Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

50 STIL WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019


eit ein paar Jahren besitzt Michael Stipe ei-
ne Wohnung in Berlin, er kennt den Alltag
in dieser Stadt, den Boden, die Luft. Aber
so ein Himmel, im Oktober? Hier? Noch
nie gesehen. Er zückt die Kamera, der Son-
nenuntergang lässt ihn fast verstummen. „Schauen
Sie“, flüstert er, zeigt nach oben „Das Rot der anbre-
chenden Nacht, da das letzte Blau, das sich durch die
Wolkendecke kämpft, und ... dort hinten!“ Regenfäden
strömen aus den Wolken, weit weg in Brandenburg.

VON SASSAN NIASSERI

Stipe steht auf der Dachterrasse des „Studio 25“, ei-
nes Tonstudios auf dem als „Kreativdorf“ beworbenen
Holzmarkt-Gelände in Friedrichshain. Er hat hier Mu-
sik aufgenommen. Unten Restaurants, Galerien, Fla-
neure mit Einkaufstüten. Aus den Boxen im Sand
schallt aufgekratzter Techno, Lockmittel für Touris-
ten. Stockwerke darüber, am Geländer: Stipe, der einst
zu den charismatischsten Sängern der Welt zählte und
nun in die letzten Sonnenstrahlen blickt statt auf die
Lärmquellen unter ihm. Er wohnt in einem Plattenbau
in Berlin-Mitte. „Ich bin froh, dass ich das Apartment
schon vor ein paar Jahren bekommen habe“, sagt er.
Grund des Treffens ist ein neues Fotobuch, das Sti-
pe am Vortag in einer kleinen Buchhandlung in Prenz-
lauer Berg vorgestellt hat. Der Bildband „Our Interfe-
rence Times: A Visual Record“ (erschienen bei Damia-
ni Editore) erzählt eine Geschichte, die sich über meh-

rere Jahrzehnte erstreckt. Er dokumentiert den chao-
tischen Wandel von der Analog- zur Digitalfotografie.
Zu den Aufnahmen zählen Collagen mit Moiré-Effekt,
also sich überlagernden Rastern, das Innere einer
Glühbirne, die Wasserfontäne eines Wals und ein
Männerfuß, indexiert als „Foot Porn“. Zugleich han-
delt es sich um eine Art visueller Autobiografie des
Künstlers. Er sei schon immer zuerst Fotograf gewe-
sen und dann erst Musiker, sagt Stipe.
In den 80er-Jahren wurde seine Band R.E.M. von ei-
ner überschaubaren Fangemeinde für ihren feinsinni-
gen College-Rock verehrt. In den 90ern füllte sie nach
Hits wie „Losing My Religion“ oder „Everybody
Hurts“ Stadien auf der ganzen Welt. Damals gab es Bo-
no, Axl Rose, Kurt Cobain, Eddie Vedder – und Micha-
el Stipe. Das waren die Big Fiveder Rock-Aristokratie.
Doch zum Ende des Jahrtausends ließen die Verkaufs-
erfolge ebenso nach wie die Aussagekraft der Songs,
bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2011 quälten R.E.M. sich
mit Einer-geht-noch-Alben. „This star thing, I don’t get
it“, sang Stipe – er verstehe dieses Star-Ding einfach
nicht. Seit dem Ende der Band ist er so etwas wie ein
Star zum Anfassen geworden.
Immer wieder hört man von Berlinern, die Stipe auf
der Straße begegnen. Die Berichte handeln vom einem
kahlen, älteren Herren mit einem grauen Dreitagebart,
der Fahrrad fährt, in der „Bar 3“ am Rosa-Luxemburg-
Platz am Tresen steht oder die Galerie Buchholz in
Charlottenburg besucht. Für sein neues Fotobuch
musste der 59-Jährige Tausende Aufnahmen in einen

Die


zwei


Seiten


des


Michael


Stipe


Der R.E.M.-Frontmann galt in den 90er-Jahren als einer der


charismatischsten Rocksänger der Welt. Dass er ein begnadeter


Fotograf ist, hat sich noch wenig herumgesprochen


S


Ergreifend und sexy
FFFrühes Selbstporträtrühes Selbstporträt
von Michael Stipe aus
dem Fotoautomaten
MICHAEL STIPE/DAMIANI EDITORE
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