16 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER
uf dem großen Platz vor
dem Kultur- und Kongress-
zentrum der Stadt Gera
warten am Mittwochnach-
mittag etwa 300 Menschen
auf ihren Propheten. Überall in Thürin-
gen füllt er Plätze, Zelte, Wirtshäuser.
Sein Name ist Björn Höcke. Er will
nicht nur Gera und den Freistaat verän-
dern. Er will ein neues Deutschland.
VON CLAUS CHRISTIAN MALZAHN
Der Himmel über Gera ist bewölkt,
manchmal brechen sich die Sonnen-
strahlen in der goldenen Fassade des
1977 errichteten Kongresszentrums. Da-
mals sollte das „sozialistische Stadtzen-
trum“ entstehen; breite Magistralen,
mächtige Bauten, Gera war Bezirks-
hauptstadt. Der Sozialismus ist seit fast
30 Jahren perdu, Gera schrumpfte von
130.000 auf knapp 95.000 Einwohner.
Der Platz vor dem Kongresszentrum
wirkt wie eine Brache. „In Erfurt hat
man uns vergessen!“, schimpft ein
Mann, der zwischen Bratwurstbude,
Hüpfburg und Infostand hin und her-
läuft. „Familienfest“ nennt die AfD ihre
Wahlkampfveranstaltung; versammelt
haben sich aber eher ältere Männer, we-
nige Frauen und Kinder. Nächsten
Sonntag wählen die Thüringer einen
neuen Landtag.
Während Erfurt, Jena und Weimar
boomen, macht Gera mit Leerstand, ho-
her Arbeitslosigkeit und geringer Wirt-
schaftskraft einen gebeutelten Ein-
druck. Die Stadt wirkt, als hätte sie ei-
nen viel zu großen Mantel an. Da kennt
sich Höcke aus. „Der Mantel der Ge-
schichte weht an uns vorbei“ ist einer
der Standardsätze des 47-jährigen Spit-
zenkandidaten. „Ergreifen wir ihn. Hal-
ten wir ihn fest, lassen wir ihn nicht
mehr los!“ Die Menge ist begeistert, der
Name des Redners Programm: „Höcke,
Höcke, Höcke!“, skandieren die Zuhö-
rer.
Den verlässlichsten Beifall bekommt
Höcke, wenn er gegen Flüchtlinge wet-
tert. Er verspricht statt Willkommens-
kultur eine „Verabschiebungsoffensi-
ve“. Über eine Stunde redet er, von mo-
dernen Lautsprechern verstärkt. „Das
Alte und Morsche zerfällt vor unseren
Augen“, ruft er und verspricht, „sumpfi-
ge Biotope“ trockenzulegen. Er meint
„das Kartell der Altparteien“, deren Ver-
treter entweder durch „Kulturbolsche-
wismus“ oder „Neoliberalismus“ ver-
dorben worden sind.
Kein Zweifel, der Mann auf der Bühne
will eine andere Republik, und vorher
eine Abrechnung. Die „Politiker da
oben“ sind „Ganoven, die gehören auf
die Anklagebank!“. Höcke präsentiert
sich als Künder einer neuen Zeit. „Wen-
de 2.0“ lautet das Motto seiner Kampa-
gne, er wirbt für „eine friedliche Revo-
lution mit dem Stimmzettel“, die Bun-
desregierung tituliert er als „Regime“.
Bewacht von mehreren Leibwächtern
tingelt er seit Wochen zwischen Eise-
nach und Altenburg hin und her.
Für seine Gegner ist Höcke eine Art
Wiedergänger von Goebbels, für den
Verfassungsschutz ist er als Frontmann
des rechten „Flügels“ ein „Verdachts-
fall“, der inzwischen beobachtet wird.
Verfassungsschutzpräsident Thomas
Haldenwang hat gerade von einer Radi-
kalisierung dieser AfD-Gruppierung ge-
sprochen. Höckes Anhänger hingegen
huldigen ihmwie einem Popstar. Sein
Antlitz prangt auf Kaffeetassen (9,
Euro) und Einkaufsbeuteln (2,50 Euro),
seine schärfsten Sprüche werden in
rechten Sonderheften verlegt. Nur zehn
Prozent der Thüringer wünschen ihn
als Ministerpräsidenten; seine AfD aber
erzielt in den Umfragen zurzeit mehr
als das Doppelte. Seinen Landesverband
hat er fest im Griff, drei Abgeordnete
haben in Thüringen in den vergangenen
fünf Jahren die Fraktion verlassen.
