Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

WELT AM SONNTAG NR. 42 20. OKTOBER 2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT^13


Die AfD ist zu großen Teilen für das
rechtsradikale, völkische und antisemi-
tische Klima bestimmter Milieus mit-
verantwortlich. Wenn das AfD-Mitglied
Stephan Brandner als Vorsitzender des
Rechtsausschusses ganz bewusst einen
Tweet verbreitet, der sich abfällig über
die Opfer von Halle äußert, dann zeigt
es, dass es überhaupt keine Schranke
des Anstandes in der AfD gibt. Solange
Alexander Gaulands Begriff des „Vogel-
schisses“ für die zwölf Jahre der Nazi-
Diktatur nicht öffentlich zurückgenom-
men wird, so lange kann die AfD nicht
erklären, sie wolle jüdisches Leben in
Deutschland. Das ist schlicht nicht
glaubhaft. In den Reihen der AfD lassen
sich ohne Weiteres rechtsextremes Ge-
dankengut und die Bereitschaft zur Ge-
walt verorten.

Sollte Herr Brandner zurücktreten?
Die AfD sollte Brandner zum Rücktritt
bewegen. Das hat sie nicht. Der Druck
kam von allen anderen Fraktionen und
hat dazu geführt, dass sich Brandner im
Plenum entschuldigen musste. Brand-
ner steht unter Bewährung.

Ihr Generalsekretär hat gefordert, die
AfD als Gesamtpartei vom Verfas-
sungsschutz überwachen zu lassen.
Ist das auch ein Schnellschuss?
Angesichts der gegenwärtigen Lage
wäre es angebracht, dass der Verfas-
sungsschutz alle seine Möglichkeiten
einsetzt, um zu berichten, wo Verfas-
sungsfeindliches, Völkisches und Anti-
semitisches vor sich geht. Wo es da
Anhaltspunkte bei der AfD gibt, muss
sich der Verfassungsschutz das genau
anschauen.

Folgt man den Umfragen, hat die AfD
gute Chancen, in Thüringen zweit-
stärkste Partei zu werden – ausge-
rechnet die völkisch gesinnte AfD des
Björn Höcke. Wie erklären Sie sich ih-
re Stärke?
Ich kann mir das nicht erklären. Ich bin
nicht nur überrascht, sondern geradezu
auch verzweifelt, dass offensichtlich
nicht wenige Menschen dazu bereit
sind, diese Partei zu wählen, obwohl sie
wissen, was für ein Gedankengut ihre
Spitzenpolitiker vertreten. Ich hoffe,
dass die Ereignisse, die sich in Halle zu-
getragen haben, dazu führen werden,
dass mehr und mehr Menschen über-
denken, welchen Personen sie ihre
Stimme geben.

Themenwechsel: Seit Jahren beob-
achten wir eine Entwestlichung der
Türkei. Welchen Schluss sollte die
deutsche Außenpolitik daraus zie-
hen?
Erdogan handelt derzeit klar völker-
rechtswidrig. Er führt einen Angriffs-
krieg. Sein Verhalten müsste Konse-
quenzen vor dem Internationalen Straf-
gerichtshof haben. Eine Anklage hätte
ihre Wirkung auf der Ebene der interna-
tionalen Diplomatie, selbst wenn die
Türkei nie das Rom-Statut ratifiziert
hat. Natürlich ist die Türkei Teil der Na-
to. Wir wissen aber auch, dass nach dem
Putsch Militärs in hohe Ränge gelangt
sind, die sich andere Bündnisse als das

westliche vorstellen können. Das sind
alles Dinge, die uns sicherlich noch Sor-
gen bereiten werden. Gleichzeitig zeigt
der deutliche Erfolg des CHP-Bürger-
meisters in Istanbul, dass ein maßgebli-
cher Teil der türkischen Gesellschaft
westorientiert ist und auch bleiben will.

Welche Konsequenzen ergeben sich
aus dem Einmarsch der türkischen
Truppen für den Einsatz der Bundes-
wehr-Tornados in Jordanien?
Nachdem die ehemalige Verteidigungs-
ministerin Ursula von der Leyen ihre
Zusagen gegenüber dem Bundestag ge-
brochen hat, nach Ersatz für die deut-
schen Tornados und das Tankflugzeug
zu sorgen, müssen wir im Bundestag die
Möglichkeit einer Mandatsverlänge-
rung sehr kritisch überprüfen. Wir müs-
sen auch wissen, ob von Deutschland
ausgebildete irakische Soldaten an der
Erschießung friedlicher Demonstranten
beteiligt waren.

Wie es heißt, sollen Hunderte, wenn
nicht Tausende von IS-Kämpfern aus
den Gefangenenlagern geflohen sein.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahr,
dass sich der IS als schlagkräftige Ter-
rororganisation zurückmeldet?
Der IS ist noch immer da. Er hat in den
letzten Monaten versucht, sich neu auf-
zustellen. Die Quellen für die Stärke des
„Islamischen Staates“ sind innergesell-
schaftliche im Irak und in Syrien. Des-
wegen ist seine Bekämpfung besonders
eine innergesellschaftliche Herausfor-
derung. Vor allem braucht es besseres
Regierungshandeln, Einbindung aller
gesellschaftlichen Gruppen, Bekämp-
fung der Korruption. Ich warne davor,
militärische Möglichkeiten gegen den IS
überzubewerten.

