Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

SPORT


as Schöne am Fußball war lange, dass
er so leicht zu verstehen war. 22
Männer (oder Frauen), ein Ball, zwei
Tore. Fußball war der universelle See-
lenwärmer, das kurzbehoste Esperan-
to, dem der kleine Mann am liebsten lauschte.
Und wenn er auch nicht immer verstand,
irgendwie war alles gut.

VON CHRISTOPH CÖLN
UND LARS GARTENSCHLÄGER

2006 war so ein Seelenwär-
mer-Moment. Da flatterten auf
einmal deutsche und türki-
sche Fahnen in Eintracht auf
den Straßen. Das Spiel
brachte die Menschen für
kurze Zeit zusammen.
Doch dann mischten
sich die großen Män-
ner ein. Autokraten
inszenierten sich in
den Kurven, der
Fußball wurde zur
Staatsangelegen-
heit. Nichts

war mehr
gut. Es wurde
wieder kompli-
ziert. Oder wie der
große Welterklärer
Giovanni Trapatto-
ni einst resümierte:
„Fußball ist nicht nur
ding. Fußball ist ding,
dang, dong.“
Nimmt man den Fuß-
ball als Krisenbarometer,
ist es um die allgemeine La-
ge derzeit nicht zum Besten
bestellt. Die Dinge eskalieren.
Zum Beispiel in Istanbul, wo tür-
kische Nationalspieler auf dem
Platz einen militärischen Salut ent-
boten. In Sofia, wo englische Fußbal-
ler rassistisch beschimpft wurden. Oder
in London, wo Mesut Özil ein Interview
gab, in dem er Deutschland attestierte, frem-
denfeindlich zu sein. Schrille Töne. Alarmsigna-
le. „Ich finde es erschreckend, was da passiert“,
sagte Berti Vogts WELT AM SONNTAG. Der ehema-
lige Bundestrainer zeigte sich angesichts der rassisti-
schen Vorfälle in Sofia und der Militärgrüße türki-
scher Fußballer entsetzt. „Meines Erachtens ist da die
Fifa gefordert, die Verbände zu unterstützen und
einzuschreiten.“
Die Verbände warteten nicht auf die Fifa, sie schrit-
ten selber zur Tat. Sie drohten allen Vereinen, deren


Spieler sich zum Militärgruß hinreißen lassen, mit
empfindlichen Strafen, von Geldbußen bis hin zum
Punktabzug. In einem Schreiben des Nordostdeut-
schen Fußballverbands (NOFV), das dieser Zeitung
vorliegt, heißt es: „Der Fußball darf nicht für Provoka-
tionen, Diskriminierungen, politische Aussagen und
menschenverachtende Verhaltensweisen missbraucht
werden.“ Entsprechend werde das Salutieren als „grob
unsportliches Verhalten“ eingestuft.

„GEWALT BEFÜRWORTENDE GESTE“ ÄÄÄhnlichhnlich
sieht es der Fußballforscher Robert Claus. „Ich halte
die Militärgrüße der Fußballer für eine Gewalt befür-
wortende Geste“, sagt der Experte der Kompetenz-
gruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Ar-
beit (KoFas). Er kritisiert auch die Solidaritätsbekun-
dungen von Nationalspielern wie Ilkay Gündogan
oder Emre Can in sozialen Medien. Die beiden hatten
am vergangenen Wochenende ein Bild des im hessi-
schen Wetzlar geborenen türkischen Nationalspielers
Cenk Tosun gelikt, das die türkischen Nationalspieler
zeigt, wie sie beim Torjubel geschlossen salutieren.
Später hatten Gündogan und Can das Like wieder ent-
fernt und eine politische Positionierung bestritten.
„Es ist ein politisches Statement“, sagt Claus. „Das im
Nachhi- nein entpolitisieren zu wollen, finde ichnein entpolitisieren zu wollen, finde ich
nicht besonders überzeugend.“ Der DFB
war darum bemüht, die Sache abzumode-
rieren, doch da hatte die Diskussion die
Grenze des Sportlichen längst überschritten.
An den Sympathiebekundungen mit dem tür-
kischen Militär entzündete sich eine Debatte um
die Identität der in Deutschland lebenden Bürger mit
türkischem Migrationshintergrund. Mit zum Teil hef-
tigen Reaktionen. „Wir lassen uns nicht auf der Nase
rumtanzen und von Minderheiten kaputtmachen“,
sagte etwa der nordrhein-westfälische Sportfunktio-
när Hans-Otto Matthey, nachdem die Spieler dreier
Amateursportvereine im Kreis Recklinghausen durch
entsprechende Salute aufgefallen waren. Der FC
St. Pauli entließ gar seinen türkischen Stürmer
Cenk Sahin, weil er sich eindeutig zur völker-
rechtswidrigen Militärinvasion der Türken
in Nordsyrien bekannt hatte. In Berlin
meldete sich der türkische Botschafter
zu Wort: „Es grenzt wirklich an Frem-
denfeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus“,denfeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus“,
sagte Ali Kemal Aydin zur Debatte in Deutschland. Er
konstatierte eine „anti-türkische Stimmung“. Kurz
darauf beklagte Ex-Nationalspieler Mesut Özil im eng-
lischsprachigen Magazin „The Athletic“, Deutschland
sei nicht mehr nur an seinen Rändern, sondern aus der
Mitte heraus rassistisch.
Einer, der die Stimmung in der Mitte der Gesell-
schaft kennt, ist Ecevit Özman. Der 43-jährige Türke
ist Sportlicher Leiter bei Türkyiemspor Berlin, einem
der ältesten deutschtürkischen Fußballvereine der Re-
publik. Seit mehr als vierzig Jahren integriert der Klub
Spieler aller Nationen. In der Ersten Mannschaft spie-
len derzeit neben Türken auch Kurden, Griechen, Sy-
rer und viele andere Nationalitäten. Erdogans Ein-
marsch in Syrien, wo das türkische Militär eine blutige
Offensive gegen die Kurden führt, sei kein Streitthema
im Klub, sagte Özman. „Wir verstehen uns alle bes-
tens. Wir sind aber entsetzt über den Shitstorm, der
da losgetreten wurde.“ Die Empörung, die Türken und
Deutschtürken momentan entgegenschlage, hält er
für völlig überzogen. „Das heißt doch nicht, dass die
Spieler für Krieg sind oder Erdogan gut finden. Es
heißt nur, dass wir mit unseren Soldaten fühlen, mehr
nicht. Deswegen muss man uns doch nicht behandeln
wie Außerirdische.“
Wie Außerirdische. Özmans Wortwahl macht nach-
denklich. So wie er leben viele Türken bereits in der
dritten, vierten Generation in Deutschland. Sie sind
hier geboren, haben den deutschen Pass oder die dop-
pelte Staatsbürgerschaft. Und doch scheint es, als wä-

