Die Welt am Sonntag - 20.10.2019

(Sean Pound) #1
Willy Brandt ist nicht nur für Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten ei-
ne der Lichtgestalten der deutschen Ge-
schichte im 20. Jahrhundert. Auch für
mich und für meine Generation war er
ein faszinierender Mensch und ein be-
eindruckender Politiker. Es ist bekannt,
dass ich unter seinen politischen „En-
keln“, zu denen unter anderem auch
BBBjörn Engholm, Rudolf Scharping undjörn Engholm, Rudolf Scharping und
Oskar Lafontaine zählten, nicht sein
Liebling war. Aber er hat mich unter-
stützt. Während meiner Zeit als Juso-
VVVorsitzender 1978 bis 1980, dann auforsitzender 1978 bis 1980, dann auf
meinem Weg in die Niedersächsische
Staatskanzlei in den 80er-Jahren.
Ich erinnere mich noch gut, als er im
Jahr 1985 gemeinsam mit seiner Frau
Brigitte zu einem Künstlerfest nach
Gümse im Osten von Niedersachsen
kam. Dort kamen Künstler zusammen,
um mich in meinem ersten Landtags-
wahlkampf zu unterstützen. Günter
Grass war dabei, Horst Janssen, Karl
Schaper, Katja Ebstein, Lew Kopelew,
um nur einige zu nennen. Es regnete in
Strömen. Brandt blieb. Er schätzte die
KKKunst und vor allem die Künstler, weilunst und vor allem die Künstler, weil
er wusste, wie wichtig Kultur für eine
lebenswerte Gesellschaft ist.
Dass ich ihm in gleich zwei Ämtern
nachfolgen konnte, das des Bundes-
kanzlers und das des Parteivorsitzen-
den, war damals nicht abzusehen. Aber
seine Wegweisung war für mich immer
eine Verpflichtung in beiden Ämtern.
Mit der Wahl von Willy Brandt zum
Bundeskanzler im Jahr 1969 war ein Auf-
bruch verbunden, wie ihn die Bundesre-
publik seither nicht mehr erlebt hat.
Brandts Kanzlerjahre waren von im-
mensen Herausforderungen geprägt –
innen- und außenpolitisch, für die Par-
tei, für die Bundestagsfraktion, aber
auch für das persönliche Seelenleben.
Erhard Eppler hat einmal gesagt: Po-
litik ist an der Grenze dessen angesie-
delt, was Menschen leisten können, oh-
ne Schaden zu nehmen an ihrer Seele.
Ich kann hinzufügen, dass diese Grenze
in einem Amt wie dem des Bundeskanz-
lers gelegentlich überschritten wird
oder von einem Kanzler überschritten
werden muss. Brandt, das war am Ende
seiner Amtszeit zu spüren, hat darunter
gelitten. Aber die Menschen haben mit
ihm gefühlt und ihm zu verstehen gege-
ben: Das, was er geleistet hat, wofür er
zu Recht den Friedensnobelpreis be-
kommen hat, ist etwas Großes.
Der Antritt von Willy Brandt als Bun-
deskanzler am 21. Oktober 1969 eröffne-
te neue politische Horizonte. Ein mo-
dernes Denken zog in das Kanzleramt
und strahlte in das Land. Es ging um das
AAAufbrechen von rückwärtsgewandtenufbrechen von rückwärtsgewandten
Strukturen unter dem Stichwort „Mehr
Demokratie wagen“, um einen neuen
Blick für die Verantwortung der Indus-
trieländer gegenüber den Völkern der
Dritten Welt, aber vor allem um Aus-
söhnung in Europa. Als Bundeskanzler
hat Brandt den Weg der Versöhnung in
Europa eingeschlagen, indem er ankün-
digte, dass wir ein Volk der „guten
Nachbarn“ sein werden. Dies geschah
nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte
nach dem Grauen, das der von Deutsch-
land verbrochene Zweite Weltkrieg über
unseren Kontinent gebracht hatte.
Unvergessen bleibt der Moment, als
Brandt im Jahr 1970 vor dem Mahnmal
fffür die Opfer des Aufstandes im War-ür die Opfer des Aufstandes im War-
schauer Ghetto niederkniete. Es war
eine große Geste der Versöhnung, aber
auch des Patriotismus. Dieser Kniefall
war das Symbol für eine neue, weit-
sichtige Politik, die zur Wiedervereini-
gung Deutschlands und zur Überwin-
dung der europäischen Ost-West-Spal-
tung führte.
Angesichts der tiefen Wunden des
Zweiten Weltkriegs halte ich die Aus-
söhnung Deutschlands mit unseren eu-
ropäischen Nachbarn in Ost und West
fffast für ein Wunder. Brandts Entspan-ast für ein Wunder. Brandts Entspan-
nungspolitik erforderte Mut und Stand-
haftigkeit, weil sie innenpolitisch auf
das Heftigste bekämpft wurde, auch
durch persönliche Anfeindungen. Die
politische Rechte hat ihn später wegen
seiner Emigration, ebenso wie wegen
seiner familiären Herkunft auf das
Übelste verfemt. Auch die DDR-Kom-
munisten haben ihn als „Verräter an Na-
tion und Arbeiterklasse“ verleumdet. Er
hat das ertragen, auch wenn er, wie wir
wissen, darunter sehr gelitten hat.
WWWer Willy Brandt als Mensch und Po-er Willy Brandt als Mensch und Po-
litiker verstehen will, der muss auf seine
prägenden Jahre in Berlin blicken, wo
sein politisches Wirken im Nachkriegs-
deutschland beginnt. Hier findet der

