Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

52 STIL WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019


in durchschnittlicher Büroangestellter
empfängt täglich 121 E-Mails. Pro Tag wer-
den 350 Millionen Fotos auf Facebook gela-
den. Instagram-User produzieren 3,5 Milli-
arden Likes an einem Tag. Unsere Zeit ver-
langt von denen, die an ihr teilhaben wollen, eine se-
kündliche Positionierung. Denn es passiert so unend-
lich viel. Ein italienischer Modedesigner hat einen an-
tisemitischen Totalausfall. Eine Grünen-Politikerin
aus Bayern isst in Kalifornien Eis mit einem Plastiklöf-
fel. Ein weißer Student trägt Dreadlocks an einer Uni-
versität in Südafrika. Und eine New Yorker Klimaakti-
vistin fordert, Babys zu essen, um die Erderwärmung
zu verlangsamen. Ob wir es wollen oder nicht, das al-
les müssen wir an einem durchschnittlichen Tag ver-
arbeiten und eine Meinung dazu haben. Das Private ist
nicht nur politisch, globalisiert, umverteilt, sondern
auch eine Frage von Scham, Pride und Zwang. Was ich
sagen will: Unsere Welt verändert sich nicht mehr täg-
lich, sondern millisekündlich. Das macht die Men-
schen fertig. Und deswegen feiern sie eine neue Ein-
fachheit.

VON FRÉDÉRIC SCHWILDEN

In Sternerestaurants wie dem „Ernst“ serviert man
inzwischen zwei Brokkoliröschen als Gang. Lebens-
mittelläden heißen „Vom Einfachen das Gute“, und für
einen Laib Drescherbrot beim deutschen Backpapst
Arnd Erbel zahlt man 36 Euro, mehr als für ein Steak
in der Hamburger Steakhauskette Block House. Dazu
wollen alle irgendwo aussteigen. Bei „Fridays for Futu-
re“ und „Extinction Rebellion“ aus dem Kapitalismus,
häufige Slogans auf den Plakaten waren dort „Burn
Capitalism/ Not Coal“ und „System Change/ Not Cli-
mate Change“. In Kalifornien verzichtet man auf den
Handel mit Pelzen. Ab 2023 dürfen keine neuen Pelz-
waren mehr verkauft werden. Ebenso verbietet Kali-
fornien das Rauchen an Stränden. Was natürlich wie-
der lustig ist, weil sie dort erst Cannabis legalisiert ha-
ben, um es dann wieder, zumindest am Meer, zu ver-
hindern. Die No-Fab-Bewegung will sogar aus der
Onanie aussteigen. Andere verzichten auf Zucker, Glu-
ten, Fleisch oder auf die Penetration beim Ge-
schlechtsverkehr. Am Ende geht es darum, das Leben
einfacher zu machen, die Zivilisation so weit zurück-
zufahren, wie es nur geht. Sogar die Mode will aus der
Mode aussteigen.

FREIWILLIG UNIFORMIn seiner letzten Kollektion
vor dem Ausstieg bei Calvin Klein gestaltete Raf Si-
mons Marching-Band-Uniformen für die Couture-Li-
nie 205W39NYC. Peggy Gou, die südkoreanische
Wunderfrau, die Musikproduzentin und Modedesig-
nerin zugleich ist, entwirft Feuerwehruniformen, Je-
remy Scott steckt Männer in Outfits von Bedienungen
in Schnellrestaurants. Die Workwear-Firma Carhartt
feiert ein großes Revival. Und Menschen, die nur noch
mit den Fingerspitzen arbeiten, sehen jetzt aus wie
Holzfäller, Survival-Freaks oder Hafenarbeiter, tragen
freiwillig Arbeitsuniformen.
Die Alternative dazu: Markenkluft. Also nicht unbe-
dingt Kleider von bekannten Marken, aber mit Logo-
Motiv. In den Straßen von London, Bielefeld und Aix-
en-Provence tragen die Kids McDonald’s-Pullover von
Zara, Jacken mit den Schriftzügen der Raumfahrtbe-
hörde Nasa, der Analogfilmfirma Kodak oder der Limo-
naden Coca-Cola (Hilfiger), Fanta (H&M) und Pepsi

Alles schon mal da gewesenModels in der
VVVersace-Kollektion für Herbst/Winter 2019/2020ersace-Kollektion für Herbst/Winter 2019/2020

GETTY IMAGESETTY IMAGES

/VITTORIO ZUNINO CELOTTO

Die Post-Millennials kritisieren den Konsum,


feiern in der Mode aber die großen Marken


der 80er. Denn was gäbe mehr Halt?


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