Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
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Kultur


Ausstellungen

Momentaufnahmen


 Am 25. November 1948 erreicht ein Telegramm den fran-
zösischen Fotografen Henri Cartier-Bresson, der sich mit
seiner Frau gerade in Burma, heute Myanmar, aufhält. Die
Agentur Magnum bittet ihn, für das US-Magazin »Life« nach
China zu fahren, um dort über die letzten Tage Pekings vor
der bevorstehenden Machtübernahme durch die Kommu -
nisten zu berichten. Cartier-Bresson bleibt zwölf Tage in
Peking, dann reist er weiter nach Shanghai und beschließt
dort, den historischen Umbruch langfristig zu dokumentie-
ren. Fast ein Jahr lang wird er in China bleiben, kaum vor-
stellbar im heutigen Reporterleben. Es ist eine Zeit, die sei-
nen Stil prägen wird, seine ewige Suche nach dem einen ent -
scheidenden Moment, so kurz er auch sein mag. China habe
aus Cartier-Bresson erst den Reportagefotografen gemacht,
der er für den Rest seines Lebens gewesen sei, sagt Michel
Frizot, der Kurator der Ausstellung, die jetzt in Paris zu
sehen ist (»Chine 1948–1949. 1958«, in der Fondation Cartier-
Bresson; bis 2. Februar 2020).
Eines der beeindruckendsten Fotos zeigt Menschen, die
sich in einer Warteschlange verzweifelt aneinanderklam-
mern, als wollten sie nicht ihren Platz verlieren. Sie stehen
Schlange vor einer Bank in Shanghai, weil sie aufgrund
der Inflation ihr Geld in Gold umtauschen wollen. Es ist
einem Zufall zu verdanken, dass dieses Bild existiert. Auf
der Filmrolle trägt es die Nummer 37, eigentlich gibt es
nur Platz für 36 Fotos. Cartier-Bresson sah – auch das ist
heute kaum vorstellbar – keine einzige seiner Aufnahmen,
bevor er sie nach New York schickte. In Notizen kommen -
tierte er, was er fotografiert hatte: ungewöhnliche Einblicke
in den Alltag Chinas während einer politischen Zeiten -
wende. Kinder in zerrissenen Hosen, die um eine Portion
Reis anstehen. Abgeordnete der nationalistischen Kuomin-
tang-Partei, die mit dem Tennisschläger unter dem Arm
auf ihren Abflug warten. Lauter kleine, entscheidende
Momente. BSA

»Man sollte das Denken gar nicht erst vor neun Uhr morgens beginnen.« ‣S. 120

DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019

Literatur
Geheimnisvoller Onkel
 Einmal bläst eine hübsch verlotterte
Schamanin an einem See in Guatemala
dem Icherzähler des Buchs »Duell« bene-
belnden Rauch ins Gesicht, und er gesteht:
»Meine Erinnerungen waren lose, chaoti-
sche Bilder. Ich wusste nicht, ob wirklich,
geträumt oder eingebildet.« Der Schrift-
steller Eduardo Halfon, der in Guatemala
aufgewachsen ist und heute in den USA
lebt, forscht in diesem schmalen autobio-
grafischen Roman einem verschollenen
Mitglied seiner weitläufigen, vor allem
aus polnischen und libanesischen Juden
bestehenden Familie hinterher. Der Bru-


der seines Vaters sei ein On kel Salomon
gewesen, berichtet der Erzähler; in seinen
Kinderjahren habe man ihm versichert,
dieser Onkel sei als Fünfjähriger im Ama-
titlán-See ertrunken. Diverse Indizien
aber wecken Zweifel an dieser Version.
Starb Salomon möglicherwei-
se erst als größeres Kind oder
als Jugendlicher in einem
Sanatorium in den USA,
nachdem Teile der Familie in
das Land gezogen waren?
Der 1971 geborene Autor
Halfon hat schon in Werken
wie dem hochgelobten Er -
zählungsband »Signor Hoff-
mann« und dem Roman

»Der polnische Boxer« seine Kunst be -
wiesen, beim Nachgrübeln über das
Geschick der eigenen Lieben elegante und
groteske Haken zu schlagen. In »Duell«
beschwört er in einem hinreißend char-
manten Erzählton eine halb komische,
halb tragische Familienmy-
thenwelt, in der Wahrheiten
schwer oder überhaupt nicht
mehr herauszubekommen
sind. Nicht mal mit der Hilfe
einer Weihrauch verpusten-
den Schamanin. HÖB

Eduardo Halfon: »Duell«.
Aus dem Spanischen von Luis Ruby.
Hanser; 112 Seiten; 18 Euro.

HENRI CARTIER-BRESSON / MAGNUM PHOTOS
Cartier-Bresson-Foto aus Shanghai

ULF ANDERSEN / GETTY IMAGES
Halfon
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