RRRückkehrer, der sich für Deutschlandückkehrer, der sich für Deutschland
entschieden hat, seine politische Heimat
und baut seine Karriere auf. Die Erfah-
rungen in der geteilten Stadt sind ein
wichtiges Motiv für seine spätere Ostpo-
litik: Nation gründet sich für ihn auf das
fffortdauernde Zusammengehörigkeitsge-ortdauernde Zusammengehörigkeitsge-
fffühl der Menschen eines Volkes. Diesesühl der Menschen eines Volkes. Dieses
Gefühl wollte er bewahren helfen.

Er kämpft um die Freiheit des West-
teils von Berlin, vor allem in den drama-
tischen Tagen des Mauerbaus, ebenso
wie für die lebensnotwendige Bindung
an die Bundesrepublik und den Erhalt
des Viermächtestatus. Aber zugleich will
Brandt eine Politik der Koexistenz mit
dem Osten – mit so vielen realen Berüh-
rungspunkten und menschlichen Kon-

takten wie möglich. Ziel dieser Berlin-
Politik ist zunächst die „Transformation
der anderen Seite“. Und langfristig das
De-facto-Ende der DDR und die Vereini-
gggung beider deutscher Staaten.ung beider deutscher Staaten.
Dem Weg, den Willy Brandt einge-
schlagen hat, ist die deutsche und auch
die europäische Politik angesichts neu-
er Herausforderungen weiterhin ver-

