, die noch un-
ter den schrecklichen Eindrücken des
Anschlags stünden“, sagt die Spreche-
rin. Möglicherweise hatte zuvor auch
ein Tweet des Berliner Künstlers Sha-
hak Shapira das Bundespräsidialamt in
Alarmstimmung versetzt. Shapira hat
bei Twitter mehr als 160.000 Follower,
dort teilte er einen Facebook-Beitrag
des Döner-Besitzers.
Tekin findet es falsch, dass der Bun-
despräsident nur seinen Chef angerufen
hat – und er nimmt Steinmeier das Mit-
gefühl nicht ab. Cagac sei während des
Anschlags im Ausland gewesen. „Mein
Chef hatte nicht diese Schmerzen, die
wir hatten“, sagt Ismet Tekin. Er hofft
dennoch, dass er sein Trauma schnell
üüüberwinden und bald wieder im Imbissberwinden und bald wieder im Imbiss
hinter der Theke stehen kann. Nach wie
vor will er seine Frau, die noch in der
Türkei lebt, bald nach Halle holen. Vom
Anschlag hat er ihr aber nicht erzählt:
„Das würde sie nur aufregen.“ Zuspruch
bekommt Tekin von Mitbürgern, die ihn
vom Fernsehen kennen und auf der Stra-
ße ansprechen. „Ich bin Hallenser. Dazu
wird man, wenn man mehr als zehn Jah-
re hier lebt. Daran kann der Attentäter
nichts ändern.“

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Abgezeichnet von:
Artdirector

Abgezeichnet von:
Textchef

Abgezeichnet von:
Chefredaktion

Abgezeichnet von:
Chef vom Dienst

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20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-HP


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6 POLITIK WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER


Z


u Jahresbeginnversetzte ein
Phantom namens „G0d“ deut-
sche Sicherheitsbehörden in
Alarm. Unter diesem Pseudonym hatte
jemand im Dezember 2018 auf Twitter
einen „Adventskalender“ eingerichtet.
Er veröffentlichte darin Links zu priva-
ten Daten von fast 1000 Prominenten
und Politikern. Die Republik rätselte:
Hatte der russische Geheimdienst zuge-
schlagen? Oder wollte jemand Promi-
nente erpressen? Die Wahrheit ist wohl
banaler: Der Tatverdächtige Johannes
S., so die Ermittler, ist kein Spezialist,
er ist ein Jugendlicher mit etwas techni-

schem Geschick und viel Zeit. Betroffe-
ne beklagen, der Datendieb hätte eher
enttarnt werden können, hätte man alle
seine Spuren zusammen gelesen.
Beim sogenannten Doxing werden in
schädlicher Absicht persönliche Daten
im Netz gesammelt und veröffentlicht.
Akribisch entblößte „G0d“ so Abgeord-
nete und Prominente und rüttelte Be-

hörden und die Politik auf. Heute ste-
hen die Ermittlungen gegen den 21-Jäh-
rigen aus dem hessischen Homberg
(Ohm) vor dem Abschluss. Sie zeigen:
Bei konsequenter Strafverfolgung hätte
es den „Adventskalender“ womöglich
nie gegeben. Schon lange davor zeigten
Menschen aus diversen Bundesländern
bei der Polizei an, von „G0d“ gedoxt
worden zu sein. Das bestätigen Betrof-
fene wie die Youtuber Sally Gey und Ray
Roentgen. Sie setzten sich kritisch mit
der AfD und rechten Youtubern ausein-
ander und wurden wohl dadurch zu Zie-
len von Johannes S. Letzterem konnten
verschiedene Pseudonyme zugeordnet
werden, unter denen er etwa islam-
feindliche Online-Kommentare tätigte.
Ab dem 24. Juni 2017 twitterte „G0d“
Links zu privaten Daten. Das zeigen ar-
chivierte Versionen des Accounts von
Youtuber Yannick Kromer, der an jenem
Tag vom Datendieb gekapert wurde.
Kromer wandte sich an die Polizei, lie-
ferte Hinweise – vergebens. „Es ergaben
sich keine erfolgversprechenden Ansät-
ze zur Identifizierung des Täters. Das

Verfahren wurde daher im Oktober 2017
eingestellt“, teilte die Staatsanwalt-
schaft Landau auf Anfrage mit. Erst
nach der Festnahme von Johannes S.
kam wieder Bewegung in den Fall. Das
Verfahren wurde zur Prüfung ans Bun-
deskriminalamt gegeben, es ermittelt
für die Zentralstelle zur Bekämpfung
der Internetkriminalität (ZIT) der Ge-
neralstaatsanwaltschaft Frankfurt.
Es einer von 425 Ermittlungsvorgän-
gen, die die ZIT von diversen Staatsan-
waltschaften übernahm. Laut der Be-
hörde zog sie acht weitere Verfahren an
sich, die es schon vor dem Adventska-
lender gab. Darin war Johannes S. schon
teils als Tatverdächtiger geführt wor-
den. Hätten Behörden diese Fällen ver-
bunden, hätten sie ihn eher gehabt.
Staatsanwaltschaften teilen Informatio-
nen über Ländergrenzen aber nur, wenn
es konkrete Hinweise auf überregionale
Kontexte gibt oder der Verdächtige be-
kannt ist. Weil Johannes S. seine Identi-
tät mit Software verschleierte, konnten
die Staatsanwaltschaften nicht verbin-
den, was zusammengehört. Betroffene

