Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

WELT AM SONNTAG NR. 42 20. OKTOBER 2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT 23


GETTY IMAGES

/PETRI ARTTURI ASIKAINEN

r steht neben dem Bahngleis, irgendwo
im indischen Hyderabad. In seiner
rechten Hand, am ausgestreckten Arm,
hält er den Moment fest, ein Selfie als
Video. Hinter ihm rast der Zug heran,
samt Lichthupe. Der junge Mann strahlt im Dopa-
minrausch, filmt weiter, jemand warnt ihn per Zu-
ruf. Womöglich wirkt das, was er seinem Handy-
display sieht, wie die Szene aus einem Actionfilm:
surreal, unecht. Er scheint nicht zu verstehen, dass
er sich in akuter Lebensgefahr befindet. Dann
fliegt sein Handy durch die Luft, und die Aufnah-
me stoppt. Das war im Januar 2018, immer noch ist
das Video im Internet zu finden: Hashtag „#selfie-
death“.

VON CLARA OTT

Der Selfie-Tod ist ein statistisch längst nach-
weisbares Phänomen geworden: Allein zwischen
2011 und 2017 kamen laut einer Studie weltweit 259
Menschen beim Versuch ums Leben, ein Selbstpor-
trät zu schießen. Insgesamt 137 Vorfälle waren das,
viele verunglückten gemeinsam mit Partnern oder
Freunden. Wie das polnische Ehepaar, das 2014 Ur-
laub in Portugal machte, hinter die Absperrung auf
einer Klippe trat, für ein Familien-Selfie. Ihre Kin-
der überlebten. Auf Wikipedia gibt es eine Liste,
die seit 2011 alle Unglücke verzeichnet. Dort sind
Orte und Situationen genannt, die jeder Mensch
mit Vernunft meiden würde, Felsen über dem

E


Meer oder in Nationalparks, die Kanten von Hoch-
hausdächern. Oder Szenen mit Schusswaffen im
Arm. Am Steuer, während Pharell Williams im Au-
toradio sein Lied „Happy“ singt.
Seit 2012 untersucht der britische Anthropologe
David Miller das Social Media-Verhalten weltweit.
In seiner Studie „Why We Post“ hat er mit acht
Kollegen die Selfie-Vorlieben verschiedener Län-
der untersucht. Die Engländer lieben das „Grou-
pie“, den Gruppen-Selfie. Dort auch im Trend ist
das sogenannte Uglie, bei dem man sich absicht-
lich hässlich, unvorteilhaft zeigt, um einen Kon-
trast im retuschierten Einheitsbrei zu schaffen.
(Die Botschaft dahinter ist natürlich „Sonst bin ich
hübscher!“) In Chile liebt man das „Footie“: in ent-
spannter Pose auf der Couch liegend.
Auch Geschlechterunterschiede zeigte die Stu-
die: Während sich brasilianische Männer gern mit
freiem Oberkörper im Fitnessstudio präsentieren,
stylen sich Chinesen die Haare nach oben, um
durch den Trick größer zu wirken.

MEISTENS JUNGE MÄNNER Die Studie zu den
Selfie-Todesopfern stammt aus Indien, dem Land
mit den meisten Opfern. Wissenschaftler des
„Journal of Family Medicine and Primary Care“
analysierten die weltweiten Fälle, nach denen auch
Russland, die USA und Pakistan traurige Spitzen-
reiter sind. Das durchschnittliche Alter der Verun-
glückten betrug 23 Jahre. Drei Viertel der Opfer
waren männlich.

Um diese bedrückende Entwicklung zu verste-
hen, muss man kurz zurückblicken, auf die Anfän-
ge digitaler Selbstfotografie. Zu Beginn der Nuller-
jahre kamen die ersten erschwinglichen Digitalka-
meras auf den Markt, damals musste man noch
fremde Menschen bitten, einen vor der Urlaubsku-
lisse zu knipsen. Dann wuchs das Internet, es wur-
den immer mehr spektakuläre Fotomotive verfüg-
bar, aber auch austauschbarer. Also wollte jeder be-
weisen, dass seine Aufnahme echt war, um sie auf
Facebook zu posten, denn Selfies als Echtzeitur-
laubsnachweis wurden Ende der Nullerjahre erst
cool und dann Standard. Pics or it didn’t happen.
Und dann kamen das „Jahr der Selfies“, 2014.
WWWeltweite Berühmtheit erhielt das Wort „Selfie“eltweite Berühmtheit erhielt das Wort „Selfie“
durch die Oscarverleihung Anfang 2014: Moderato-
rin Ellen de Generes posierte mit Hollywood-Grö-
ßen für ein Gruppen-Selfie. Schauspieler Bradley
Cooper hielt das Smartphone, mit Selfie-Stab hät-
ten noch mehr Stars daraufgepasst. Das „Time Ma-
gazine“ hielt den Selfie-Stick, der belächelt und ge-
hasst wurde, für eine der 25 besten Erfindungen des
Jahres. Dem Selfie-Fan bietet die Teleskopstange
samt Weitwinkeleffekt noch like-würdigere Foto-
motive. Makati City in Manila wurde zur „Selfie
Capital of the World“ gekürt, nachdem dort
4 00.000 Fotos unter dem Hashtag „#selfie“ gepos-
tet wurden. Heute findet man unter „#selfie“ allein
auf Instagram über 407 Millionen Treffer.

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