pflichtet. Mit dem Zwei-plus-vier-Ver-
trag 1989, der ja auf den Ostverträgen
basierte, wurde die Voraussetzung für
die volle Souveränität des vereinigten
Deutschland geschaffen. Seit diesen
Tagen haben sich die Koordinaten
deutscher Sicherheitspolitik, auch in-
ternationaler Sicherheitspolitik tief
greifend verändert.
Terrorismus, die Gefahr durch Mas-
senvernichtungswaffen und die zuneh-
mende Gewalt durch sogenannte nicht
staatliche Akteure bedrohen die globa-
le Sicherheit, auch die Sicherheit
Deutschlands, in vielfacher Weise. Völ-
kermord und Vertreibung, die Vernich-
tung von Lebensgrundlagen oder der
Kampf um den Zugang zu so wichtigen
Gütern wie Wasser destabilisieren gan-
ze Regionen. Die Antwort deutscher
wie europäischer Politik im Geiste
Brandts auf diese Herausforderung
heißt Friedenspolitik, die Konflikte
verhütet und eindämmt.
Mir erscheinen dabei vier Punkte we-
sentlich: Erstens: Wir sollten einem
umfassenden Begriff von Sicherheit fol-
gen, der sich nicht in militärischen Mit-
teln erschöpft. Dazu gehören diploma-
tische, rechtsstaatliche wie wirtschaft-
liche Maßnahmen, aber auch ökologi-
sche, soziale und entwicklungspoliti-
sche Ansätze. Zweitens: Sicherheitspo-
litik ist immer auch Präventionspolitik,
denn die Anwendung militärischer Ge-
walt kann und darf nur Ultima Ratio
sein. Aber Prävention schließt rechtzei-
tige militärische Intervention nicht aus.
Drittens: Sicherheitspolitik muss mul-
tilateral sein. Das gilt es gerade in heu-
tigen Zeiten zu betonen, in denen ein
amerikanischer Präsident diese Grund-
pfeiler der internationalen Politik zum
Wanken bringt. Und viertens: Deutsch-
land muss Außen- und Sicherheitspoli-
tik in Europa, für Europa und von Euro-
pa aus gestalten. Das bedeutet auch,
dass Europa zukünftig noch mehr Ver-
antwortung für die eigene Sicherheit
übernehmen muss.
Willy Brandt war ein Kämpfer für den
Frieden, aber keinesfalls ein Pazifist. Er,
der die nationalsozialistische Gewalt-
herrschaft erlebt und überlebt hatte,
wwwusste, dass militärische Mittel in Aus-usste, dass militärische Mittel in Aus-
nahmesituationen zu verantworten
sind. Aber sie unterlagen für ihn einem
Primat der Politik und der Verpflich-
tung, Konflikte zunächst politisch zu lö-
sen. Deshalb haben wir Deutsche nicht
nur Pflichten übernommen, sondern
ebenso auch das Recht, Nein zu sagen,
wenn wir den Einsatz militärischer Mit-
tel für nicht sinnvoll oder gerechtfertigt
halten. So war die Ablehnung des Irak-
Krieges im Jahr 2003 Ausdruck des
Selbstbewusstseins einer reifen deut-
schen Demokratie, wie sie Willy Brandt
vorgeschwebt hat.
Für die Lösung der Zukunftsaufgaben
brauchen wir heute eine „Entspan-
nungspolitik für das Zeitalter der Glo-
balisierung“, wie es Bundespräsident
Steinmeier einmal formuliert hat. Das
umfasst viele Aspekte: etwa die Emanzi-
pation in den transatlantischen Bezie-
hungen, die für Frieden notwendige
Partnerschaft mit Russland, die Kon-
fffliktlösungen im Nahen Osten, aber vorliktlösungen im Nahen Osten, aber vor
allem auch Fortschritte bei der Abrüs-
tung und Rüstungskontrolle.
So wie Brandt Deutschland nach au-
ßen neu positionierte, hat er auch im In-
neren durch eine klare und mutige Re-
ffformpolitik die Gesellschaft und dasormpolitik die Gesellschaft und das
Land modernisiert. Er hat als Bundes-
kanzler und als Parteivorsitzender Brü-
cken zwischen den Generationen ge-
baut und dazu beigetragen, dass sich ei-
ne ganze Generation nach 1968 nicht
vom Staat abgewendet hat. Sein Leit-
motiv blieb dabei der Dreiklang der
WWWerte der deutschen Sozialdemokratie:erte der deutschen Sozialdemokratie:
Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit. Da-
bei stand „Freiheit“ für ihn nicht zufäl-
lig an erster Stelle.
Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit –
das sind keine statischen Begriffe. Alle
drei sind Voraussetzung füreinander
und bedingen sich gegenseitig. Obers-
tes Ziel einer Politik der Gerechtigkeit
ist es, zu verhindern, dass Menschen
aus Arbeit und Gesellschaft ausge-
schlossen werden. Aber auch nicht zu-
zulassen, dass sie dauerhaft von staatli-
cher Unterstützung abhängig werden.
Willy Brandt war beides, Realist und Vi-
sionär, weil die Sozialdemokratie nie
die Partei des blanken Pragmatismus
war. Aber sie wäre über ihre lange Ge-
schichte auch nicht erfolgreich gewe-
sen, wenn sie sich bloß als Hüterin der
reinen Lehre verstanden hätte. Wahler-
folge jenseits der 40 Prozent, wie unter
Brandt – etwa 1972 mit 45,8 Prozent –,
Schmidt oder mir, sind nur möglich ge-
wesen, weil eine Politik auch für die
Mitte der Gesellschaft gemacht wurde.
Wer mag, kann das als Ratschlag an
meine Partei verstehen.

TDer Artikel basiert auf dem
Manuskript der Rede, die Gerhard
Schröder heute in Brandts langjäh-
rigem Wohnort Unkel hält

Willy Brandt als
Regierender Bürger-
meister von Berlin.
Ohne jene Jahre ließe
sich Brandts Politik
nicht verstehen

Brandt und sein „Enkel“
Gerhard Schröder 1984 auf dem
Essener Parteitag der SPD (rechts)

Das Foto vom Kniefall des Kanzlers
am 7. Dezember 1970 (unten) ging um
die Welt. Seine Geste entfaltete eine
ungeheure Wirkungskraft. Auch nach
seinem Rücktritt als Regierungschef
beeinflusste Brandt das politische Ge-
schehen – als SPD-Vorsitzender wie als
Chef der Sozialistischen Internationale

THOMAS HOEPKER / MAGNUM PHOTOS

; FRANK DARCHINGER; SVEN SIMON

W

Mehr


Willy Brandt


wagen


Morgen vor 50 Jahren wählte der Bundestag Willy Brandt zum


Bundeskanzler. Er setzte Maßstäbe. Innen- wie außenpolitisch.


