Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

24 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019


FORTSETZUNG VON SEITE 23

Anstehen in der Social-Media-Schlange Auf dem Preikestolen-Felsen in Norwegen, Hunderte Meter überm Fjord


Und Selfie-Sticks sind inzwischen an vielen Orten
verboten: in allen Walt Disney Parks, auf vielen Kon-
zerten oder in Fußballstadion. Die Stangen werden
teils als Waffe betrachtet, Museen wie der Pariser
Louvre fürchten, dass Kunstwerke beschädigt wer-
den. Ob mit oder ohne Selfie-Stick: Die Aufnahmen
sind stets die ultimative Verschmelzung des Selfie-
Fans mit dem Hintergrund, sei es nun ein Picasso, ei-
ne Steilküste oder ein Stadion. Doch der Fotografie-
rende erlebt den Moment nicht mehr bewusst, da er
bereits über die perfekte Bildunterschrift, die Filter
und die hereinprasselnde Bestätigung in Form der
Daumen und Herzchen denkt. Bleiben die Likes aus,
ist nicht nur das Selfie schlecht, sondern die ganze Er-
innerung getrübt. Bei Selfies wird das Leben durch die
Frontkamera festgehalten und im Rückblick durch die
Resonanz abgesegnet. Im Idealfall.

KEINE CHANCE GEGEN DEN TIGER Dochzur Be-
friedigung dieser Gier riskiert man eben auch mal
sein Leben, was zu „No-Selfie-Zones“ führte. Ja, es
gab Menschen, die im Wildtierpark vor Raubtieren
posierten. Der digitale Tiger auf dem Smartphonedis-
play sieht halt cool aus – und man blickt ihm nicht di-
rekt in die Augen, was Adrenalin auslöst und, viel
wichtiger, unseren natürlichen Fluchtreflex. 2018
starb ein Inder, als er sich vor einen verletzten Bären
für ein Selfie stellte – der Bär war doch wehrhafter als
erwartet. 2015 starb ein US-Amerikaner nach dem
Biss einer Klapperschlange, mit der er posiert hatte.
Im selben Jahr kam ein Spanier während eines Stier-
rennens um, als er sich für ein Foto vor einen heran-
rasenden Bullen stellte. 2016 starb ein Chinese, als er
in einem Zoo Selfies mit einem Walross machte. Die
rund 1000 Kilogramm schwere Robbe zog ihn ins
Wasser, er ertrank mit einem Zooangestellten. 2016
kreuzten 21 Elefanten den Weg eines Lastwagenfah-
rers auf einer Straße in Nepal. Er stieg aus, um mit
der Herde zu posieren, und blendete die lebensbe-
drohliche Situation aus. Der lockende Socia-Media-
Ruhm besiegte den Menschenverstand.
Besonders Männer gelten als „Sensation Seeker“,
in den sozialen Medien nennen sie sich „Daredevils“.
Ihr Ziel: Die schwindelerregendsten Gebäude der
Welt zu erklimmen, samt Selfie-Stick. Risikoreiche Si-
tuationen und Abenteuerlust liegen quasi in ihrer
DNA, erklärt die Esslinger Psychologin Friederike
Gerstenberg. Das Phänomen der tragisch-tödlichen
Selfie-Unfälle von vor allem Anfang Zwanzigjährigen,
findet die Psychologin daher nachvollziehbar: Es gibt
einen Testosteron-Peak um das 20. Lebensjahr he-
rum. „Und Testosteron könnte man auch als das risi-
kofreudige Hormon beschreiben“, erklärt Gersten-
berg. Zwar haben auch Frauen in der Lebensphase ei-
nen solchen Anstieg, aber bei Weitem nicht so ausge-
prägt. Und da Testosteron weltweit in jungen Män-
nern produziert wird, von den USA über Indien, ver-
wundert es nicht, dass Selfie-Unfälle international be-

