Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

58 REISEN WELT AM SONNTAG NR.42 20.OKTOBER2019


ls Erstes muss der Besucher
im „Harry“ seine Straßen-
schuhe gegen Hauspantof-
feln tauschen, wir sind
schließlich in Japan. Dann
muss er seine Hände vorzeigen. Unver-
mittelt fasst die Dame am Tresen sie
und stülpt feste Handschuhe drüber.
Schließlich zeigt sie mit pantomimi-
schen Gesten einige Grundregeln für
den Umgang mit ihren Igeln: Bitte nicht
ins Gesicht fassen. Nicht mit den schar-
fen Zähnen spielen. Wenn das Tier weg
möchte, bitte nicht festhalten. Ach ja,
und bloß nicht fallen lassen.

VON JOCHEN OVERBECK

Das „Harry“ in Tokios Stadtteil Rop-
pongi ist eines von vielen Tiercafés, die
es in der japanischen Hauptstadt gibt,
die genaue Zahl ist unbekannt, sie muss
in die Hunderte gehen. Die Idee dahin-
ter ist vergleichsweise neu: Nachdem in
Taiwan 1998 das erste Katzencafé eröff-
net wurde, schwappte das Konzept
sechs Jahre später nach Japan über. Und
wurde weiterentwickelt: Es gibt Cafés,
in denen man Greifvögel oder große
Würgeschlangen streicheln kann. Ande-
re haben sich auf Papageien, Igel, Zie-
gen oder Pinguine spezialisiert – neben
einer Pinguin-Bar gibt es in Tokio noch
zwei Pinguin-Cafés.
In keiner anderen Metropole welt-
weit ist dieses Phänomen in dieser
Dichte zu beobachten. Was mit der
skurrilen Tierliebe der Japaner und ih-
rem Hang zum Niedlichen zu erklären
ist – und mit den winzigen Wohnungen
im notorisch teuren Tokio, wo sich je-
der Einwohner mit durchschnittlich 19
Quadratmeter Wohnfläche begnügen
muss. Da ist kein Platz für Haustiere.
Wer mit gefiederten oder pelzigen Le-
bewesen kuscheln will, geht dann eben
in ein Tiercafé. Das Tierwohl spielt da-
bei keine große Rolle, im Vordergrund
steht die Befriedigung des Knuddelwun-
sches durch den zahlenden Gast. Euro-
päische Urlauber mögen diesen Um-
gang mit Lebewesen als befremdlich
empfinden, viele Japaner wiederum hal-
ten zu viel Tierschutz für übertrieben.
Vor diesem Hintergrund sind Tokios
Tiercafés eine gute Möglichkeit, den
Gegensatz der Kulturen aus erster
Hand zu erleben, der Besuch eines sol-
chen Lokals bietet authentische, unge-
schönte Einblicke in eine Gesellschaft,
die Europäern faszinierend, rätselhaft,
bisweilen bizarr erscheint.

BLICKKONTAKT MIT IGELSo wie im
„Harry“. Dort zieht sich eine lange Bank
an der Fensterfront entlang, gegenüber
stehen Hocker. Dazwischen: Becken, in
denen Igel sitzen. Etwa 20 sind es, die
meisten kleiner als die, die man in Eu-
ropa in den Gärten sieht. Sie tragen alle
Farben zwischen Schneeweiß, Brauntö-
nen und Dunkelgrau. Vorsichtig neh-
men die Besucher sie aus ihrem Becken,
um – ja, um was eigentlich zu tun? Die
Interaktionsmöglichkeiten mit einem
Igel sind schließlich limitiert. Man kann
mit dem Handrücken über ihre erstaun-
lich weichen Borsten streicheln. Man
kann Blickkontakt suchen, „They see if
you love them“, sagt eine Angestellte.