Die SPD könnte wieder erfolgreich sein, wenn sie seine Lehren


beherzigte, glaubt sein Nachfolger Gerhard Schröder


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Textchef

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Chefredaktion

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Chef vom Dienst

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20.10.1920. OKTOBER 2019WSBE-HP


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8 POLITIK WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER


E


r sah sich als ein protestanti-
sches Gewissen der Sozialdemo-
kratie und wurde schon deshalb
von der Union ernst genommen. Im
Großgemälde der Volkspartei SPD war
Erhard Eppler stets links hinten zu se-
hen. Weithin erkennbar an seinem Bart,
seiner Statur des intellektuell-pietisti-
schen Süddeutschen, der schon in den
60er-Jahren Begriffe wie Ökologie und
Weltinnenpolitik verwendete. Eppler
stand ganz sicher links von Helmut
Schmidt, aber rechts von Oskar Lafon-
taine. Er schien ständig ein grünes
Kreuz auf seinem Rücken zu tragen, die
Last einer Zukunft, die er bereits vor 50
Jahren von Afrika und von Umweltpro-
blemen stärker als von Europa und
Amerika geprägt sah.
Das war damals exotisch. So wie Epp-
ler selbst, der 1968, noch unter Kurt Ge-
org Kiesinger, bis zu Willy Brandts
Rücktritt 1974 als Entwicklungshilfemi-
nister das Engagement der Bundesrepu-
blik in der Dritten Welt neu definierte.
Ein politisches Kreuz trug er wahrhaf-
tig, in Form seiner kurzzeitigen jugend-
lichen NSDAP-Mitgliedschaft. Eppler
hat das nicht kleinzureden versucht. Er
gehörte, wenn auch nicht als Täter, der
Partei an, vor deren Schergen Willy
Brandt 1933 geflohen war. Er zählte wie
Hans-Jochen Vogel und andere zu der
Gruppe der reumütigen Demokraten,
die wussten, was es heißt, sich irrepara-
bel geirrt zu haben. Eppler hat es beher-
zigt. Er wollte zwar wieder Avantgarde
sein – aber sich nie mehr einer Ideologie
verschreiben.
So stellte Eppler sich als Vorsitzen-
der der SPD-Grundwertekommission
von 1973 bis 1992 auf die Seite der Atom-
kraftgegner, als diese noch von maoisti-
schen Gruppen mitgesteuert zu sein
schienen. Er lehnte auch die Nato-
Nachrüstung durch Mittelstreckenrake-
ten ab, die maßgeblich von Schmidt mit
ins Werk gesetzt worden war. Sein Amt
als Präsident des Evangelischen Kir-
chentages 1981 bis 1983 bot ihm dabei ei-
ne Bühne. Schmidt und Eppler wurden
keine Freunde mehr. Aber Eppler achte-
te immer auf eine ausgleichende Spra-
che. Er verdammte nicht, er nahm
schlicht eine andere Position ein.

Damit geriet er oft zwischen die
Stühle. Ende der 90er-Jahre unterstütz-
te er Gerhard Schröder bei dessen Ent-
scheidung, zusammen mit anderen Na-
to-Partnern Serbiens Präsident Slobo-
dan Milosevic auch ohne UN-Mandat
militärisch in die Schranken zu weisen.
Eppler bejahte auch Schröders Arbeits-
marktreformen. Er und Lafontaine
wwwurden keine Freunde mehr. Aber Epp-urden keine Freunde mehr. Aber Epp-
ler stellte eine Weltanschauung eben
nicht mehr über die Analyse gesamt-
staatlicher Notwendigkeiten; er wollte
es nicht, und er konnte es seit seinem
Jugendirrtum auch nicht mehr. Manche
Erfahrung macht immun gegen die Ver-
engung von Leidenschaften auf ein ein-
ziges Thema.
Im Alter war Eppler Autor zahlrei-
cher Bücher. Er blieb als Schriftsteller
freilich, was er auch in der Politik im-
mer gewesen ist – eine wichtige Stim-
me, aber keine Leitfigur. Diese Rolle
kam in der SPD Willy Brandt zu. Eppler,
der am Samstag im Alter von 92 Jahren
gestorben ist, hat sich mit dem Gedan-
ken gequält, dass die SPD keinen neuen
Brandt hervorgebracht hat. Die Vielge-
staltigkeit der Partei, die Eppler 1956
aufnahm und ihn so brauchte wie er sie,
ist eben verschwunden. Die SPD wäre
heute wohl glücklicher, hätte sie jeman-
den, der Irrtum und Neubeginn so ge-
nau kennt, wie Eppler es erlebt und ver-
arbeitet hat. TORSTEN KRAUEL

Gebeugt und


gestärkt vom


Kreuz seiner Zeit


Erhard Eppler (SPD) ist


mit 92 Jahren gestorben


Erhard Eppler (1926 bis 2019)

DPA

/SEBASTIAN GOLLNOW

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