Seine Partei preist er als „die letzte
evolutionäre, friedliche Chance für un-
ser Vaterland“. Sein Konzept: „Funda-
mentalopposition“. Sein Ziel: „Vollstän-
diger Sieg“. Er will sich Deutschland
„Stück für Stück zurückholen“. Und
„wenn einmal die Wendezeit gekom-
men ist, dann machen wir Deutschen
keine halben Sachen, dann werden die
Schutthalden der Moderne beseitigt“.
Kein deutscher Politiker bedient sich
so offen beim schwülstigen NS-Vokabu-
lar wie der ehemalige Oberstudienrat
aus Hessen. Er fordert eine „erinne-
rungspolitische Wende um 180 Grad“,
er beklagt das „Mahnmal der Schande“,
dass sich das deutsche Volk in das Herz
seiner Hauptstadt gepflanzt habe. Die
Liste der Tabubrüche ließe sich fortset-
zen. Kann der Mann auch anders?
DIE ANDERE SEITEHöcke steht am
Rednerpult des Landtags in Erfurt. Es
ist die letzte Plenarsitzung vor der
Wahl. Gerade ist die AfD mit einem An-
trag gescheitert, der darauf zielte, den
Thüringer Chef des Landesamtes für
Verfassungsschutz zu entlassen. Nun
steht die Gedenkstätte Buchenwald auf
der Tagesordnung. Bei Gedenkveran-
staltungen hat Höcke dort Hausverbot.
In der Debatte geht es um Mobbingvor-
würfe gegen den Leiter der Gedenkstät-
te, die vor zwei Wochen vom „Spiegel“
mit vorwiegend anonymen Behauptun-
gen kolportiert worden sind. Der Hin-
tergrund liegt offensichtlich in einer
noch laufenden, arbeitsrechtlichen Aus-
einandersetzung mit einem gefeuerten
Mitarbeiter. Björn Höcke könnte die
Aussprache im Parlament jetzt für ei-
nen Rachefeldzug nutzen. Er tut es aber
nicht. Seine Rede ist knapp, sachlich,
pointiert. Solche Konflikte kämen doch
„in jedem Unternehmen“ vor, sagt er.
Einen Skandal könne er nicht erkennen
- und schließt sich damit der Bewertung
der rot-rot-grünen Regierung an.
Wer ist nun das Original? „Ich bin das
Gegenteil des Zerrbilds, das von mir ge-
malt wird!“, beteuert er. Jedenfalls gibt
es diesen Mann in verschiedenen Aus-
führungen. Da wäre der Familienvater,
der seine vier Kinder zum Sport- oder
und Klavierunterricht fährt und von de-
nen er stolz in jeder Rede erzählt. Es
gab früher einen Gymnasiallehrer na-
mens Björn Höcke, über den kaum ein
Schüler ein böses Wort verloren hat.
Es gibt Höcke, den sportiven Wald-
läufer, den Fraktionschef, der sich „wie
ein Vertrauenslehrer“ nach dem Privat-
leben seiner Angestellten erkundigt.
Und dann hört man aus seinem Umfeld
das genaue Gegenteil: Empathie besitze
der Mann nicht. Er sei hoch manipula-
tiv, frage nur nach dem Befinden, wenn
es ihm nütze. Parteigenossen teile er in
„Fertige, Halbfertige und Feinde“ ein.
Und dann gibt es möglicherweise noch
Björn Höcke als Landolf Ladig; ein
Pseudonym, unter dem er Pamphlete
für NPD-Blätter verfasst haben soll.
Mit der Bundespartei liegt Höcke oft
im Clinch. Mal droht er mit feindlicher
Übernahme durch den „Flügel“, dann
gibt er sich lammfromm. Sein „Flügel“
hat die ostdeutschen Landesverbände
der AfD ziemlich im Griff, in den mit-
gliederstarken West-Verbänden sieht
das anders aus. Von einem Parteiaus-
schluss ist keine Rede mehr. Doch als
Nachfolger von Alexander Gauland hät-
te er keine Chance. Kommenden Sonn-
tag wird die Partei ihn jedenfalls feiern.
Höcke wartet auf seine Gelegenheiten.
Er weiß, wann welcher Text gefragt ist.
MITARBEIT: MATTHIAS KAMANN
BBBjörn Höcke auf einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Gera: jörn Höcke auf einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Gera: „Das Alte und Morsche zerfällt vor unseren Augen“
SEBASTIAN WILLNOW
Der Rollenspieler
Thüringens AfD-Chef
Björn Höcke verstört
mit seiner völkischen
Rhetorik sogar
Parteifreunde. Im
Wahlkampf predigt er
eine andere Republik
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