Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1
Früher war er R.E.M.
Doch Michael Stipe ist
auch Fotograf S. 50

Früher war alles besser
Wie die Jugend sich ans
Vergangene klammert S. 52.

Zwischen winzigen Aktfotos von Kate Moss (wie
klein kann man einen Jahrhunderthintern zeigen?),
Tilda Swinton in der Rolle der legendären britischen
Exzentrikerin Edith Sitwell (eine entfernte Ahnin der
Schauspielerin) und Cate Blanchett mit Mozart-
perücke und Weltraumanzug (Galadriel reist überall-
hin) hängt ein Objekt, das ebenso banal wie symbo-
lisch ist: ein Feigenblatt aus Sandstein. Das Unerhör-
te sind seine Dimensionen; es ist ungefähr so groß
wie eine Servierplatte in der Serie „Downton Abbey“.
Dieses majestätische Feigenblatt wurde immer dann
an die Kopie von Michelangelos David montiert,
wenn ein Mitglied der königlichen Familie das Victo-
ria and Albert Museum besuchte. Den Penis der Sta-
tue sollten die Royals nicht sehen müssen. Weil der
überlebensgroße, nackte Mann fehlt, wirkt das Blatt
obszön überdimensioniert, und es entzündet unkeu-
sche Gedanken: Was für ein Monstrum sich wohl hin-
ter diesem Blatt verbirgt?


VON ADRIANO SACK

Es war auch Ausgangspunkt für Männerakte, die der
Modefotograf Tim Walker für seine atemberaubende
AAAusstellung „Wonderful Things“ produzierte. Seineusstellung „Wonderful Things“ produzierte. Seine
surrealistischen und opulenten Bilder haben den 49-
Jährigen zu einem der profiliertesten Märchenerzäh-
ler der Modebranche gemacht. Das allererste Bild der
AAAusstellung zeigt ihn in einer Kansas-Jeansjacke, Naseusstellung zeigt ihn in einer Kansas-Jeansjacke, Nase
an Schnauze mit einem hellblau gefärbten Schaf. In
den letzten Jahren durchstöberte der stets ein biss-
chen struppig wirkende Fantast das V&A und nahm
Kunstwerke oder Artefakte als Ausgangspunkt für Mi-
niserien, oft in Zusammenarbeit mit Modemagazinen
und mit Unterstützung von Branchenstars wie der
Stylistin Katy England oder dem Supermodel Edie
Campbell. Diese Werkschau ist überreich an Anspie-
lungen, Referenzen, Frechheiten. Eine knallbunte Lie-
beserklärung an Freiheit und Fantasie.
Dabei ist es eigentlich ein undankbares Vorhaben,
während der Londoner Kunstmesse Frieze eine Aus-
stellung eines Modefotografen zu besichtigen. Die
beiden Welten Mode und Kunst beäugen einander,
querfinanzieren einander, füttern einander, aber sie
sind sich auch nicht ganz geheuer. Grob gesagt: Die
Kunst gilt als kulturell wertvoller, die Mode erreicht


die Menschen.
AAAuf der Messe konnte man ein getöpfertes Gold-uf der Messe konnte man ein getöpfertes Gold-
fffischbecken des kalifornischen Künstlers Sterling Rubyischbecken des kalifornischen Künstlers Sterling Ruby
bestaunen, das aussieht wie chemischer Sondermüll.
Ein selbstverständlich sofort verkauftes Porträt des
Erzengels Luzifer mit abgeschnittenen Flügeln von Le-
wis Hammond. Oder Po-Prints der Transgender-Per-
ffformancekünstlerin Kembra Pfahler. Auch die Modeormancekünstlerin Kembra Pfahler. Auch die Mode
gab sich seltsam. Prada ließ den Künstler Theaster Ga-
tes einen temporären Club organisieren, in dem
schwarze Kreative vor Publikum über ihre Haare oder
ihre künstlerische Praxis redeten. Der Modemagazin-
mogul Jefferson Hack bot mit seiner Ausstellung
„„„Transformer“ einen Einblick in zeitgenössische Vi-Transformer“ einen Einblick in zeitgenössische Vi-
deokunst mit besonderer Berücksichtigung von soge-
nannten Minderheiten. Also genau das, was Markt und
Diskurs heute verlangen. Dagegen wirkt Tim Walker
mit seinen Fantasy-Bildern total aus der Zeit gefallen.
Selbst arbeitslose Galerieassistenten antworteten mit
einem nicht unfreundlichen, aber deutlichen „Wer bit-
te ist das?“, wenn das Gespräch auf die Ausstellung
kam.
Dabei ist sie ein grandioses Spiel zwischen kulturel-
ler Beflissenheit und dem Entertainment. Die Art-
déco-Zeichnungen von Aubrey Beardsley setzt Walker
als mit Fischaugenlinse fotografierte Modestrecke um,
mit spitzen Schuhen, Tintenschlieren und Opiumpfei-
fenerotik. Oscar Wilde hätte zustimmend genickt.
Ebenso über das Aufeinandertreffen eines aus Elfen-
bein geschnitzten Miniaturskeletts mit Grace Jones.
Die blutrot dominierten Fotos der Sängerin sind

