Die Welt Kompakt am Sonntag - 20.10.2019

(Rick Simeone) #1

WELT AM SONNTAG NR. 42 20. OKTOBER 2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT 9


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werden könnte. Obwohl der Konflikt also mitnichten
beigelegt ist, feierte der amerikanische Präsident Do-
nald Trump das Waffenstillstandsabkommen als „his-
torischen Schritt“. Seit zehn Jahren werde eine Lö-
sung im türkisch-kurdischen Konflikt gesucht, sagte
Trump, „und nun haben wir sie gefunden“. In Wirk-
lichkeit jedoch beinhaltet das Abkommen kaum Neu-
es. Die Türkei hat bereits vor einem Jahr die gleichen
Forderungen zur Einrichtung einer Sicherheitszone
gestellt, mit der sie sich vor den als „Terroristen“ ein-
gestuften syrischen Kurden schützen will. Schon da-
mals lehnte Nordsyrien diese Forderungen ab. Was
folgte, waren langwierige Verhandlungen, bei denen
die USA als Vermittler zwischen der Türkei und Nord-
syrien fungierten. Im August war es dann zu einem
Kompromiss gekommen.


ABRUPTER KURSWECHSEL Die SDF hatte bereits be-
gonnen, sich aus dem ersten, 100 Kilometer langen Teil
der Sicherheitszone zurückzuziehen, die nach dem da-
mals ausgehandelten Kompromiss maximal 14 Kilome-
ter tief sein sollte. Aber Anfang Oktober gab Trump Prä-
sident Erdogan überraschend grünes Licht für die Of-
fensive und begann amerikanische Truppen aus Nordsy-
rien abzuziehen. Das war ein abrupter Kurswechsel,
Trump ließ damit ausgerechnet den Partner fallen, mit
dem US-Truppen den IS besiegt hatten: die Kurden.
Die Invasion der Türkei läuft seit dem 9. Oktober.
Die türkische Armee und ihre islamistischen Hilfs-
truppen konnten bisher nur die Stadt Tal Abiad ein-
nehmen. Das zweite Ziel der Offensive, Ras al-Ain, ist
zwar umzingelt, aber der Stadtkern ist weiter in Hän-
den der SDF. Amnesty International (AI) wirft der
Türkei Kriegsverbrechen vor. Dazu gehören stand-
rechtliche Erschießungen, Angriffe auf Zivilisten,
Krankenhäuser und Bäckereien. Untersucht wird
noch, ob sogar verbotene Waffen wie Phosphor- oder
Napalmbomben eingesetzt wurden. Im Krankenhaus
von Tal Tamer, einem Ort etwa 40 Kilometer von der
Frontlinie entfernt, wurden zahlreiche Kinder mit ver-
dächtigen Brandverletzungen eingeliefert.
Die Offensive konzentrierte sich nur auf die beiden
Städte Tal Abiad und Ras al-Ain. Von einer umfassen-
den Militäroperation in ganz Nordsyrien kann kein
Rede sein. Die zweitstärkste Armee der Nato hat ihre
Kapazitäten noch nicht ausgeschöpft. Das könnte sich
nach Ablauf des Ultimatums ändern, wenn sich Nord-
syrien den Bedingungen widersetzt. Die große Frage
ist, wie sich die syrische Armee und ihr Verbündeter
Russland verhält.
In den Dörfern rund um Tal Tamer sind die Assad-
Truppen schon von Weitem zu erkennen. Auf den Dä-
chern ihrer Basen flattern große syrische Nationalflag-
gen, an den Militärfahrzeugen und Notarztwagen kle-
ben riesige Poster von Präsident Baschar al-Assad.
„Ich möchte hier nur schnell durch“, sagt Bashir, ein
junger Kurde. Er hat Angst vor der syrischen Armee,
und das nicht allein wegen des drohenden Militär-
dienstes. „Das Regime könnte die Macht übernehmen,
und wir wissen von früher, wie brutal es ist“, sagt der
Student. Es ist eine Befürchtung, die viele teilen.
Die türkische Luftwaffe dringt seit Donnerstag
nicht mehr in den Luftraum ein. Sie vermeidet die
Konfrontation mit den russischen Suchoi-Kampfjets,
die regelmäßig unterwegs sind. Doch mit Drohnen be-
schießen die Türken Dörfer bei Tel Tamer und Ras al-
Ain. Laut der nordsyrischen Gesundheitsbehörde wur-
den allein in den letzten beiden Tagen acht Menschen
getötet. „Jede Militäroperation auf syrischem Territo-
rium ist inakzeptabel“, hatte Alexander Lawrentjew
erklärt, der Spezialgesandte des Kremls für Syrien.
Russland hat den Hilfsdeal zwischen Nordsyrien und
dem Assad-Regime eingefädelt. In einigen Städten,
wie in Manbidsch und entlang der Grenze, patrouillie-
ren russische Soldaten zwischen Truppen der Türkei
und der syrischen Armee, um Konfrontationen zu ver-
meiden. Der Kreml hält sich bedeckt, was seine Nord-
syrien-Politik betrifft. Spätestens am Dienstag, wenn
das Ultimatum abläuft, dürfte sich das ändern.
Unterdessen bemüht man sich im Nato-Hauptquar-
tier in Brüssel um Schadensbegrenzung. Am Freitag-
abend, kurz vor 21 Uhr ist US-Außenminister Mike