kannt sind, erklärt sich Gerstenberg die Statistiken,
was sich auch bei Verkehrsunfällen in der Altersklasse
zeige. Social Media verstärke obendrein die klassi-
schen Rollenbilder, die früher in Magazinen oder im
Fernsehen ausgelebt werden. Die Frauen haben
hübsch zu sein, die Männer stark. Tatsächlich machen
Frauen mehr Selfies, aber eben eher vor dem Spiegel.
Die Männer balancieren auf Hochhausdächern.
„Je eigenartiger, je ungewöhnlicher, je gefährlicher,
je dramatischer, je brutaler, je spannender das ist, desto
mehr Kitzel entsteht“, erklärt der Jugendforscher
Klaus Hurrelmann den Rausch. Es stecke ein gewisser
AAAufschaukelfaktor darin, ein Suchtfaktor, da man dasufschaukelfaktor darin, ein Suchtfaktor, da man das
noch nie Dagewesene suche. „Was ja heute eigentlich
gar nicht mehr möglich ist“, weiß Hurrelmann. Manche
halten es für einen Weg, ihr Leben aufs Spiel zu setzen,
um sich vom Mainstream abzuheben. Noch einen
Schritt zurückzugehen, höher, weiter. Unvernünftiger.
AAAber, fragt man sich, was haben die Anfang 20-ber, fragt man sich, was haben die Anfang 20-
Jährigen der Generation davor eigentlich gemacht,
um ihr Ego zu polieren? „Früher waren das Status-
symbole, die viel damit zu tun hatten, was von au-
ßen statistisch sichtbar war: das Haus, das Auto“, er-
klärt Klaus Hurrelmann. Gerade das Auto habe frü-
her eine ganz andere Bedeutung, weil es Wohlstand
symbolisierte, Geschmack und Lifestyle und zeigte:
„Ich bin wer!“
Dieses „impression management“ sei für jüngere Ge-
nerationen immer noch wichtig, doch wurde das Auto
durch eine andere Technik ersetzt: die Software. Mar-
ke, Spoiler, Felgenbreite, das sind heute Likes und
Follower, die Filter füttern den Selbstoptimierungs-
wahn. Und wie bei jedem Statussymbol, muss man es
pflegen und fürchtet um den Wertverlust, erklärt
Hurrelmann den Druck, der auf den Selfie-Süchtigen
liegt. Man hat Angst, nicht mithalten zu können, un-
kreativ zu wirken, kein like-fähiges Motiv aufzuspü-
ren. „Wer sein Selbstwertgefühl aus Likes bezieht, ge-
rät in eine psychologische Krise“, warnt Hurrelmann.
Ein fataler Kreislauf, der zu lebensmüden Aktionen
führt. Alles für ein Foto. Das letzte.
Dazu führt für Friederike Gerstenberg auch eine
narzisstische Tendenz in der Persönlichkeit eine Rol-
le. Wer Selfies liebt, braucht das für das unsichere Ego.
In psychologischen Studien wie der von Forschern der
Universität Ohio wurden Selfie-Vorlieben untersucht
und festgestellt, dass die Fotos für viele als Bestäti-
gung des Selbstwerts gebraucht werden. Ebenso, ver-
mutet Gerstenberg, scheinen diese Personen über ein
vermindertes Angstgefühl zu verfügen und Situatio-
nen so schlicht falsch einzuschätzen. Es mangelt an ei-
ner Risikokompetenz, den gewünschten Effekt und die
zu möglichen Nebenwirkungen realistisch abzuschät-
zen. Was, wie die Statistiken zeigen bei mindestens
über 250 Menschen nicht funktioniert hat.
Ach ja, der Inder in Hyderabad überlebte übrigens,
leicht verletzt. Er postete das Video im Netz, musste
für den verbotenen Aufenthalt im Gleisbett eine Stra-
fe zahlen. Heute hofft er, dass keiner so dumm ist, ihn
nachzuahmen.

