Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1
passierte viel. Richard Nixons Präsi-
dentschaft begann. Charles de Gaulle
zog sich nach Colombey-les-Deux-
Églises zurück. Jan Palach verbrannte

zog sich nach Colombey-les-Deux-
Églises zurück. Jan Palach verbrannte

zog sich nach Colombey-les-Deux-

sich selbst auf dem Prager Wenzels-
platz. Mit dem Woodstock-Festival er-
lebte die amerikanische Hippie-Bewe-
gung ihren Höhepunkt. Neil Armstrong
betrat als erster Mensch den Mond. Die
Concorde machte ihren Jungfernflug.
Die Baader-Meinhof-Bande ging in den
Untergrund. Willy Brandt wurde Bun-
deskanzler. In Libyen kam durch einen
Staatsstreich Muammar al-Gaddafi an
die Macht. In der New Yorker Christo-
pher Street lieferten sich Schwule und
andere sexuelle Minderheiten Straßen-
schlachten mit der Polizei. Die Beatles
produzierten mit „Abbey Road“ ihr letz-
tes Album. Sharon Tate wurde in Holly-
wood ermordet.

VON WOLF LEPENIES

„Damit nahm alles seinen Anfang“,
behauptet der bekannte französische
Journalist Brice Couturier in einem ge-
rade erschienenen, fast 600 Seiten lan-
gen Buch mit dem Titel „1969, année fa-
tidique“ (das Schicksalsjahr). Als Reak-
tion auf das „fantastische Scheitern von
1968“ geschrieben, ist „1969“ das jüngs-
te Beispiel für die Faszination durch das
singuläre Datum, in dem sich vielfältige
Ereignisse bündeln.
Die Zahl der Jahr-Bücher ist Legion
und wächst und wächst. Jedes Jahr des
Ersten Weltkriegs hat mindestens eine
„Biografie“ gefunden, auch wenn deren
Titel nicht immer so lakonisch sind wie
der des Romans von Jean Echenoz: „14“.
Der Roman spielt im Sommer, der für
Jahr-Bücher beliebtesten Saison, von
Roger Martin du Gards „Sommer 1914“
über Florian Illies’ „1913. Der Sommer
des Jahrhunderts“ bis zu Volker Weider-
manns „Ostende: 1936, Sommer der
Freundschaft“.

Jahresbiografien rücken ein zentrales
Ereignis in den Mittelpunkt. Oder sie
versuchen in pointillistischer Manier
durch das Aneinanderreihen von Tages-
geschehen das Profil eines Jahres zu
formen: Aus Episoden bildet sich die
Epoche. Zum ersten Genre gehört
„1812“ von Adam Zamoyski, das Napole-
ons Russlandfeldzug schildert – beim
Lesen könnte man Peter Tschaikowskys
gleichnamige Ouvertüre hören – zur
Ein-Ereignis-Biografie gehört auch
„1813“ von Andreas Platthaus, ein Rück-
blick auf die Völkerschlacht von Leipzig,
„das Ende der alten Welt“.
Dem pointillistischen Genre droht Be-
liebigkeit: So ließ Florian Illies seinem
Bestseller „1913“ ein zweites Buch mit
dem gleichen Titel und dem entwaffnen-
den Untertitel „Was ich unbedingt noch
erzählen wollte“ folgen. Bei einiger An-
strengung in der Suche nach weiteren
Details lässt sich „1913“ bestimmt noch
ein drittes Mal schreiben. Das Ganze er-
innert an Lytton Stracheys Bekenntnis in
seiner Gruppenbiografie „Eminent
Victorians“: „Die Geschichte des vikto-
rianischen Zeitalters wird niemals ge-
schrieben werden: Wir wissen darüber
zu viel. Ignoranz ist unentbehrlich für
den Historiker ...“
Die Konzentration auf die „Biografie“
eines Jahres hat einen Vorteil: Sie lässt
Personenkonstellationen scharf in den
VVVordergrund treten, die beim Blick aufordergrund treten, die beim Blick auf
längere Zeiträume diffus bleiben wür-
den. So rekonstruiert der Musikologe
und Berlioz-Kenner Hugh Macdonald in
seinem Buch „Music in 1853. The Biogra-
phy of a Year“ ein Netzwerk, in dem, be-
fffördert durch das Aufkommen der Eisen-ördert durch das Aufkommen der Eisen-
bahn, Brahms, Berlioz und Liszt, Schu-
mann und Richard Wagner miteinander
in Verbindung treten.
Jahr-Bücher beschränken sich nicht
auf Resümees, oft erheben sie den An-
spruch, die gängige Biografie eines Jah-
res zu korrigieren oder zu vervollständi-
gen. Dies gilt für Keith Jefferys „1916“ mit
dem Untertitel „A Global History“ eben-
so wie für Ian Burumas „1945“, das in der
holländischen Ausgabe den passenden
Untertitel „Biografie van een jaar“ trägt.
Durch Zeitkonzentration und geografi-

