Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

18 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER


ränengas wabert durch die
Straßen Barcelonas, auf ih-
rer Flucht reißen einige Ju-
gendliche drei Müllcontai-
ner um und versuchen, die
so errichte Barrikade anzuzünden. Die
spanische Nationalpolizei rückt an. Es
kann nur sie sein, die katalanische Re-
gionalpolizei setzt kein Tränengas ein.
Nicht der einzige Unterschied zwischen
Spanien und Katalonien, einem Land im
Selbstbetrug und einer Region in Flam-
men, heftiger denn je in dieser Nacht
zum Samstag.

VON FLORIAN HAUPT

Als die vermummten Beamten aus ih-
ren Mannschaftswägen steigen, skan-
dieren Schaulustige von einem Balkon:
„Fora les forces d’occupació“: Raus mit
den Besatzungskräften. Auf der anderen
Straßenseite haben Nachbarn Jugendli-
chen die Tür geöffnet, damit sie sich im
Haus verstecken. Die Polizisten fahren
erfolglos weiter. Während so viele
Kraftausdrücke von Terrasse zu Terras-
se fliegen, dass man die ganzen Huren-
söhne kaum noch zählen kann, bekom-
men die Jugendlichen von denselben
Nachbarn eine Standpauke: Sie sollen
jetzt endlich abhauen. Dann nur noch
Polizeihubschrauber zu hören, die
Gummigeschosse aus einer Ecke und
umfallende Container in einer anderen.

HEIKLES URTEIL Katalonien zerstört
sich selbst, so kann das dieser Tage wir-
ken. Katalonien erhebt sich, so sehen es
radikale Separatisten. Und die übrigen
hegen gemischte Gefühle. Hinter allen
liegt eine Woche, die alles übertroffen
hat, was vom seit langem als heikel ein-
gestuften Moment des Gerichtsurteils
gegen Initiatoren des illegalen Unab-
hängigkeitsreferendums vom Herbst
2017 befürchtet wurde.
Schlüsselfiguren wie der damalige Vi-
ze-Regierungschef Oriol Junqueras, eher
unprominente Ressortleiter wie Sozial-
ministerin Dolors Bassa – auch den Rich-
tern offenbar so wenig geläufig, dass sie
ihr im Urteil fälschlicherweise die Ho-
heit über Bildung zuschrieben – und Ak-
tivisten ohne exekutives Amt am Montag
wurden wegen Aufruhrs relativ undiffe-

renziert zu langen Haftstrafen zwischen
neun und 13 Jahren verurteilt. Dass die
Richter das noch härtere Delikt der Re-
bellion verwarfen, nutzte der Akzeptanz
ihres Spruchs ebenso wenig wie großzü-
gige Hafterleichterungsaussichten.
Nicht nur Unabhängigkeitsfanatikern
werfen dem spanischen Staat vor, einem
politischen Problem mit Polizei und Jus-
tiz zu begegnen, aber ohne eine Politik.
Manche fühlten sich wegen der ent-
fesselten Frustrationen auch an die
französischen Gelbwesten erinnert,
und Nacht für Nacht geht es nun zu wie
bei einem G8-Gipfel. Straßenkampf
zwischen Radikalen und der Polizei mit
Feuer, Rauch, Gestank und einem un-
endlichen Arsenal von Wurfgeschossen.
„So etwas hat es hier noch nicht gege-
ben“, sagte Kataloniens Innenminister
Miquel Buch am Freitag. Auch in den
anderen Provinzhauptstädten der Regi-
on, Girona, Lleida und Tarragona, be-
ginnen mit Eintritt der Dunkelheit
Nacht für Nacht die Unruhen.
In Barcelona spielen sie sich mitten
in der Innenstadt ab, in einem Dreieck
zwischen spanischem Polizeihauptquar-
tier, spanischer Regierungsvertretung
und katalanischem Innenministerium,
das die zentralen Teile des ikonischen
Eixample-Viertels umfasst.
Die schachbrettartigen Straßen mit
ihren modernistischen Prachtbauten
bieten dieser Tage ein bisweilen absur-
des Nebenher von Tourismusbetrieb
und enthemmtem Guerillakrieg. Als
schon am frühen Freitagabend an der
Plaça Urquinaona die Barrikaden
brannten, bestaunten Gäste eines Lu-
xushotels das Spektakel beim Warten
auf ihren Abholservice. Freilich werden
immer mehr Abendveranstaltungen aus
Sicherheitsgründen abgesagt. Zu unvor-
hersehbar sind die Orte der Randale, zu
unklar ihre Strukturen. Am Freitag etwa
ereignete sie sich nicht am Prachtboule-
vard Passeig de Gràcia, wo zuvor
500.000 Menschen friedlich das Ende
eines „Marsches für die Freiheit“ gefei-
ert hatten; und so für einen Nachmittag
den Herbst 2017 wieder aufleben ließen.
Damals war es trotz Massenkundge-
bungen, Generalstreik, wochenlanger
Anspannung, einem Eingreifen der Ma-
drider Zentralregierung über den Not-

