Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

34 WIRTSCHAFT & FINANZEN WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019


ine gelb bepinselte Schwelle markiert den
Eingang des Versuchsgebiets. „Ottensen
macht Platz“, steht darauf. An den Straßen-
rändern stehen fabrikneue Fußgängerzo-
nentafeln und dahinter mit blauen Mülltü-
ten abgehängte Schilder. Die regelten bis vor Kurzem
den Verkehr. Doch den gibt es hier praktisch nicht
mehr. Anfang September begann in dem beliebten
Hamburger Wohn- und Einkaufsviertel ein Experi-
ment. Mehrere zentrale Straßenzüge sind ein halbes
Jahr lang für den Verkehr gesperrt und umgewandelt in
ein „Flanierquartier auf Zeit“. Die Befreiung des öffent-
lichen Raums vom Auto wurde mit einem Straßenfest
gefeiert. Danach kehrte der Alltag ein. Und der ist grau.

VON STEFFEN FRÜNDT

„Ich hatte mir ehrlich gesagt mehr versprochen“,
sagt Heiko Schröder. Der Einzelhändler blickt durch
das Schaufenster hinaus auf die verkehrsbefreite Ot-
tenser Hauptstraße. In seinem Einrichtungsgeschäft
„Der Schaukelstuhl“ ist gerade nicht viel los. Und das
ist das Problem. Schröder war einer der wenigen Kauf-
leute im Viertel, der immer für den Versuch gewesen
war. „Ich hatte gehofft, dass es auch gut fürs Geschäft
wäre, wenn die Leute entspannt über die Straße bum-
meln und dann vielleicht auch mal bei uns reinschau-
en“, sagt er.

ERNÜCHTERNDE ERKENNTNISViele seiner Berufs-
kollegen waren skeptisch. Inzwischen hat auch Schrö-
ders Enthusiasmus gelitten. „Die Verkäufe sind unge-
fähr gleich geblieben. Und die meisten Leute gehen
immer noch auf dem Bürgersteig“, resümiert er. Tat-
sächlich wirken die verkehrsbefreiten Straßen auch
zur Feierabendstunde und bei Sonnenschein wie leer
gefegt. Eine ernüchternde Erkenntnis angesichts der
Begeisterung, mit der verkehrsgeplagte Städter die
Ära nach dem Auto herbeisehnen.
Ob in Hamburg, Berlin oder München, ob in Köln,
Lübeck, Bremen, Frankfurt oder Augsburg. In prak-
tisch jeder deutschen Großstadt gibt es Initiativen
und Projekte, die darauf abzielen, den überdominant
gewordenen Autoverkehr aus der City zu verbannen.

Mal geht es um einzelne Straßenzüge oder Quartiere,
mal soll die halbe Innenstadt zur Sperrzone für priva-
te Diesel und Benziner werden. Ein Treiber der Bewe-
gung ist der Klimawandel. Doch die Hoffnungen und
Befürchtungen, die Stadtbewohner, Pendler und Ge-
werbetreibende mit einem postmotorisierten Stadtle-
ben verbinden, sind direkter und unmittelbar persön-
lich. Die einen erhoffen sich gesündere Luft, sichere
Wege für ihre Kinder, mehr Raum zur Entfaltung. Die
anderen befürchten Mobilitätsverlust, eine Bedrohung
ihrer ökonomischen Existenz, einen Eingriff in ihre
Selbstbestimmtheit.
Philine Gaffron vom Institut für Verkehrsplanung
und Logistik der TU Harburg versucht, die Debatte
um ein paar Fakten zu bereichern. Dafür steht sie an
einem Samstagmorgen um 5.30 Uhr in einem Stadt-
teilzentrum in Ottensen und weist ihre Studierenden
ein. Mit Kameras und Strichlisten wollen sie die Ver-
änderung der Verkehrsströme messen. „Beim Thema
autofreie Innenstadt gibt es sehr viel anekdotische
Evidenz, oft ist alles entweder super oder furchtbar.
Was weitestgehend fehlt, sind belastbare Zahlen“, sagt
Gaffron, die sich mit einer Thermoskanne Kaffee für
die 17-stündige „Raumbeobachtung“ gerüstet hat.
Die Ängste seien in allen Städten dieselben. Meist
male der Einzelhandel das Schreckgespenst einbre-
chender Umsätze an die Wand. „Dabei ist zumindest
das widerlegt. Studien zeigen, dass Menschen in ver-
kehrsberuhigten Bereichen mehr Geld ausgeben“, be-
richtet Gaffron und nennt als Beispiel die Sendlinger
Straße in München, die gegen viel Widerstand für ein
Jahr teilweise für den Verkehr gesperrt wurde. „Da-
nach war die große Mehrheit dafür. Die Anlieferung
wurde zwar schwieriger, doch die Umsätze stiegen.“
Gaffron glaubt, dass sich zumindest in den Städten
die Mehrheiten verschieben. „In Stadtbezirken wie
Hamburg-Nord oder Mitte hat mehr als die Hälfte
der Haushalte schon jetzt kein Auto“, sagt sie. Und
die Städter, die ein Fahrzeug besitzen, lassen es über
23 Stunden am Tag ungenutzt. „Diese Nutzung des
öffentlichen Raumes ist weder ökologisch noch
volkswirtschaftlich sinnvoll.“ Eine Einschätzung, die
von der Stadt Bremen offenbar geteilt wird. Die rot-
grün-rote Regierung schrieb sich kürzlich eine auto-