PICTURE ALLIANCE / BLICKWINKEL

/ DPA / MCPHOTO / U. GERNHOEFER

chon der Feldherr hatte einst seinen His-
torienmaler dabei, einen Profi, der nach
dem Sieg in der Schlacht diesen einen
Moment festhalten musste – die Nachwelt sollte
es doch wissen: Ich war es. Nur ich. Und dann,
ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, folgte gleich
der nächste Gipfel der Selbstinszenierung: Mas-
senhaft stürmten nun Menschen auf die Berge,
verewigten sich oben am Kreuz in kleinen be-
reitliegenden Büchern. Wieder hieß es: Ich war
hier. Ich muss es dokumentieren.
Spott riefen die „Gipfelbücher“ damals her-
vor, natürlich, Missgunst und Neid gibt es ja im-
mer. So maulte der Bergsteiger und Alpenfor-
scher Anton Ruthner (1817–1897), dass dies nur
eine Einladung für das „geistloseste Gekritzel“
sei, wieder so eine Mode von Menschen, die un-
bedingt immer alles herausposaunen müssen.
Aber dennoch: Aufhalten ließ sich jener allzu
menschliche Drang nie, das zeigten Ölschinken,

Aber dennoch: Aufhalten ließ sich jener allzu
menschliche Drang nie, das zeigten Ölschinken,

Aber dennoch: Aufhalten ließ sich jener allzu

Gipfelbuch oder das bald danach aufkommende
Gipfelfoto in gleichem Maße. Die Botschaft war
stets diese: Einmal unsterblich sein.

ÜBERFÜLLUNG AM MONTBLANC Vielen
Bergstürmern von heute kann auf dieser Jagd
bisweilen ganz schön speiübel werden. Wenn es
denn so harmlos bleibt, also nur bei einem
Kreislaufkollaps am Berg. Freimütig gaben dies
jüngst drei Russen in einem ZDF-Bericht am
Montblanc, Europas höchstem Berg, zu: Wir wa-
ren wohl nicht fit, sagten die Männer aus Mos-
kau, die nur des Fotos wegen kamen und schei-
terten. Lange Menschenketten ziehen mittler-
weile von der Bergbahnstation hinauf auf den
eben doch sehr anspruchsvollen Klettersteig,
der auf 4810 Meter führt. Viele Instagramer bre-
chen ab, so werden die Laien, die sich überneh-
men, in den umliegenden Dörfern verächtlich
genannt. Der Spott ist mindestens so groß wie
einst der von Bergfex Ruthner.
Und der Ärger des Bürgermeisters der franzö-
sischen Montblanc-Gemeinde Saint Gervais, Je-
an-Marc Peillex, ist es ebenso. Früher habe es et-
wa alle fünf Jahre einen schweren Zwischenfall
mit Bergsteigern gegeben, sagte er jüngst. „Heu-
te gibt es zehn, 20 davon – im Jahr.“ Von solchen
Gefahren mit den gänzlich Unerfahrenen be-
richten Ortsvorsteher und Rettungskräfte in al-
ler Welt, an spektakulären Orten von Natur-
oder auch von Kultur-Wundern. Vielfach müsse
man, heißt es immer wieder, die Selfie-Maniacs
vor sich selber schützen. Der einfachste Weg:
Indem man bestimmte Selfie-Hotspots einfach
absperrt. In Hanoi wird beispielsweise gerade
die weltberühmte Train Street geschlossen für
Touristen. Durch die enge Wohn- und Laden-
straße fahren mehrmals täglich Züge, nur ein,
zwei Meter schrammen sie an den Hauseingän-
gen und Suppenküchen vorbei. Unvorsichtige
Fotosüchtige schwebten bei ihren Knips-Manö-
vern eigentlich permanent in Lebensgefahr.
Wenn die Situationen nicht gefährlich sind,
bieten sie doch eines immer: bizarre Fotos, und
zwar auch für uns, die wir nur aus der Ferne zu-
schauen. Die Bilder hinter den Bildern sind
mittlerweile nämlich großartig: Googeln Sie
doch mal eine x-beliebige große Sehenswürdig-
keit der Welt und verbinden die Google-Bilder-
Suche mit dem Begriff „Selfie“: Auf einmal se-
hen Sie schön lange Schlangen von Menschen,
die vor dem Picture-Place-to-be anstehen, bis
sie dran sind. Meistens sehen sie sogar ganz brav
dabei aus. Jörg Niendorf

Einmal richtig


epischsein!


Pose und der Moment zählen:


So galt es früher für Ölschinken


und heute für Instagram


S

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