Und man kann ihnen mit einer Pinzette
dicke Mehlwürmer reichen. Wer genug
von den Igeln hat, geht ein Stockwerk
tiefer zu den Hasen und Chinchillas.
Der Begriff „Café“ darf dabei nicht
allzu wörtlich genommen werden, man-
che der Etablissements erinnern an
Tierhandlungen, andere an Streichel-
zoos, wieder andere an Puppenhäuser.
So wie das „Chiku chiku“, in dem die
Igel in putzig dekorierten Zimmerchen
wohnen und mal auf einem Sofa lüm-
meln, mal in einer Badewanne. Hier ist
die Devise: Hauptsache, niedlich. Das
gastronomische Angebot ist höchst un-
terschiedlich. Während zum Beispiel
ein Pinguin-Café opulente Eisbecher
und Pinguin-Waffeln serviert, steht im
„Harry“ nur ein Getränkeautomat, Ver-
zehr ist nicht vorgeschrieben. Eintritt
wird hingegen überall verlangt, er liegt
umgerechnet meist zwischen zehn und
20 Euro. Hinzu kommen bisweilen Ge-
bühren für das Fotografieren oder für
das Streicheln der Tiere.
Auch im „Dog Heart From Aquamari-
ne“ im Stadtteil Shibuya. In dem Café
wartet ein gutes Dutzend Hunde auf Be-
sucher, vor allem Pudel, aber auch Gol-
den Retriever, Beagles und ein Spaniel.
Während einige Hunde in der Sonne lie-
gen, die durch die Panoramafenster auf
den Kunststoffboden fällt, tollen andere
durch den Raum und tun das, was Hun-
de besser können als alle anderen Tiere:
Sie geben dem Gast das Gefühl bedin-
gungsloser Zuneigung. Keine halbe Mi-
nute hockt man auf dem Boden, schon
leckt eine kleine Pudelzunge vorsichtig
am Finger. Ein Golden Retriever setzt
sich kurzerhand auf den Schoß. Ein
Beagle wartet an der Tür und wedelt mit
dem Schwanz. Er hofft darauf, dass der
Gast die Zusatzleistung bucht: Für 30
Euro darf man ihn eine halbe Stunde
lang im nahen Park ausführen.
Ein anderes Hundecafé ist vor allem
bei Teenagern beliebt: das „Mame-Shi-
ba“ in der Takeshita-Straße, die mit ih-

ren Novelty-Food-Buden und Klamot-
tenläden als Trendmeile gilt. Hier findet
sich ausschließlich eine besonders klei-
ne Version des Shiba-Hundes. Ganze
Schulklassen stehen Schlange, um auf
Tatami-Matten mit den Hunden zu
spielen, die in den letzten Jahren durch
zahlreiche Kurzvideos zu Internetstars
wurden. Dass der Andrang die Hünd-
chen stresst, bemängeln einige Gäste
auf TripAdvisor, Tenor: „Nichts für ech-
te Tierfreunde.“ Den meisten Besu-
chern ist das egal, die Wartezeit beträgt
selbst an Wochentagen bis zu sechs
Stunden.

EULE OHNE LUST AUF TOURISTEN
Wer diese Zeit nicht hat, wird von den
Mitarbeitern in den Keller geschickt, wo
in einem inszenierten Wald etwa zwei
Dutzend Eulen zur Streichelbereit-
schaft verdonnert sind. Und obwohl am
Einlass genau erklärt wurde, wie man
sie streicheln soll (mit dem Handrü-
cken, ganz vorsichtig): Die Eulen sitzen
reglos auf dem Fleck, ihr Blick sagt
deutlich, dass sie auf Interaktion mit
Menschen keinen Wert legen. Eine Tou-
ristin fasst eine der Eulen dennoch an,
unbeholfen und hektisch. Die Eule plus-
tert sich verärgert auf, einige Besucher
lachen.
In Japan gibt es zwar Tierschutzorga-
nisationen, die immer mal wieder be-
mängeln, dass das Wohl der Tiere in-
mitten der kommerziellen Interessen
im Tiercafé nicht ausreichend bedacht
werde. Gehört wird die Kritik jedoch
nicht, und es schert sich auch niemand
darum, dass Wildtiere keine Haustiere
sind. „Unsere Igel fühlen sich wohl bei
uns“, sagt eine Angestellte im „Harry“
und legt eines der Tiere (Farbgebung
„Salt & Pepper“) behutsam in die Hand
einer Kundin. Fast hat man den Ein-
druck, der Igel würde lächeln. Was aller-
dings weniger am Streicheln liegen
dürfte als an dem fetten Mehlwurm, den
man ihm gerade vor die Nase hält.

Bitte recht sachte
Im „Forest of Owl“
dürfen Besucher Eulen
streicheln

PICTURE ALLIANCE/AA

/DAVID MAREUIL; PICTURE ALLIANCE/CHIKUCHIKU CAFÉ

Igel zum Anfassen


In keiner anderen


Stadt gibt es so


viele Tiercafés wie


in Tokio. Besucher


warten Stunden,


um mit Pinguin


oder Würge-


schlange zu


kuscheln. Das


Tierwohl spielt da


keine große Rolle


A


In PuppenstubenIgel im
„Chiku Chiku Café“ in Tokio
Free download pdf