freie Innenstadt in den Koalitionsvertrag. Olaf Orb,
Experte für Stadtentwicklung und Verkehr bei der
Handelskammer Bremen, spricht allerdings lieber
von einer „autoarmen“ und noch lieber von einer
„fußgängerfreundlichen Innenstadt“. Man will die
motorisierte Kundschaft aus der niedersächsischen
Provinz nicht vergraulen. Tatsächlich steht der Han-
del dem Projekt gar nicht so ablehnend gegenüber,
und die CDU reklamiert gar, als Erstes auf die Idee
gekommen zu sein. Diskutiert wird über die Umset-
zung. Die Kaufleute fordern eine Verbesserung des
Nahverkehrs, die Verlegung einer Trambahn und vie-
les mehr. Was sie bislang nicht zu bieten haben, sind
eigene Beiträge zum Gelingen. Ein gemeinsamer Lie-
ferdienst? Ideen für die Nutzung des freien Raumes,
Feste, Aktionen? Fehlanzeige.

MACHT DER GEWOHNHEITRonny Meyer, vor eini-
gen Jahren noch bei der Boston Consulting Group und
jetzt grüner Staatsrat für Umwelt und Zentrales in
Bremen, will damit beginnen, die City fahrradfreundli-
cher zu machen. Noch in dieser Legislaturperiode soll
eine Fahrradbrücke über die Weser gebaut werden.
„Wer zum Arbeiten oder Einkaufen nach Bremen will,
wird in Zukunft das Auto an Park-and-Ride-Plätzen
am Stadtrand abstellen und mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln oder dem Rad weiterfahren. Noch besser
wäre es, er oder sie käme von vornherein mit der
Bahn.“ Dass die Menschen ihre Gewohnheiten nicht
über Nacht ändern, weiß auch Meyer. So machten die
Stadtplaner die Beobachtung, dass die bereits erfolgte
Umwandlung einer Straße zur Fußgängerzone von der
Zielgruppe weitgehend ignoriert wird. „Die Leute ge-
hen weiter auf dem Fußweg“, konstatiert Meyer.
Das gilt offenbar auch für Gewerbetreibende, wie
die Erfahrung im Ottenser „Flanierquartier“ zeigt.
Obwohl der Einzelhandel auch Teile der Straße nut-
zen darf, ist abgesehen von zwei Aufstellern eines
Gummibärchenladens und eines Dönergrills wenig zu
sehen. Eine Bar hat eine Tischtennisplatte aufge-
stellt. „Schaukelstuhl“-Chef Schröder konnte sich
auch noch nicht entschließen, die Straße zu nutzen.
Die Möbel jeden Tag raus- und wieder reinzuheben –
das sei viel Arbeit.

Viele Städte experimentieren mit autofreien Innenstädten. Wer die Citys


beleben will, muss aber mehr tun, als nur Verbotsschilder aufzustellen


E


PICTURE ALLIANCE/DPA

/ANNETTE RIEDL

Autos raus! Und dann?


VVVersuch inersuch in
Berlin Mitte
Die Friedrich-
straße war am
ersten Oktober-
WWWochenende ochenende
in manchen
Abschnitten
autofrei
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