8 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019
Meinung
Zumindest in Sachen Heu-
chelei präsentierte sich
Deutschland vergangene
Woche weltmeisterlich.
Und das kam so: Die deut-
schen Nationalspieler Emre
Can und İlkay Gündoğan likten
ein Foto auf Instagram, auf dem türki-
sche Nationalspieler ein Tor mit einem
militärischen Gruß feierten. Präsident
Recep Tayyip Erdoğan hatte seine Sol-
daten gerade erst in einen Krieg gegen
kurdische Milizen in Syrien geschickt.
Die beiden Kicker wurden für ihr Like
übelst beschimpft, nicht nur, aber auch
von AfD-Funktionären.
Cenk Şahin, Fußballer des FC St.
Pauli, wagte es gar, auf Instagram seine
Solidarität mit »unseren heldenhaften
Militärs« zu posten. St.-Pauli-Fans, in
Moralfragen stets in Topform, verlang-
ten daraufhin, Şahin dürfe nie mehr
das Vereinstrikot tragen. Kurz darauf
wurde er freigestellt.
Ich verachte die völkerrechtswidrige
Offensive Erdoğans gegen die Kurden
ebenfalls. An die politische Weitsicht
von Profikickern habe ich allerdings
ähnlich hohe Ansprüche wie an die
Kopfballqualitäten von Angela Merkel.
Würde man aber an deutsche Poli -
tiker dieselben politischen Maßstäbe
anlegen wie an türkischstämmige Fuß-
baller, wären alle Amtsträger längst
freigestellt. Die Regierung überweist
Erdoğan schließlich Milliarden als Tür-
steher, damit er ihnen weitere Flücht-
linge vom Hals hält. Mit dem Geld las-
sen sich Militäroffensiven noch besser
führen als mit Instagram-Likes. Hilf-
reich sind auch deutsche Waffenliefe-
rungen an Erdoğans Autokratie. Auch
als Nato-Partner bleibt die Bundes -
republik der Türkei weiter eng verbun-
den. Aber Hauptsache, es gibt ein paar
Kicker, über die man herfallen kann.
Ich werde den bösen Verdacht nicht
los, dass die Empörung auch deshalb
so groß ist, weil es sich bei Spielern wie
Kriegsherr um Muslime handelt und
nicht um Christen. Ginge es um Russen
und Wladimir Putin, gäbe es eher
keinen Skandal. Als Putin die Krim
annektierte und seine Soldaten in die
Ostukraine schickte, gab es zwar keine
Instagram-Likes von Spielern des
FC Schalke 04. Aber: Putins Regime ist
als Hauptsponsor auch so ein Freund
des Hauses. Ohne die Millionen des
Staatskonzerns Gazprom stünde Schal-
ke kaum so gut da in der Bundesliga.
An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
und Alexander Neubacherim Wechsel.
Markus FeldenkirchenDer gesunde Menschenverstand
Heucheleiweltmeister
So gesehen
Söders
Taugenichts
Das rechte Maß
Markus Söder bemüht sich gerade,
seine Partei in die Moderne zu füh-
ren. Bienen retten, Bäume umarmen,
fast hat man den Eindruck, man sei
Zeuge einer wundersamen Bekeh-
rung. Jünger, weiblicher und cooler,
die CSU, früher die Partei der Stier-
nacken, möchte nun auch dazugehö-
ren zu diesem neuen Deutschland.
Prima Idee und herzlich willkom-
men, aber wie man so hört, gärt es
schon über den Maßkrügen in Bay-
erns Bierzelten. Zum Glück hat
Söder einen stellvertretenden Minis-
terpräsidenten, und falls der Leser-
schaft der Name nicht sofort parat
ist: Er heißt Hubert Aiwanger,
gehört dem eher rechten CSU-Koali-
tionspartner Freie Wähler an und
hatte sich bislang nicht arg hervorge-
tan. Vergangene Woche aber zeigte
Aiwanger auf Schloss Grünau auf
»Deutschlands schönster Jagdmes-
se«, was in ihm steckt: »Bayern und
Deutschland wären sicherer«, rief
er, die Blaskapelle pausierte gerade,
»wenn jeder anständige Mann und
jede anständige Frau ein Messer in
der Tasche haben dürfte.« Er sprach
auch davon, dass Schwerstkriminelle
wieder eingesperrt gehören, unter-
ließ aber jeden Hinweis darauf, wie
genau das zusammenhängt. Grüne
und SPD waren empört über diesen
Aufruf zur Selbstbewaffnung, die
Rede war vom »Taschenmesserpopu-
listen«.
Alice Weidel von der AfD hat sich
bislang nicht an der aktuellen Debat-
te beteiligt. Sie hatte vergangenes
Jahr im Bundestag von »alimentier-
ten Messermännern und sonstigen
Taugenichtsen« gesprochen, die
Deutschlands Wohl gefährden wür-
den. Es gab damals ziemlichen Streit
im Parlament. Jetzt wissen wir, wen
sie gemeint hatte. Andreas Borcholte