Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1

Die Post-Millennials


wirken progressiv,


sie orientieren sich


aber vor allem an


der Vergangenheit –


aus Überforderung


Alles HUI


und PFUI


zugleich


Pelzen. Ab 2023 dürfen keine neuen
Pelzwaren mehr verkauft werden.
Ebenso verbietet Kalifornien das
Rauchen an Stränden. Was schon
wieder lustig ist, weil sie das Kiffen
dort ja gerade erst erlaubt haben.
Die No-Fap-Bewegung will sogar
aus der Onanie aussteigen (der Na-
me bezieht sich auf das Verb to fab,
ein englisches Slangwort fürs Ma-
sturbieren). Andere verzichten auf
Zucker, Gluten, Fleisch oder auf die
Penetration beim Geschlechtsver-
kehr. Am Ende soll der freiwillige
Verzicht dazu beitragen, das Leben
einfacher und übersichtlicher zu
machen. Sogar die Mode will aus
der Mode aussteigen.
In seiner letzten Kollektion vor
dem Ausstieg bei Calvin Klein ge-
staltete Raf Simons Marching-
Band-Uniformen für die Couture-
Linie 205W39NYC. Peggy Gou, die
südkoreanische Wunderfrau, die
Musikproduzentin und Modedesi-
gnerin zugleich ist, entwirft Feuer-
wehruniformen, Jeremy Scott
steckt Männer in Outfits von Be-
dienungen in Schnellrestaurants.
Die Workwear-Firma Carhartt fei-
ert ein großes Revival. Und Men-
schen, die nur noch mit den Finger-
spitzen arbeiten, sehen jetzt aus
wie Holzfäller, Survival-Freaks
oder Hafenarbeiter, tragen freiwil-
lig Arbeitsuniformen.
Die Alternative dazu: Marken-
kluft. Also nicht unbedingt Kleider
von bekannten Marken, aber mit
Logomotiv. In den Straßen von
London, Bielefeld und Aix-en-Pro-
vence tragen die Kids McDonald’s-

E


in durchschnittlicher
Büroangestellter
empfängt täglich 121
E-Mails. Pro Tag
werden 350 Millio-
nen Fotos auf Face-
book geladen. Instagram-User pro-
duzieren 3,5 Milliarden Likes an
einem Tag. Unsere Zeit verlangt
von denen, die an ihr teilhaben
wollen, eine ständige Positionie-
rung. Denn es passiert so unendlich
viel. Ein italienischer Modedesi-
gner hat einen antisemitischen To-
talausfall. Eine Grünen-Politikerin
aus Bayern isst in Kalifornien Eis
mit einem Plastiklöffel. Ein weißer
Student trägt Dreadlocks an einer
Universität in Südafrika. Und eine
New Yorker Klimaaktivistin for-
dert, Babys zu essen, um die Erder-
wärmung zu verlangsamen. Ob wir
es wollen oder nicht, das alles müs-
sen wir an einem durchschnittli-
chen Tag verarbeiten und eine Mei-
nung dazu haben. Das Private ist
nicht nur politisch, globalisiert,
umverteilt, sondern auch eine Fra-
ge von Scham, Stolz – und Zwang.

VON FRÉDÉRIC SCHWILDEN

Neuigkeiten erreichen uns nicht
mehr in einem täglichen Rhythmus,
sie prasseln im Millisekundentakt
auf uns ein. Das macht die Men-
schen fertig. Und deswegen feiern
sie eine neue Einfachheit.
In Sternerestaurants wie dem
„Ernst“ serviert man inzwischen
zwei Brokkoli-Röschen als Gang.
Lebensmittelläden heißen „Vom
Einfachen das Gute“, und wenn
man im Onlineshop des fränki-
schen Backpapsts Arnd Erbel einen
Laib Drescherbrot bestellt, zahlt
man dafür 32 Euro , mehr als für ein
Steak in der Hamburger Steakhaus-
kette „Block House“. Dazu wollen
alle irgendwo aussteigen. Bei „Fri-
days for Future“ und „Extinction
Rebellion“ aus dem Kapitalismus,
häufige Slogans auf den Plakaten
waren dort „Burn Capitalism / Not
Coal“ und „System Change / Not
Climate Change“. In Kalifornien
verzichtet man auf den Handel mit

