Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
Titel

genommen bereits politisch heikel. Doch
sollte einer der Zurückgebrachten einen An-
schlag verüben, es wäre wohl das Ende ei-
ner jeden Ministerkarriere.
Ranghohen Beamten der Bundesregie-
rung dämmert nun, dass es ein Fehler war,
auf Zeit zu spielen. Die jetzige Situation
ist ein einziges Chaos – mit unabsehbaren
Folgen für die Sicherheitslage auch in
Deutschland.
Nun steht der »Islamische Staat« im
syrischen Chaos möglicherweise vor ei-
nem Comeback. Der Anführer der Terror-
gruppe, Abu Bakr al-Baghdadi, hat aus
dem Untergrund zu Gefangenenbefreiun-
gen aufgerufen.
»Ich habe die Sorge, dass der IS wieder
an Stärke gewinnt«, warnt Verfassungs-
schutzchef Thomas Haldenwang. »Der
Konflikt in Nordsyrien könnte auch dazu
führen, dass ausländische IS-Kämpfer aus
den Gefängnissen freikommen und nach
Europa zurückkehren, im schlimmsten Fall
unbemerkt«, sagt er. »Hier müssen die Si-
cherheitsbehörden wachsam sein.«
Kadir Topçu alias »Abu Yakub al-Alma-
ni«, 26, ist einer der IS-Anhänger, den
deutsche Staatsschützer lieber noch etwas
länger in Obhut der Kurden sähen. Er war
im Frühjahr bei Gefechten
um die letzte IS-Bastion Bag-
hus festgenommen worden.
Fast sechs Jahre verbrachte
der Deutschtürke aus Ham-
burg bei der Terrormiliz. In-
zwischen fristet er seine Tage
in einer Zelle in einem Ge-
fängnis im Nordosten Syriens.
Sollte Männern wie Topçu
in den Wirren des Krieges die
Flucht gelingen, drohte ihre
unkontrollierte Rückkehr
nach Europa. Eine Gefahr,
die nach dem vermeintlichen
Sieg über den IS im Frühjahr
eigentlich gebannt schien. So
lange jedenfalls, wie die Kurden die Kon-
trolle über die Lager behielten.
Doch deutsche Sicherheitsbehörden be-
obachten bereits eine Reduzierung des
Wachpersonals in den Gefängnissen – eine
Folge der zurzeit ausgesetzten türkischen
Offensive, zu deren Abwehr die Kurden of-
fenbar jeden Mann und jede Frau mobili-
sierten.
Den Glauben, seinen Sohn je wiederzu-
sehen, hatte Cüneyt Topçu schon aufgege-
ben – bis der Vater vor einem Monat sei-
nen Sohn in einem Bericht des US-Fern-
sehsenders CBS sah. Die Journalisten film-
ten Inhaftierte in Nordsyrien, für wenige
Sekunden war Kadir in orangefarbener
Gefängniskleidung zu sehen. »I’m from
Germany«, sagte er auf Englisch.
Im Sommer 2014 war Kadir Topçu, ein
ehemaliger Kleinkrimineller, nach Syrien ge-
reist. Mit Frau und Kindern lebte er in der


IS-Hochburg Rakka. Ab und an meldete er
sich aus dem Kriegsgebiet. »Brüder sterben,
und sie lächeln«, schrieb er auf Facebook.
Topçu soll in mehreren Kampfbrigaden
gedient haben, auf Fotos posierte er
mit Kriegswaffen. Die Staatsanwaltschaft
Hamburg ermittelt gegen ihn wegen des
Verdachts der Mitgliedschaft in einer ter-
roristischen Vereinigung.
»Die deutsche Regierung hat Angst vor
Leuten wie Kadir, das kann ich verstehen«,
so sein Vater. »Aber er ist hier geboren und
groß geworden. Kadir soll hier seine Strafe
bekommen. Er und vor allem seine Kinder
sollten nach Deutschland geholt werden.«
Ein Handyfoto von Topçus drei kleinen
Kindern zeigt sie in einem verzweifelten Zu-
stand. Die Arme so dünn wie Zweige, liegen
sie auf Decken unter einer weißen Plastik-
plane und scheinen zu schlafen. Einer der
Jungen trägt nur eine schmutzige Windel,
neben ihm liegt ein drei Monate altes Baby.
Luise Meier*, 64, atmet schwer, als sie an
einem Wohnzimmertisch in Hamburg-Bill-
stedt das Foto zeigt – es sind ihre Enkel, die
gemeinsamen Kinder von Kadir Topçu und
Meiers Tochter, die sich als Jugendliche zum
IS davongeschlichen hatte. Zwei Kinder
brachte sie in Rakka zur Welt, das dritte
wurde nach der Festnahme
durch die Kurden im Internie-
rungslager al-Haul geboren.
Mehr als 70 000 Menschen
sind in der riesigen Zeltstadt
untergebracht, in einem geson-
derten Bereich leben Tausen-
de ausländische IS-Fami lien.
Dass Meier überhaupt et-
was über das Schicksal ihrer
Tochter und der Enkel erfährt,
liegt an einem Handy, das un-
ter den ausländischen IS-Frau-
en kursiere: »Ab und zu kann
meine Tochter es kurz benut-
zen. Dann fleht sie mich an:
Mama, hol uns hier raus.«
Die Situation in al-Haul wird täglich pre-
kärer, im Lager leben Hardcore-Islamistin-
nen. Eine Europäerin, die sich innerlich
längst vom IS losgesagt hat, schildert in
WhatsApp-Nachrichten ein Regiment des
Schreckens. Nun kommt eine weitere
Angst dazu: Die vor Assads Regime, unter
dessen Kontrolle das Lager womöglich ge-
langen könnte.
In Berlin führen Terrorismusexperten
aus mehreren Ministerien eine vertrau -
liche Liste. Darin sind alle in Syrien inhaf-
tierten IS-Anhänger aus Deutschland no-
tiert. Im Februar zählten die Beamten
38 Männer und Frauen mit deutschem
Pass. Inzwischen sind es 84.
Das Zögern der Bundesregierung erklärt
sich auch durch einen brisanten Hinweis
auf der Liste: Ein Drittel wird als Gefährder