wie Kromer berichten von Polizisten,
die nicht wissen, wie sie mit digitalen
Straftaten umgehen sollen – die Folge:
Ermittlungsverfahren werden einge-
stellt, persönliche Daten bleiben oft jah-
relang im Netz und Betroffene können
nicht auf die Hilfe von Behörden zählen.
So konnte „G0d“ ungehindert weiter
private Daten veröffentlichen. Bis er an-
fing, statt Youtubern auch politische
Schwergewichte wie Robert Habeck
und Andrea Nahles bloßzustellen.
Der Schüler bekam letztlich mehr
Aufmerksamkeit, als ihm lieb war. Nach
der kurzzeitigen Festnahme in der el-
terlichen Wohnung packte er aus. Und
er kooperierte, zeigte den Ermittlern,
wie er an Daten kam. Dabei wurde deut-
lich: Johannes S. gelang einiges, aber er
ist nicht der gewiefte Hacker, für den er
anfangs gehalten wurde – einige Daten
waren öffentlich zugänglich.
In vielen Fällen war es dem Daten-
dieb offenbar gelungen, menschliche
Schwächen auszunutzen, um an Infor-
mationen zu gelangen. Etwa wenn Be-
troffene dasselbe simple Passwort für

mehrere Accounts nutzten. Oder wenn
sie ihr Kennwort nach früheren Daten-
diebstählen nicht änderten. Gerüchte,
wonach Johannes S. Daten im Darknet
beschafft haben sollte, bestätigten sich
nicht.
Allein will er gehandelt haben, aus Är-
ger über Äußerungen öffentlicher Per-
sonen, deren Daten er schließlich ins
Netz stellte. Auffällig ist: Unter den Be-
troffenen in seinem Adventskalender
war kein einziger AfD-Politiker. Zu
einem politischen Motiv will sich die
Staatsanwaltschaft erst nach einer ab-
schließenden Bewertung äußern.
Der Fall ist für viele eine bittere Leh-
re – für die Ermittler und die Politik, am
meisten aber für die Betroffenen. Seit-
dem arbeitet das Bundesinnenministe-
rium (BMI) an einem neuen Gesetz.
Wegen „laufender Ressortabstimmun-
gen“ will das Ministerium sich dazu
nicht äußern. Ein Entwurf des IT-Si-
cherheitsgesetzes 2.0, den das Blog
Netzpolitik.org im April veröffentlich-
te, zeigt, wie das BMI künftig Datendie-
be bekämpfen will. Strafbar soll sich

nicht mehr nur machen, wer private Da-
ten ausspäht oder abfängt. Auch wer
sich Daten beschafft und sie in der Ab-
sicht veröffentlicht, jemandem zu scha-
den, soll bestraft werden.
Außerdem soll das Cyber-Abwehr-
zentrum ausgebaut werden, das im Bun-
desamt für Sicherheit in der Informati-
onstechnik angesiedelt ist. Es koordi-
niert in Krisenlagen mit Cyber-Bezug
die Sicherheitsbehörden. Der Informa-
tionsaustausch soll besser werden, um
Zusammenhänge zwischen Ereignissen,
die unterschiedlichen Stellen gemeldet
wurden, schneller zu erkennen.
Letzteres hat direkt mit dem Doxing-
Fall Johannes S. zu tun. Die Staatsan-
waltschaft wirft ihm das Ausspähen von
Daten, Datenhehlerei und Verstöße ge-
gen das Datenschutzgesetz vor. Verhan-
delt wird der Fall wohl vor dem Jugend-
schöffengericht des Amtsgerichts Als-
feld. Nach Erwachsenenstrafrecht
drohten ihm im schlimmsten Fall bis zu
drei Jahren Haft und eine saftige Geld-
strafe. Nach Jugendstrafrecht dürfte
das Urteil deutlich milder ausfallen.

Und täglich ging ein Türchen auf


Anfang des Jahres hatte der Schüler Johannes S. persönliche Daten von Politikern ins Netz gestellt – als Adventskalender. Jetzt sind die Ermittlungen abgeschlossen


VONALEXEJ HOCK UND MARC PFITZENMAIER

Ein Schmerz,


der nicht


VERGEHT


Ismet Tekin, der Mitarbeiter eines Imbisses,


entkam nur durch Zufall dem Attentäter


von Halle. Der Türke ist enttäuscht, dass die


Politik ihn und seinen Bruder übersieht


M
ICHAEL BADER

(2)

IIIsmet Tekin arbeitet imsmet Tekin arbeitet im
„Kiez Döner“ in Halle.
Als ein rechtsextremer
TTTerrorist das Lokalerrorist das Lokal
angriff, war er gerade
einkaufen. Erschossen
wurde darin ein
2 0-jähriger Kunde.
Im Schaufenster des
Imbisses ist links ein
Einschussloch zu sehen

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