selbstverständlich wie ein auf den Kopf gestelltes
Kreuz aufgehängt. So versteht wirklich jeder, dass er
es hier mit einem she-devilzu tun hat.

ALLES IST MÖGLICHDem Allesfresser Walker ist
nichts zu profan – und nichts zu groß. Eine Fotoserie
basiert auf dem Teppich von Bayeux, einem fast 70
Meter langen Stück Textilkunst aus dem 11. Jahrhun-
dert, auf dem die Schlacht von Hastings erzählt wird,
als die Invasion von William the Conqueror. Es war
ein historischer Wendepunkt, und es ist eines der ex-
zentrischsten (und berühmtesten) Werke der westli-
chen Kunstgeschichte. Walker ließ die Stylisten Jack
Appleyard und Josephine Cowell für seine Models
Rüstungen stricken, die den stilisierten Rüstungen auf
den Teppich verblüffend ähnlich aussehen.
Walker wird gelegentlich mit dem Society-Fotogra-
fen und Kostümbildner Cecil Beaton verglichen, tat-
sächlich steht er den Filmregisseuren Tim Burton und
Wes Anderson näher. Auch die tummeln sich in der
Ambivalenz von kindlichem Herumalbern und Erha-
benheit herum. Letzterer hat Anfang des Jahres im
Kunsthistorischen Museum in Wien die Ausstellung
„Spitzmaus-Mumie im Sarkophag“ kuratiert, für die er
kuriose Exponate aus der Sammlung pickte. Die Schau
ist gerade in die Fondazione Prada in Mailand gereist.
Auch bei Walker spielte das alte Ägypten eine Rolle.
Der Titel stammt aus dem Tagebuch von Howard Car-
ter, einem der Archäologen, die das Grab des ägypti-
schen Kinderkönigs Tutanchamun entdeckten. Am 26.
November 1922 notierte er: „Als sich meine Augen an
das Licht gewöhnt hatten, tauchten aus dem Nebel
langsam Einzelheiten des Raumes auf: seltsame Tiere,
Statuen, Gold, überall der Glanz von Gold. Ich war be-
täubt vor Staunen, und als Lord Carnarvon es nicht
länger aushielt und drängelte: ,Können Sie irgendwas
sehen?‘, war alles, was ich sagen konnte: ,Ja. Wunder-
bare Dinge.‘“
Männer in Frauenkleidern, Supermodels mit Blu-
men am Po, blaue Leoparden aus Pappmaschee, Frank
Ocean auf dem Screen des eigenen Telefons, Couture-
Kleider in hölzernen Archivkisten – durch Walkers Au-
gen gesehen ist fast alles wunderbar. Und das ist ja
heute eine fast schon provokante Haltung.
Müsste man also ein Bild aus dieser umwerfenden
Ausstellung fischen, dann wäre es vielleicht eines der
weniger spektakulären: Der Modeillustrator James
Spencer, ein junger Mann mit blondierten Haaren,
steht vor einem Waschbetonhaus in Nordengland, auf
ihn herab rieseln Schneeflocken, um ihn herum be-
klemmende Ausweglosigkeit. Vor ihm aber steht ein
winziges weißes Shetlandpony.
„Es ist der Partner des Protagonisten und folgt ihm
in die Fantasiewelt“, sagt Spencer. „Dort wird es dann
zum sinnlichen Einhorn.“ Bei Tim Walker ist eben al-
les möglich. Seine Botschaft: Man kann auch in einem
Kettenhemd aus gestrickter Wolle die Welt erobern.

TDie Ausstellung „Tim Walker.
Wonderful Things“ im Victoria and Albert Museum
läuft bis zum 8. März 2020

Eine grandiose Ausstellung in London zeigt, dass die märchenhaften Bilder von


Tim Walker nicht einfach nur Modefotografie sind. Sondern eine positive Utopie


MODE

Engel in einer selbst gebastelten Traumwelt
Der Modeillustrator James Spencer

©

TIM WALKER STUDIO

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