sche Weitung auf Asien und Afrika wer-
den in beiden Büchern Europa-zentri-
sche Perspektiven korrigiert.
Seine Nobilitierung erfährt das Jahr-
Buch, wenn sein Gegenstand ein Wun-
derjahr ist. Die überraschendste Würdi-
gung eines „Year of Wonders“ ist John
Drydens langes Gedicht „Annus mirabi-
lis“ aus dem Jahre 1666. Streng kompo-
niert – 304 Vierzeiler, jede Zeile aus
zehn Silben im Reimschema ABAB be-
stehend – schildert es eine Anreihung
von Katastrophen: „einen kostspieligen
Krieg“, „eine verzehrende Pest“ und ei-
ne „noch mehr verzehrende Feuers-
brunst“. Wie ließ sich da von einem
„Mirabilis Annus, the Year of Prodigies“
sprechen? Antwort gibt die Geschichte:
1 660 begann mit der Rückkehr Charles’
II. die Stuart-Restauration. Republika-
ner sahen im Krieg, in der Pest und in
der Feuersbrunst Zeichen, mit denen
Gott ein Verdammungsurteil über die
erneuerte Monarchie fällte. Dryden
hielt dagegen: Der Kampf gegen die Hol-
länder wurde gewonnen, 1666 ließ die
Pest nach, das Feuer wurde durch das
kluge Vorgehen der City of London ein-
gedämmt, ihr widmete Dryden sein Ge-
dicht. Gott hatte das Königtum, die Kir-
che und die City nicht bestraft, er hatte
sie geprüft. Seit John Drydens Gedicht
hat der Ausdruck „Annus mirabilis“ ei-
nen nüchternen britischen Akzent: „It
could have been worse!“
Und so wie man an den englischen
Dichter denken sollte, wenn von einem
„Annus mirabilis“ die Rede ist, muss
man auch beim Gegenbegriff „Annus
horribilis“ nach England schauen. Es ist
der 24. November 1992, Königin Eliza-
beth hält in der Londoner Guildhall die
Rede zu ihrem 40-jährigen Thronjubilä-
um, sie ist sichtlich bewegt, ihre Stimme
zittert: „1992 ist kein Jahr, auf das ich mit
ungetrübter Freude zurückblicken werde
... Annus horribilis.“ Zwei Tage zuvor
hatte ein Feuer in Windsor Castle gro-
ßen Schaden angerichtet, Charles und
Diana trennten sich, es war nicht der ein-
zige Ehekonflikt unter den „Royals“.
AAAber nicht die Klage ist das Bedeut-ber nicht die Klage ist das Bedeut-
samste an der Rede der Queen. Es sind
die geschichtsphilosophischen Überle-

gungen, die sie mit ihrer Klage verbindet.
Elizabeth II. fragt sich, wie künftige Ge-
nerationen auf dieses „tumultuöse Jahr“
zurückblicken werden. „Ich wage zu sa-
gen, dass die Geschichte moderater ur-
teilen wird als heutige Kommentatoren
... Zeitliche Distanz verleiht dem Urteil
ein anderes Gewicht, verleiht ihm Maß
und Mitgefühl, ja vielleicht sogar Weis-
heit, die in den Reaktionen derjenigen
oft abwesend ist, deren Aufgabe im Le-
ben darin besteht, zu großen wie kleinen
Ereignissen sofort eine Meinung zu ha-
ben.“ Souverän war die Queen in der La-
ge, die für sie schmerzhaften Ereignisse
eines Jahres in eine längere Perspektive
zu rücken. John Dryden in seinem para-
dox klingenden Lob des „Annus mirabi-
lis“ 1666 wie die Queen in ihrer Betrof-
fffenheit durch das „Annus horribilis“ 1992enheit durch das „Annus horribilis“ 1992
befreiten sich aus der Enge der Ereignis-
geschichte: „They took the long view.“
Der Erfolg der Jahr-Bücher ist ein Zei-
chen für die Rückkehr der kurzfristigen,
oft auch kurzatmigen Ereignisgeschich-
te. Die Zeit ist noch nicht lange her, da
vor allem französische Historiker den
Tod der ereignisbezogenen Politikge-
schichte ein „fait accompli“ nannten.
Heute verkünden andere Historiker ihre
AAAuferstehung.uferstehung.
Drückt sich darin eine verminderte
Sensibilität für langfristige Entwicklun-
gen aus? Vermutlich ist das Gegenteil der
Fall, die Ereignisgeschichte ist ein Kom-
pensationsphänomen. Konfrontiert mit
erdgeschichtlichen Strukturwandlungen
(Klimawandel) wie globalhistorischen
Konjunkturänderungen (Digitalisierung
der Lebenswelt) wird das Verlangen stär-
ker, wenigstens den Ablauf der politi-
schen wie der Kulturgeschichte durch
deutliche Zäsuren zu ordnen. Die Kon-
junktur der Jahr-Bücher ist dafür ein Be-
leg. Ob sie sich nun auf das „Große Er-
eignis“ konzentrieren oder auf die ge-
staltprägende Wirkung der Detail-
Sammlung vertrauen – den damit erhoff-
ten Erkenntnisgewinn sollten Autoren
wie Leser mit Goethe nicht überschät-
zen: „Das Kleine entwischt uns und das
Große verblüfft uns, und so bleiben wir
eben Menschenverstandsphilister, wie
wir waren.“

Auch das Jahr 1969, in dem Buzz Aldrin die US-Flagge auf dem
Mond hisste, hat jetzt seine Biografie bekommen

PICTURE ALLIANCE / PHOTOSHOT

/APOLLO 11 DOK5

„1913“, „1812“, 1966“: Bald hat jedes Jahr


sein eigenes Buch. Was sagt der Boom


solcher Chroniken über unser


Geschichtsverständnis aus?


Die wunderbaren


JAHRE


1969


WAMS_DirWAMS_DirWAMS_Dir/WAMS/WAMS/WAMS/WAMS/WSBE-VP1/WSBE-VP1
20.10.1920.10.1920.10.19/1/1/1/1/Kul4/Kul4CPASSLAC 5% 25% 50% 75% 95%

Abgezeichnet von:
Artdirector

Abgezeichnet von:
Textchef

Abgezeichnet von:
Chefredaktion

Abgezeichnet von:
Chef vom Dienst

60


20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-VP1


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