Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

jedoch anfällig für Phageninfektionen.
Manchmal legen sie die gesamte Produk-
tion einer Molkerei lahm.
Die Forscher berichteten von einem
mysteriösen Abschnitt in der DNA der
Bakterien mit dem Namen Crispr. In die-
sem Abschnitt stießen sie auf Schnipsel
fremder DNA aus dem Erbgut der feind -
lichen Phagen. Diese Schnipsel machten
das Bakterium offenbar immun. Es war,
als ob das Bakterium Fotos der Angreifer
in ein Album klebte, um sie bei einer
erneuten Attacke wiedererkennen und
bekämpfen zu können.
Virginijus Šikšnys stellte sich sofort meh-
rere Fragen: Wie genau erkennen die Bak-
terien die Phagen? Und welche Proteine
bilden sie, um diese unschädlich zu ma-
chen? Mit seinen bisherigen Molekülen sei
ihm langweilig geworden, sagt Šikšnys. Er
witterte ein neues Forschungsfeld.
Am selben Abend schrieb er eine Mail
an die Streptokokkenforscher: ob sie ihm
eine Probe ihrer Bakterien schicken könn-
ten. Einige Wochen später kam ein Paket
in Vilnius an, darin einige Gefäße mit dem
Bakterium Streptococcus thermophilus. Er
machte sich an die Arbeit.
Šikšnys wuchs in einer Stadt im Norden
Litauens auf, als das Land noch zur Sow-
jetunion gehörte. Als Kind besuchte er
gern seinen Vater bei der Arbeit, einen
Buchhalter. Dort bestaunte er die großen
Rechenmaschinen mit ihren Handkurbeln
und Sprossenrädern. In der Schule begeis-
terte er sich für Chemie. Seine Lehrerin
gab ihm oft besonders knifflige Aufgaben,
und der junge Virginijus saß freiwillig nach,
um sie zu lösen. In der neunten Klasse fuhr
er zur Chemieolympiade ins entfernte Vil-
nius und holte die Silbermedaille. Die
Wahl des Studienfachs, sagt Šikšnys, sei
ihm leichtgefallen.
Im Litauen der Achtzigerjahre war auch
die Wissenschaft vom Ideal des Sozialis-
mus durchdrungen. Nach seiner Abschluss-
prüfung in organischer Chemie wurde
Šikšnys eine Liste mit Stellen für die Dok-
torarbeit überreicht. Die Studierenden mit
den besten Noten durften sich zuerst eine
Arbeitsgruppe aussuchen. Šikšnys hatte
eine große Auswahl. Er sagt, er wollte
schon immer unter den Besten sein.
Als Šikšnys, nunmehr Professor an der
Universität in Vilnius, mit seinen Crispr-Ex-
perimenten anfing, wurden weitere Wissen-
schaftler auf das Abwehrsystem der Bakte-
rien aufmerksam. In Laboren in Würzburg,
Wageningen und Wien züchteten sie Bakte-
rien heran, schleusten fremde DNA in die
Zellen ein und untersuchten, wie die Bakte-
rien sie bekämpften. Die Mikrobiologin Em-
manuelle Charpentier konzentrierte sich an
der Universität im schwedischen Umeå auf
ein spezielles Molekül, eine sogenannte Ri-
bonukleinsäure, die sich später als elemen-
tares Bauteil der Genschere herausstellte.


Jennifer Doudna erforschte an der Uni-
versity of California in Berkeley unter an-
derem das eigentliche Schneidwerkzeug,
jenes Protein namens Cas9. Unter einem
Elektronenmikroskop schaute sie sich des-
sen Struktur an und erkannte, dass es die
angreifende virale DNA umschließt wie
mit einem Würgegriff. Dann fährt es seine
Klingen aus.
Die Gemeinschaft der Crispr-Forscher
war noch klein. Auf Konferenzen zum The-
ma trafen sich jedes Jahr dieselben Wissen-
schaftler. Doch sie produzierten stetig neue
Erkenntnisse und bauten auf ihnen auf. Mit
jedem Experiment, mit jedem Fachartikel