Pompeo eingetroffen. Nato-Chef Jens Stoltenberg be-
grüßt „den lieben Mike“. Dann sagt Stoltenberg, das
Bündnis habe einen gemeinsamen Feind – den soge-
nannten Islamischen Staat (IS): „Wir dürfen die Erfol-
ge, die wir im Kampf gegen unseren gemeinsamen
Feind Daesh (IS) erreicht haben, nicht gefährden.“ Das
ist höflicher Diplomatenjargon, aber eine klare Ansage
an Washington und Ankara. Die Botschaft lautet:
Bringt die Dinge wieder in Ordnung.
Bereits am Mittwochmorgen hatten sich die Bot-
schafter der 29 Mitgliedsländer im sogenannten Nord-
atlantikrat (NAC) mehr als zwei Stunden mit der Of-
fensive des Allianzpartners Türkei gegen die Kurden
befasst. Die Beratungen sind streng geheim. Nach In-
formationen von WELT AM SONNTAG machten aber
vor allem Deutschland, Frankreich, Albanien, Island,
Belgien und Luxemburg klar, dass Ankara von ihnen
„keine Unterstützung“ erwarten kann. Auch der deut-
sche Nato-Botschafter Hans-Dieter Lucas, der zu den
einflussreichsten Diplomaten des Bündnisses zählt,
wählte klare Worte. Die Nato beschloss, im Haupt-
quartier eine Art Krisenstab (Taskforce) einzurichten,
der Aufklärungs- und Sicherheitsexperten, Fachleute
für Militäroperationen und politische Berater angehö-

ren. Die Türkei verpflichtete sich offenbar auch, die
Nato-Partner nahezu täglich über Angriffe, Flücht-
lingsströme und Kriegsschäden zu unterrichten. Au-
ßerdem machte Ankara klar, dass die Angriffe laut Plan
bis in die erste Hälfte des Monats November fortge-
führt werden sollen. Das war allerdings einen Tag vor
der Vereinbarung über eine vorläufige Waffenruhe von
120 Stunden, die US-Vizepräsident Pence erreichte. Es
zeichnet sich auch ab, dass Frankreich anders als ge-
plant keine Luftabwehrraketen im Süden der Türkei
stationieren wird und die Spanier zugleich abziehen
werden. Wird Erdogan dann das umstrittene russische
Abwehrsystem S-400 gegen mögliche Angriffe von
Scud-Raketen aus Syrien einsetzen?
Klar ist: Sollte die Türkei demnächst aus Syrien an-
gegriffen werden, wird die Nato Ankara nicht helfen.
„Die Türkei kann die Nato wegen Nordsyrien nicht
einfach so in einen Krieg hineinziehen“, sagt der Si-
cherheitsexperte des German Marshall Fund, Jan Te-
chau. Der Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-
Parlament, David McAllister (CDU), fordert: „Präsi-
dent Erdogan muss signalisiert werden, dass der Ein-
satz so nicht akzeptabel ist. Sonst könnte der Konflikt
nach Ablauf der Waffenruhe weiter eskalieren.“

Flucht vor der türkischen Armee Ernüchterung
SSSyrische Flüchtlinge stehen in Bardarash im Irak anyrische Flüchtlinge stehen in Bardarash im Irak an
fffür Brot und Linsensuppe ür Brot und Linsensuppe

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