re ihnen das Zugehörigkeitsgefühl abhandengekom-
men, als sei Deutschland für sie ebenso weit weg wie
die Türkei. „Menschen mit türkischem Familienhin-
tergrund werden in Deutschland leider generell ver-
dächtigt, der deutschen Gesellschaft und den hiesigen
staatlichen Institutionen gegenüber nicht loyal zu
sein“, gibt KoFas-Forscher Claus zu bedenken. Men-
schen ohne Migrationsgeschichte werde dies kaum
vorgehalten. Er sieht darin rassistische Tendenzen.
Die resultierten auch aus einem Mangel an Verständ-
nis für die türkische Minderheit. Klubfunktionär Öz-
man beklagt angesichts der Debatte um die Militär-
grüße etwa, dass die Deutschen die besondere Bezie-
hung der Türken zu den Soldaten nicht verstehen wür-
den. „Das Militär hat bei uns einen ganz anderen Stel-
lenwert als in Deutschland. Wir haben ein entspann-
tes Verhältnis zum Militär, weil es für uns der Wächter
des Laizismus und der Demokratie ist.“
Die sozialen Medien spielen in dieser Gemengelage
eine ungemein wichtige Rolle. Sie sind der Ort, an dem
Identität heutzutage verhandelt wird. Und zwar in
Windeseile. Mit ein paar Klicks lässt sich das eigene
Profil schärfen, anderes ablehnen. Der Tübinger Kul-
turwissenschaftler Özkan Ezli sieht darin eine Gefahr.
„Es geht in sozialen Medien weder um das Darstellen
noch um das Verstehen komplexer politischer Zusam-
menhänge, es geht eher darum, dass hier etwas abge-
führt werden muss, eine Spannung, ein kulturelles
Unbehagen, um Affekte.“ Der Druck, am immer rasan-
ter geführten öffentlichen Diskurs teilnehmen zu
müssen, fördert den gedanklichen Kurzschluss und er-
schwert die kühle Analyse. Bei Fußballern, aber auch
bei den Medien.

KAUM VERSTÄNDNIS FÜREINANDERDoch auch
jenseits des medialen Diskurses wird die Verständi-
gung schwieriger. „Es geht heute nicht mehr darum,
Kulturen wirklich zu verstehen“, sagt Ezli. „Es geht
darum, sich zu positionieren. Identitätsbildungspro-
zesse sind daher in erster Linie Schließungs- und Ab-
grenzungsprozesse.“ Was zu einer Spaltung der Ge-
sellschaften führt. Die Politik hilft kräftig mit. Entwe-
der durch Untätigkeit oder indem sie ein bestimmtes
Selbstverständnis forciert. Der türkische Präsident
Recep Tayyip Erdogan ist jemand, der sich auf Letzte-
res versteht. „Viele Deutschtürken haben sich lange
Zeit weder der Türkei noch Deutschland wirklich
zugehörig gefühlt“, sagt Ezli. „Erdogan ist dann mit
einer sehr cleveren Identitätspolitik in diese Lücke
hineingestoßen, indem er ihnen beispielsweise die
Möglichkeit zur Teilnahme an Wahlen in der Türkei
gegeben hat.“
Dies habe die Abkehr eines Teils der Deutschtürken
von Deutschland bewirkt und progressive Modelle wie
den Doppelpass torpediert. Vor 20 Jahren wurde die
doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt, vorausgegan-
gen waren heftige Debatten und eine rechtspopulisti-
sche Kampagne des damaligen hessischen Minister-
präsidenten Roland Koch. So wurde das Ziel, den
migrantischen Mitbürgern die Integration zu erleich-
tern, schon diskreditiert, bevor der erste Doppelpass
überhaupt ausgestellt worden war. Politisch und ge-
sellschaftlich bekamen die Deutschtürken in der Folge
nur selten das Gefühl, gleichberechtigt zu sein. „Wir
vermissen die Unterstützung der Politik“, sagt Öz-
man. Der Türkyiemspor-Leiter beklagt das Klima, das
durch die NSU-Morde und das Erstarken der AfD in
Deutschland entstanden ist: „Es wird immer schlim-
mer.“ Die Zerrissenheit wurde durch den Doppelpass
eher zementiert, als dass sie zu mehr Verständnis ge-
führt hätte. Gefüllt wurde dieses Vakuum durch die
sozialen Medien, durch Autokraten – und auch durch
den Fußball.
Das Spiel wärmt immer noch die Seelen. So ver-
schieden sie auch sind. Bis deutsche und türkische
Fahnen wieder gemeinsam auf den Straßen zu sehen
sind, wird es aber wohl noch dauern.

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