Das löst aber nicht das Problem, was
mit den aus Deutschland stammen-
den IS-Kämpfern geschehen soll, be-
vor die sich auf den Weg zurück nach
Europa machen. Sollen wir die deut-
schen IS-Kämpfer zurückholen?
Wir sind weiterhin bereit zur Rücknah-
me von deutschen Familienangehörigen
von IS-Kämpfern. Wir sind auch bereit,
deutsche IS-Kämpfer vor Gericht zu
stellen. Nur: Gegenwärtig ist eine Rück-
holung aufgrund verschiedener Bedin-
gungen nicht möglich. Die Bundesregie-
rung stand in diesen Tagen vor der Mög-
lichkeit, weitere Kinder von IS-Angehö-
rigen zurückzuholen. Es ist ein Drama,
dass die gegenwärtige Kriegssituation
diese Möglichkeit versperrt.

Wäre es nicht angebracht, den Kur-
den zu helfen, nach allem, was sie er-
litten und für den Westen getan ha-
ben?
2014 haben wir uns nach einer schwieri-
gen Debatte dazu durchgerungen, Kur-
den im Irak Waffen zu liefern. Ganz be-
wusst haben wir nicht die YPG, also die
Kurden in Syrien, beliefert, obwohl
auch sie die Jesiden geschützt hatten.
Was wir vor allem brauchen, sind politi-
sche Lösungen. Wenn es jemals zu ei-
nem politischen Ausgleich kommen
soll, dann sind Gespräche unerlässlich.
Deutschland wäre beispielsweise jeder-

zeit bereit, die Gespräche zwischen der
Türkei und der PKK zu unterstützen.

Ist die Türkei noch ein verlässlicher
Nato-Partner?
Was heißt heute noch verlässlich ange-
sichts der allgemeinen weltweiten Ent-
wicklung? Die Türkei ist noch immer
ein wichtiger Nato-Partner, auch ein
wichtiger Akteur in der Region. Ob sie
noch immer der Akteur ist, mit dem wir
vor 20 Jahren zu tun hatten, bezweifle
ich. Ich hätte mir jedenfalls vor einigen
Jahren nicht vorstellen können, dass
das Nato-Mitglied Türkei russische Ab-
wehrraketen kauft.

Erdogan hat Europa immer wieder
damit gedroht, die Tore für die
Flüchtlinge zu öffnen. Hat uns die
Türkei in der Hand?
„In der Hand“ ist zu viel gesagt. Aber ich
nehme Erdogan ernst. Vieles, was er
sagt, tut er auch. Allerdings wäre ein sol-
cher Beschluss, Flüchtlinge aus der Tür-
kei zu vertreiben, für ihn folgenschwer.
Die Türkei ist nach wie vor daran inte-
ressiert, dass die EU ihr bei der Bewälti-
gung ihrer Flüchtlingskrise hilft. Der
Konflikt geht unter anderem darum,
dass die Türkei die europäischen Gelder
selbst in die Hand bekommt. Gegenwär-
tig sind sie ja an konkrete Projekte ge-
bunden. Ich warne davor, der Türkei in
dieser Frage entgegenzukommen.

Bei den Regionalkonferenzen schim-
merte in vielen Beiträgen der Kandi-
daten der Wunsch durch, die Koaliti-
on vorzeitig zu beenden. Warum wer-
den deren Leistungen, die ja in weiten
Teilen die Handschrift der SPD trägt,
in Ihrer Partei so wenig gewürdigt?
Mein Eindruck ist ein anderer: Vor al-
lem lag das Interesse in den Regional-
konferenzen bei der Frage: Was wollen
wir in dieser Koalition noch alles bewe-
gen? Es ging oft um den Klimaschutz
und um die Grundrente. Ich bin zuver-
sichtlich, dass meine Partei danach
schaut, was sie für die Menschen tun
kann. Wir haben viel auf den Weg ge-
bracht. Wir arbeiten hart und unermüd-
lich daran, dass die Grundrente reali-
siert wird. Wir haben das Klimapaket
geschnürt. Wir haben noch viel vor.

Haben wir gerade ein Plädoyer für die
Fortsetzung der große Koalition ge-
hört?
Es war ein Plädoyer dafür, mit Realis-
mus zu prüfen, ob die SPD noch genü-
gend Ideen hat, den Sozialstaat für die
nächsten Jahre zu schützen und auszu-
bauen. Die SPD ist die Partei für Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir
sind ihre Stimme – auch in dieser Koali-
tion.

Wäre es nicht unverantwortlich, so-
gar töricht, die Regierungsverantwor-
tung preiszugeben? Martin Schulz
und Christine Lambrecht haben sich
dahingehend geäußert.
Ich bin schon so lange in der SPD, dass
ich weiß, wie klug meine Partei ist,
wenn es um die Frage geht: Wollen wir
mitgestalten, oder wollen wir im Zwei-
felsfall nur beobachten?

Dass Rolf Mützenich, 1959 in
Kölngeboren, noch in dieser
Legislaturperiode Vorsitzender
der SPD-Bundestagsfraktion
werden würde, hätte er nach der
Bundestagswahl wohl selbst
niemals für möglich gehalten.
Seit 2002 sitzt der promovierte
Politikwissenschaftlerim Par-
lament. In der Fraktion gehörte
er zum linken Flügel.Mützenich
war bis zur Übernahme der Frak-
tionsspitze am 24. September
einer der außenpolitischen Spre-
cherseiner Partei.


Rolf Mützenich


SPD-Fraktionschef

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