standsartikel 155 und bitteren Wortge-
fechten zwischen den gleich großen La-
gern von Separatisten und Unionisten
nie zu Ausschreitungen gekommen.

VERPASSTE CHANCEN Nun bekom-
men hilflos wirkende Politiker auch die
Quittung dafür, in einem seit Jahren
festgefahrenen Konflikt die Chance ver-
passt zu haben, zu schlichten nachdem
sich die Lage vorübergehend beruhigt
hatte. Die spanische Regierung des So-
zialisten Pedro Sánchez beschränkte
sich auf Imagekampagnen im In- und
Ausland, als ob es gar kein Problem gäbe
und sich Millionen Unabhängigkeitsbe-
fürworter einfach ignorieren ließen.
Kataloniens charismafreiem Regio-
nalpräsident Quim Torra wiederum hört
sowieso kaum mehr jemand zu, oder al-
lenfalls insoweit, als seine Aufrufe zu zi-
vilem Widerstand als Freibrief für das
neue Anything goes gewertet wurden,
bis er die Gewalt am dritten Tag erst-
mals klar verurteilte. Der Substanzver-
lust, den die katalanische Politik durch
Inhaftierung und Exil ihrer Führungs-
kräfte erlitten hat, ist überdeutlich, hat
den Separatismus aber nicht wie von
Madrid erhofft erledigt, sondern vor al-
lem unberechenbarer gemacht.
Während Torra täglich mit Rück-
trittsforderungen konfrontiert wird,
könnte Sánchez das Katalonien-Chaos
bei Neuwahlen im November sein Amt
kosten. Selbstkritik oder Kompromiss-
fähigkeit gehörten zuletzt nicht zu den
Stärken der spanischen Politikkultur.
Während die Justiz gegen die anonyme
Protestplattform „Tsunami De-
mocràtic“ gleich wegen „Terrorismus“
ermittelt, wird die Lage auf den Straßen
immer unübersichtlicher. Aus lokalen
Ermittlerkreisen heißt es, die zuneh-
mend würden auch angereiste Autono-
me Krawalle machen. Derweil ziehen
Rechtsradikale mit Hitlergruß durch die
Stadt und machen Jagd auf Separatis-
ten. Bei der Polizei, die mit Doppel-
schichten und Urlaubssperre operieren
muss, liegen die Nerven blank.
Es war zwei Uhr früh, als am Samstag
etwas Ruhe einkehrte in Barcelona. Nie-
mand ging davon aus, dass sie länger an-
dauern könnte als biszur nächsten
Nacht.

Massenproteste am Freitag
TTTausende demonstrieren für ein ausende demonstrieren für ein
unabhängiges Katalonien, sie tragen
die Estelada-Flaggen

AFP

/ LLUIS GENE

In Barcelona heizen


sich die Proteste der


Separatisten auf.


Eine politische


Lösung ist nicht


in Sicht


Die


Stadt


brennt


AFP

/ PAU BARRENA

AP

/ EMILIO MORENATTI

AusschreitungenIn der Nacht zum
Samstag brannten Barrikaden, die
Polizei ging brutal gegen die Protestie-
renden vor

T

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