wurde klarer, wie die Genschere zusam-
mengesetzt ist und wie sie funktioniert.
Grundlagenforschung ist ein mühsames
Geschäft, ein frustrierendes bisweilen.
Zahllose Experimente erweisen sich als
Sackgasse, und die meisten Wissenschaft-
ler machen ein Leben lang keine große
Entdeckung. Auch bei Crispr ahnte nie-
mand, wozu das neuartige bakterielle Im-
munsystem nützlich sein sollte – von der
Käseproduktion einmal abgesehen.
Die Wendung im Fall der Genschere
kam im Jahr 2011, als Virginijus Šikšnys
im Labor ein Durchbruch gelang: Er
verpflanzte die Crispr-Cas9-Gene in Ko-
libakterien. Diese Mikroben sind die Ar-
beitstiere eines Biochemikers, sie vermeh-

ren sich schnell, lassen sich gut züchten
und so manipulieren, dass sie, wie winzi-
ge Maschinen, ganz gezielt Proteine her-
stellen.
In Šikšnys’ Labor produzierten die Bak-
terien nun die molekularen Bauteile der
Genschere.
Abend für Abend legten der Biochemi-
ker und sein Doktorand Kulturen von Koli -
bakterien an. Am Morgen sprengten sie
mit Ultraschallwellen deren Zellmembran
auf und schleuderten die Trümmer in einer
Zentrifuge. Sie trennten die Moleküle und
mischten einige von ihnen in einem Plastik -
röhrchen mit DNA-Abschnitten. Nach eini -
gen Minuten maßen sie deren Länge.
An einem Tag Ende 2011 kam der Dok-
torand aufgeregt in Šikšnys’ Büro. Am
Computer zeigte er ihm eine Abbildung
mit einigen parallelen Strichen. Beiden war
sofort klar, was das bedeutete: In der Probe
befanden sich DNA-Stücke zweier unter-
schiedlicher Längen. Das Protein musste
sie zerschnitten haben, schnell und präzise.
Es war der Nachweis: Jeder kann die
Genschere im Reagenzglas aus nur drei
Bauteilen zusammensetzen.
Ein göttliches Werkzeug.
Etwa zur selben Zeit erzielten Jennifer
Doudna und Emmanuelle Charpentier ein
fast identisches Ergebnis. Weil es ihnen so
revolutionär erschien, entschlossen sie
sich, auf Nummer sicher zu gehen, und ar-
beiteten an einer letzten Bestätigung.
Šikšnys schrieb derweil seinen Artikel.
Die Arbeit ist eine hochtechnische Beschrei-
bung seiner Experimente, deren Bedeutung
nur für Experten des Fachs offensichtlich
wird. Die einleitende Zusammenfassung
beendete er mit dem Satz: »Diese Funde
ebnen den Weg zur Herstellung universell
programmierbarer RNA-geleiteter DNA-
Endonukleasen.« Einfacher ausgedrückt:
Mit der Entdeckung lässt sich eine Gen -
schere konstruieren, die DNA an beliebigen
Stellen schneiden kann.
Sechs Tage nachdem Šikšnys sein Ma-
nuskript abgeschickt hatte, erreichte ihn
eine Antwort. Die Redaktion von »Cell«
schrieb, man habe die Arbeit nicht zur wei-
teren Begutachtung herausgeschickt. Der
Artikel liefere »nicht das nötige Maß an
konzeptuellem Fortschritt«.
Šikšnys sagt, natürlich habe er Frust
verspürt. Doch Manuskripte würden
abgelehnt, das passiere eben. Deshalb
habe er sofort über den nächsten Schritt
nachgedacht. Er folgte einem Rat aus der
Mail und schickte das Manuskript an eine
andere, etwas weniger angesehene Zeit-
schrift. Es war vielleicht sein größter
Fehler.
Heute lässt sich nicht mehr nachvollzie-
hen, warum der »Cell«-Verlag das Manu-
skript nicht akzeptierte. Der Pressespre-
cher verweigert auf Nachfrage einen Kom-
mentar. Nicht einmal über den üblichen

106


Wissenschaft

STEPHEN VOSS / REDUX / LAIF
Molekularbiologe Zhang
Der Lüge bezichtigt

Jeder kann die Genschere
aus nur drei Bauteilen
zusammensetzen. Ein
göttliches Werkzeug.
Free download pdf