* Name geändert.

eingestuft, 19 Männer und 8 Frauen. Ihnen
trauen die deutschen Behörden schwere
Gewalttaten bis hin zu Anschlägen zu.
Lange war die Bundesregierung in einer
relativ komfortablen Lage. Die Kurden
hatten die IS-Kämpfer unter Kontrolle, die
Frauen und Kinder in Lagern, die Männer
in Gefängnissen.
Die Aufseher sorgten dafür, dass west -
liche Geheimdienste Zugang zu den Inhaf-
tierten bekamen, um sie zu befragen.
Doch obwohl die Bundesrepublik in
vielen Fällen genügend Beweise zusam-
mengetragen hat, um die Anhänger der
Terrormiliz in Deutschland vor Gericht
bringen zu können, scheuten das Kanzler-
amt und die verantwortlichen Ministerien
für Inneres, Justiz und Auswärtiges eine
Rückholaktion.
Zwischenzeitlich erwog die Bundesre-
gierung, zumindest Frauen nach Deutsch-
land auszufliegen, bei denen keine Hin-
weise vorlagen, dass sie in Verbrechen
verwickelt waren. Von »Weiße-Weste-
Fällen« war intern die Rede. Doch dann
beugten sich Sicherheitsexperten über die
Dossiers und befanden: Viele von ihnen
seien immer noch tief indoktriniert.
Mehr als 50 deutsche IS-Anhängerin-
nen dürften im Fall ihrer Rückkehr zu -
mindest vorerst auf freiem Fuß bleiben.
Anders als bei vielen Männern reicht ihr
Handeln oft nicht für einen Haftbefehl.
Bei einigen wäre das Risiko wohl be-
herrschbar, sie haben dem IS desillusio-
niert den Rücken gekehrt. Andere müssten
überwacht werden, im Extremfall rund um
die Uhr.
Das Abwarten, das zeigt sich jetzt, hat
keine Lösung gebracht – und es macht es
zudem schwer für Deutschland, Druck auf
andere Staaten auszuüben, ihre Islamisten
zurückzunehmen. Der CDU-Innenpoli -
tiker Armin Schuster sagte bereits im
Februar: »Wir können nicht von anderen
Ländern erwarten, dass sie Gefährder auf-
nehmen, die wir abschieben wollen, und
uns gleichzeitig weigern, deutsche IS-Ter-
roristen aus Syrien zurückzunehmen.«
Die stellvertretende SPD-Fraktionsvor-
sitzende Eva Högl sagt: »Keiner will sie
hier haben, aber es ist als Rechtsstaat un-
sere Pflicht, deutsche Staatsbürger wieder
aufzunehmen und Straftäter einem ordent-
lichen Gerichtsverfahren hier in Deutsch-
land zu unterziehen.«
In der Praxis sei dies nur nicht so leicht
umzusetzen, erst recht nicht nach dem
Rückzug der US-Amerikaner. »Durch die
gegenwärtige Kriegssituation haben wir
zurzeit faktisch gar keine Möglichkeit zur
Rückholung«, sagt Högl.
Als möglicher Ausweg aus der verfah-
renen Lage galt zwischenzeitlich ein IS-
Tribunal im benachbarten Irak. Doch so-
wohl die Forderung Bagdads nach Millio-
nenzahlungen für jeden Fall als auch die

20 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019


Quelle: Bundesregierung

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IS-Anhänger
aus Deutschland
waren zuletzt
in Syrien und im Irak
inhaftiert.
Davon 80 Frauen
und 41 Männer.
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