Pullover von Zara, Jacken mit den
Schriftzügen der Raumfahrtbehör-
de Nasa, der Analogfilmfirma Ko-
dak oder der Limonaden Coca-Cola
(Hilfiger), Fanta (H&M) und Pepsi
(Puma). Höhepunkt der neuen Lo-
go-Obsession ist ein Versace-Hoo-
die, das mit einem Ford-Schriftzug
bedruckt ist und knapp 1000 Euro
kostet. Ford, die traditionsreiche
Autofirma, die bis auf den Ford
Mustang noch nie ein gutes Auto
gebaut hat. Obwohl der Kapitalis-
mus von den derzeitigen Jugendbe-
wegungen unisono abgelehnt wird,
tragen sie doch die Insignien des
Feindes. Und ansonsten Shirts aus
dem Merchandising-Sortiment der
Neunzigerjahre-Serie „Friends“.
Die Botschaft: Früher war die Welt
noch in Ordnung.
Adidas kramt einen Retro-Snea-
ker nach dem anderen aus den Ar-
chiven. Fred Perrys neue Kollektio-
nen bestehen zum großen Teil aus
Reissues. Die Kinder bei den „Fri-
days for Future“-Demos sehen aus,
als hätten sie sich beim Ausstatter
der Achtziger-Serie „Stranger
Things“ eingekleidet – oder bei
Grunge- und Spice-Girls-Revivals
in einem Skatepark. Noch nie be-
standen Jetzt und Morgen aus
mehr Gestern als heute. Am besten
sieht man das an der Hipster-Floh-
markt-App Depop, bei der man al-
tes Zeug verkauft und dabei sich
selbst und die alten Skateboards,
Vintage-Kleider und -Sneaker über-
ästhetisierend in Szene setzt. Ins-
tagram trifft auf Ebay und wird
zum Lifestyle. Sogar Celebritys wie
die Rapperin Brooke Candy oder
das Model Tess Holliday betreiben
dort Shops und verkaufen Dinge
aus ihrer Vergangenheit.
Woran das liegt? Daran, dass die
Erwartung herrscht, es gäbe kein
Morgen mehr. Je nach Blickwinkel
übernehmen Sexisten, Nationalso-
zialisten, Kommunisten, Großkapi-
talisten, Islamisten oder Öko-Dik-
tatoren die Weltherrschaft. Oder
die Welt geht gleich unter.
Und in dieser Welt gibt nichts
mehr Halt als das Gestern und Vor-
gestern. Wenn die 16-jährige Greta

Thunberg den Erwachsenen entge-
genruft: „Ihr habt mir meine Träu-
me und meine Kindheit geklaut“,
sagt sie auch, die Generation vor
ihr habe es besser gehabt. Auf jeden
Fall hatte sie einen Game Boy, also
ein Spielzeug, das sich einfach dad-
deln ließ, ohne smart zu sein.
Weshalb junge Erwachsene nun
wieder Game Boy beim Zugfahren
spielen und die Logos der Marken
tragen, die sie eigentlich ablehnen,
aber die sie dann doch irgendwie an
die Zeit erinnern, in der die Marken
noch Aufstieg und Freiheit verspra-
chen und nicht Unterdrückung und
Klimakrise. Es ist eine Ambivalenz,
die nur der Wohlstandskonsum
leisten kann: etwas gleichermaßen
hassen wie lieben, boykottieren
und kaufen.
Mit diesem Blick schauen die
Post-Millennials auf die Welt. Die
Nasa ist die Hoffnung aus der Ver-
gangenheit, die Zukunft im All zu
fffinden; Leben auf dem Mars, extra-inden; Leben auf dem Mars, extra-
terrestrischer Humanismus, die
Möglichkeit, als winziger Mensch
auf die Erde herabzuschauen. Das
ist auch die Hoffnung auf irgendei-
ne Art von Erlösung. Und zum Feu-
erwehrmantel und Lumberjack-
Outfit fehlt eigentlich nur noch
der Lukas-der-Lokomotivführer-
Look: Berufe und Kleidung wie aus
einem Kinderbuch. So sieht sie
aus, die Welt durch die Augen von
Kindern gesehen. Ohne Schuld.
Ohne Verantwortung. Ohne Krieg.
Die Opas, die die Erinnerung daran
am Leben halten, sterben langsam
aus. Ebenso wie jene, die als Kind
einfach so einen Burger mit Cola
bestellen durften und für die der
VVVerzicht auf Fleisch oder Zuckererzicht auf Fleisch oder Zucker
nie ein Thema war.
Nie war die Welt mehr in Ord-
nung als früher, das war so und
wird immer so bleiben. Obwohl
die Post-Millennials mit „Fridays
fffor Future“ und „Extinction Re-or Future“ und „Extinction Re-
bellion“ die Zukunft retten wol-
len, leben sie doch in der Vergan-
genheit. Meistgesungenes Lied bei
„Berlin blockieren 7. Oktober
2 019“ war John Lennons „Power to
the People“ von 1970.

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Artdirector


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Textchef


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Chefredaktion


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Chef vom Dienst


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20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-VP1


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2 0.OKTOBER2019 WELT AM SONNTAG NR.42 STIL 71


Das Stilmagazin in


am 27. Oktober 2019


„Know-how. Das Stichwort dieser Ausgabe.


Das ist nichts Schnelles, kein „mal eben“. Das ist solide.


Man kann davon nie genug bekommen.“


Inga Griese, Editor-in-chief ICON


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